Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs
Der vorliegende Artikel beschäftigt sich anhand der Vergewaltigungsszene von Frau Hersant durch Reinhart Fuchs (Vgl. V. 1168 -1182) [1] mit dem Thema sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs. Hierbei soll erarbeitet werden, wie zivilisierte Intimität und Begehren in brutale sexuelle Gewalt umschlagen und diese somit unterwandert werden. Auch wird beleuchtet, wie Reinhart durch die Vergewaltigung Frau Hersants über die ihm körperlich überlegenen Wölfe triumphiert, der Familie große Schande bereitet und sich somit an ihnen rächt (vgl. [Ruh 1980:22]). Hierfür wird das adelige Männlichkeitsideal der Gewaltfähigkeit näher betrachtet, auf welches Frau Hersant großen Wert legt und das von Reinhart durch seine Listen unterwandert wird.
Gewalt im Mittelalter
Um den Akt der sexuellen Gewalt im Reinhart Fuchs näher beleuchten und analysieren zu können, muss zunächst die generelle Stellung von Gewalt zur Entstehungszeit des Textes definiert werden. Akte von Gewalt waren in der Zeit Heinrichs sehr viel gesellschaftskonformer als zu der heutigen. Gewalt nimmt in der mittelalterlichen Kultur eine prägende Rolle ein und ist nicht nur Teil von Kriegen und Verbrechen, sondern dient neben der höfischen Unterhaltung (Turniere) auch dem Ehrgewinn oder -verlust: "Durch Gewalt und auch durch Gewaltdemonstrationen [...] konstituiert sich das feudale Subjekt." [Dietl 2010: 41]. Hierfür gibt es "[z]ahlreiche Regulierungen der Gewalt, die nicht dazu dienen, die Gewalt zurückzudrängen, sondern die 'kultivierte Gewalt' zu einem Baustein gesellschaftlicher Ordnung zu machen [...]" [Dietl 2010:42]. Gewalt ist also nichts Abnormales, sondern Teil mittelalterlichen Zusammenlebens.
Das adelige Männlichkeitsideal der Gewaltfähigkeit im Reinhart Fuchs und dessen Unterwanderung
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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„min herre hat so schonen lip, | „Mein Gemahl ist so stattlich, |
daz ich wol frvndes schal enpern. | dass ich auf einen Liebhaber verzichten kann. |
Wold aber ich deheins gern, | Begehrte ich dennoch einen, |
so werest dv mir doch zv swach.“ [2] | so wärst du mir jedoch zu schwach.“ |
Wie bereits dargelegt, stellte Gewalt im Mittelalter ein wichtiges Mittel für den Gewinn der eigenen Ehre dar und war gesellschaftskonformer als in der heutigen Zeit. Auch war die am Körper sichtbare Gewaltfähigkeit ein adeliges Männlichkeitsideal (vgl. [Mecklenburg 2017:94]). Dass dieses Ideal für die Wölfin Frau Hersant für ihre Partnerwahl von besonders großer Bedeutung ist, zeigt sich schon in der ersten Werbung Reinharts um die Wölfin. So lehnt diese Reinharts Werben nicht ab, weil sie durch Ehebruch den Verlust ihres gesellschaftlichen Ansehens fürchtet oder sie generell dem Ehebruch ablehnend gegenübersteht, sondern weil er ihr „zv swach“ ist (Vgl. V. 433). Die Wahl ihres Partners macht sie also von der körperlich sichtbaren Gewaltfähigkeit eines Mannes abhängig. Im Folgenden bietet sich für Reinhart allerdings die Gelegenheit zu beweisen, dass es allein auf Stärke nicht ankommt, als der Wolf Isengrin ohne Beute von der Jagd zurückkehrt. Durch eine List erbeutet er einen ganzen Schinken, indem er körperliche Schwäche vortäuscht. Damit unterwandert er das Männlichkeitsideal der sichtbaren Gewaltfähigkeit und triumphiert über den ihm körperlich überlegenen Wolf Isengrin. Im weiteren Verlauf der Erzählung bricht die Wolfsfamilie das gerade erst geschlossene triuwe-Verhältnis, indem diese den von Reinhart erbeuteten Schinken auffrisst, ohne Reinhart etwas übrig zu lassen. Interessant hierbei ist die Reaktion Frau Hersants, als Reinhart diese nach seinem Anteil am Schinken frägt. Sie gesteht ihm zwar, dass auch sie ihm nichts mehr übrig gelassen habe, tut dies aber unterwürfig und den Machtverhältnissen in Geschlechterbeziehungen entsprechend (vgl. [Mecklenburg 2017:95]). Dies steht im Gegensatz zu der barschen Absage der Wölfin auf Reinharts Werben zu Beginn und zeigt eine Änderung in ihrer Haltung zu diesem. Im Allgemeinen lässt sich diese Beobachtung auch auf andere Szenen übertragen. Obwohl Reinhart dem Wolf kräftemäßig unterlegen ist, fügt er ihm durch Listen immer wieder Gewalt zu, ohne selbst körperliche Gewalt auszuüben (vgl. [Mecklenburg 2017:95]). Das Männlichkeitsideal der sichtbaren Gewaltfähigkeit ist auch bei der Betrachtung der Vergewaltigung Frau Hersants von Bedeutung. Zum einen, da er auch hier die anatomische und körperliche Überlegenheit der Wölfin mit Hilfe einer List unterwandert und ihre Äußerung, er sei zu „swach“ für sie, widerlegt. Zum anderen aufgrund der allgemeinen Stellung von Gewalt jeglicher Form im Mittelalter. Hierbei ist es wichtig, zu beachten, dass er Frau Hersant nicht nur aus Begehren und Triebhaftigkeit vergewaltigt, sondern auch, um seine Überlegenheit zu demonstrieren und so Rache an den Wölfen zu nehmen. So ist Reinharts spezifische Form der Rache nicht willkürlich gewählt. Ihm ist durchaus bewusst, dass die Vergewaltigung Frau Hersants sowohl den Verlust der Ehre Isengrins als auch Frau Hersants zur Folge hat. Mithilfe der Vergewaltigung kann er sich so an der ganzen Familie für den Bruch des triuwe-Verhältnisses rächen und gleichzeitig sein sexuelles Begehren befriedigen.
Auch zeigt sich, dass Reinharts Gewalt an Frau Hersant nicht unkontrollierter Art ist. So hat dieser explizit den Akt der Vergewaltigung gewählt, um beanspruchen zu können, dass Frau Hersant rechtmäßig jetzt bei ihm bleiben müsse (Vgl. V. 1236-1237).
Veränderung der Werbung Reinharts um Frau Hersant: Von Minnesang zu Sexueller Gewalt
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart sprach zv der vrowen: | Reinhart sagte zu der Herrin: |
„gevatere, mochtet ir beschowen grozen | „Gevatterin, könntet ihr den großen Schmerz, den |
kvmmer, den ich trage: | ich erleide, erkennen: |
von eweren minnen, daz ist min clage, | Die Leidenschaft zu Euch, das ist mein Leid, |
bin ich harte sere wunt.“ [3] | von der ich stark verwundet bin.“ |
Nachdem Isengrin Reinhart durch das Eingehen eines triuwe-Verhältnisses faktisch zum Familienmitglied gemacht hat, kann er Reinhart seine Frau zum Schutz überlassen, da nun eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen den beiden besteht. Schon hier beginnt Reinharts Werben um Frau Hersant. Hierbei umwirbt dieser seine Auserwählte mittels minne-diskursivem Vokabular (vgl. Der Minne-Diskurs (Reinhart Fuchs)) und zeigt sich dabei unterwürfig und respektvoll. Reinhart weist der Wölfin freiwillig die Macht zu, sein nur mündlich artikuliertes Begehren anzunehmen oder abzulehnen. Auch sieht er gemäß dem Minnesang davon ab, im Falle einer Ablehnung seines sexuellen Begehrens dieses gewaltsam durchzusetzen oder sich deshalb emotional von Frau Hersant zu distanzieren (vgl. [Mecklenburg 2017:94]). Reinhart gibt also seine männliche Macht ab. Wie bereits dargelegt, lehnt Frau Hersant dieses Werben Reinharts ab, da er nicht ihrem Männlichkeitsideal entspricht, womit diese das Werben nicht, wie im Minnesang üblich, aus Angst um den Verlust ihres gesellschaftlichen Ansehens ablehnt (vgl. [Mecklenburg 2017:95]). Dabei zeigt sich aber auch, dass sie dem Ehebruch prinzipiell nicht ablehnend gegenübersteht und zu diesem bereit wäre, wenn Isengrin nicht mehr ihrem Idealbild der sichtbaren Gewaltfähigkeit entspräche. Im Folgenden kann Reinhart jedoch beweisen, dass es auf Stärke allein nicht ankommt, was eine Änderung von Frau Hersants Einstellung zu Reinhart hervorruft. Dennoch brechen die Wölfe daraufhin das geschlossene triuwe-Verhältnis, woraufhin sich Reinhart in einer Reihe von Listen, in denen er selbst nie körperliche Gewalt anwendet, an Isengrin und seiner Familie rächt. Diese "Wolfsmisere" gipfelt dann in der einzigen List, in welcher Reinhart selbst direkte, körperliche Gewalt ausübt: der Vergewaltigung Frau Hersants [Ruh 1980:19].
Andeutungen einer ehebrecherischen Beziehung zwischen Reinhart und Frau Hersant
Im Reinhart Fuchs finden sich einige Textstellen, die Hinweise auf eine ehebrecherische Beziehung zwischen Reinhart und Frau Hersant geben: Der erste Hinweise darauf findet sich, nachdem Isengrin durch eine List Reinharts sein Genital verloren hat und nun lebensbedrohlich verletzt ist. Isengrin, dem Tode nah, beklagt sein Leid und sorgt sich um seine Ehefrau, tröstet sich allerdings damit, dass diese nach seinem Ableben nie wieder einen Anderen zum Mann nehmen würde. Hier zeigt sich besonders, dass Isengrin an die höfisch-katholischen Werte einer Ehe glaubt. Der Eichelhäher Kuonin, der Isengrins Klage gehört hat, berichtet dem Wolf daraufhin schonungslos von der ehebrecherischen Beziehung zwischen Reinhart und seiner Frau (Vgl. V. 565-591) (vgl. [Ruh 1980:20]). Als Isengrin seine Frau später mit diesen Vorwürfen konfrontiert, beteuert diese vehement ihre Unschuld und versichert, Reinhart schon seit drei Tagen überhaupt nicht mehr gesehen zu haben (Vgl. V. 628-631). Der Rezipient erfährt im Verlauf der Erzählung allerdings nicht, ob Kuonin oder die Wölfin die Wahrheit gesagt hat. Und auch kurz vor der Vergewaltigungsszene, während der Flucht Reinharts vom Gerichtstag, finden sich widersprüchliche Hinweise hinsichtlich einer möglichen ehebrecherischen Beziehung zwischen Fuchs und Wölfin. So ist in dieser Textstelle davon die Rede, dass Frau Hersant ihren „Liebhaber“ (Vgl. V.1158) totbeißen möchte, um ihre Unschuld vor ihrem Mann zu beweisen. Wäre Reinhart ihr Liebhaber, wäre Frau Hersant nicht unschuldig. Wäre umgekehrt Frau Hersant wirklich unschuldig, so könnte Reinhart auch nicht als ihr Liebhaber bezeichnet werden. Auch die Verfolgung Frau Hersants an sich lässt den Schluss zu, dass sie sich durch ihn zumindest sexuell angezogen fühlt, da diese angelockt hinter ihm herspringt. Dennoch lassen beide dieser Textstellen keinen sicheren Schluss darüber zu, ob zwischen Frau Hersant und Reinhart tatsächlich eine ehebrecherische Beziehung besteht.
Die Vergewaltigung Frau Hersants durch Reinhart Fuchs
Die Schilderung sexueller Gewalt im Reinhart Fuchs
Die Schilderungen sexueller Gewalt stechen im Reinhart Fuchs aus der übrigen Erzählung heraus, da die Vergewaltigungsszene „explizit und ohne jede negative Kommentierung seitens der Erzählstimme präsentiert wird“[Mecklenburg 2017:96]. So steht diese Szene für sich und muss vom Rezipienten eingeordnet und interpretiert werden. Der mittelhochdeutsche Begriff „gebrvten“ kann so sowohl mit „vergewaltigen“ als auch mit „begatten“ [4] übersetzt werden. Im Kontext der Erzählung wird allerdings deutlich, dass der Geschlechtsakt keinesfalls einvernehmlich ist und es sich bei diesem um einseitiges, brutales sexuelles Begehren handelt. Des Weiteren fällt auf, dass die Schilderung sexueller Gewalt derart „plakativ-verhöhnend“ ist, sodass „sie scheinbar nur durch den Einsatz tierlicher Figuren erträglich wird“ [Mecklenburg 2017:96].
Einordnung der Textstelle
Die Vergewaltigung Frau Hersants durch Reinhart ereignet sich, nachdem dieser mit dem Wolf Isengrin ein triuwe-Verhältnis eingegangen ist. Reinhart hat bei seinem Allianzvorschlag ein reines Militärbündnis im Sinn. Isengrin geht allerdings weit über Reinharts Anfrage hinaus und nimmt ihn in seine Familie auf, indem er diesem zum „gevateren“ macht. Michael Mecklenburg verweist in diesem Kontext darauf, dass die Aufnahme einer Nähebeziehung Reinharts zu Frau Hersants de facto von Isengrin selbst ausgeht (vgl. [Mecklenburg 2017:93]). Nach Abschluss des Bündnisses bricht Isengrin zur Jagd auf. Reinhart umgarnt daraufhin, in Abwesenheit ihres Mannes, Frau Hersant mit Hilfe von minne-diskursivem Vokabular. Diese lehnt Reinharts Werbung allerdings ab, da er ihr zu schwach sei. Als Isengrin von der Jagd mit leeren Händen zurückkehrt, ergibt sich für Reinhart die Möglichkeit, seine Qualitäten zu beweisen und erbeutet für die Wolfsfamilie einen Schinken. Diese bricht hierbei das triuwe-Verhältnis, indem sie Reinhart um seinen Anteil des Schinkens betrügt. Die folgende Rache Reinharts wird nun ein zentrales Element der Handlung, durch welche Isengrin den Verlust seines Genitals (Vgl. V. 552-564), seines Haupthaars (Vgl. V. 640-711) und seines Schwanzes (Vgl. V. 712-822) erleidet. Auch muss Isengrin durch Kuonin von Gerüchten erfahren, dass seine Frau den Minne-Werbungen Reinharts nachgegangen sei. Durch eine weitere List Reinharts kommt Isengrin in der Brunnenszene nur knapp mit dem Leben davon (Vgl. V. 858–958). Körperlich völlig lädiert und seiner Männlichkeit beraubt, beschließt er, ein Gerichtsverfahren gegen Reinhart einzuleiten. Durch den Luchs wird daraufhin ein Gericht einberufen, von dem Reinhart allerdings flieht. Darüber erzürnt, eilen Isengrin und Frau Hersant Reinhart hinterher.
Textstelle der Vergewaltigungsszene
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart was leckerheit wol kvnt: | Reinhart kannte sich in Lüsternheit gut aus. |
siner amien warf er dvrch den mvnt | Er wedelte seiner Freundin mit dem Schwanz |
sinen zagel dvrch kvndikeit. | listig durch das Maul. |
Zv siner bvrc er do reit, | So galoppierte er zu seiner Burg, |
das was ein schonez dachsloch, | ein schöner Dachsbau, |
dar flvhet sin geslechte noch. | in welchen sein Geschlecht noch heute flieht. |
Da ernerte Reinhart den lip sin. | Dort war er sicher. |
ver Hersant lief nach im drin | Frau Hersant lief hinter ihm her, |
mit alle wan vber den bvc. | jedoch nur bis zum Vorderteil. |
do gewan si schire schande genuc: | Da erwartete sie sofort großes Verderben: |
sine mochte hin noch her, | Weil sie weder vor noch zurück konnte, |
Reinhart nam des gvten war, | ergriff Reinhart die Gunst, |
zv eime andern loche er vz spranc, | sprang aus einem anderen Loch heraus |
vf sine gevateren tet er einen wanc. | und machte einen Sprung auf seine Gevatterin. |
Isengrine ein herzen leit geschach: | Isengrin wurde von Schmerz erfüllt, |
er gebrvtete si, daz erz an sach. | denn jener vergewaltigte sie, so dass er es mitansehen musste. |
Reinhart sprach: ,vil libe vrvndin, | Reinhart sagte: «Liebste Freundin, |
ir schvlt talent mit mir sin | Ihr solltet heute bei mir sein. |
izn weiz niman, ob got wil, | Es weiß niemand, so Gott will, |
dvrch ewer ere ich iz gerne verhil.' | um eurer Ehre willen würde ich es verheimlichen.» |
vern Hersante schande was niht cleine, | Frau Hersants Schande war riesig, |
si beiz vor zorne in die steine, | sie biss vor Zorn in die Steine, |
ir kraft konnte ir nicht gefrvmen [5] | ihre Stärke nützte ihr jetzt allerdings nicht |
Interpretation der Textstelle
Die Szene der Vergewaltigung Frau Hersants beginnt damit, dass diese Reinhart erzürnt verfolgt, als dieser versucht, vom Gerichtstag zu fliehen. Der Fuchs reagiert darauf, wie üblich, mit einer List, indem er ihr mit dem Schwanz vor dem Maul herumwedelt. Die Wölfin geht auf diese Verführung ein und springt Reinhart angelockt hinterher, wodurch eine gewisse sexuelle Anziehung zwischen den beiden deutlich wird. Reinhart allerdings überschreitet im Folgenden diese kontrollierte Intimität, indem er Frau Hersant in eine Falle lockt. So springt dieser geschickt in den Eingang eines Dachsbaus, durch welchen er aufgrund seiner schmächtigen Größe problemlos hindurch passt. Frau Hersant, im Eifer ihre körperliche Größe vergessend, springt dem Fuchs hinterher und bleibt im Eingang des Fuchsbaus stecken, sodass der Hinterteil ihres Körpers noch aus dem Bau ragt. Reinhart nutzt diese Gelegenheit, schlüpft durch ein Loch und vergewaltigt die wehrlose Frau Hersant, vor den Augen ihres Ehemannes, der so den erzwungenen Ehebruch mitansehen muss. Was als kontrollierte Intimität und harmloses Werben begann, schlägt nun in brutale sexuelle Gewalt um, wodurch diese Intimität vollkommen unterwandert wird. Der zuvor abgelehnte und körperlich unterlegene Reinhart ermächtigt sich somit selbst und beweist erneut, dass es allein auf körperliche Überlegenheit nicht ankommt. Hiermit rächt er sich für die Ablehnung, die Frau Hersant ihm auf seine noch kontrollierte Werbung entgegengebracht hatte. Nicht das Männlichkeitsideal der körperlich sichtbaren Gewaltfähigkeit wird hier für die machtbezogene Positionierung als entscheidend dargestellt. Vielmehr wird ein für den Rezipienten problematisches Identifikationspotenzial hergestellt, da nicht nur sexuelle Gewalt durch überlegene «Körperkraft legitimiert wird, sondern auch die Ausübung sexualisierter Gewalt, die sich zur Kompensation von Körperkraft-Defiziten anderer Mittel bedienen darf» [Mecklenburg 2017:96]. Dies bedeutet also, dass sich Frauen nicht einmal vor ihnen körperlich unterlegenen Männern schützen können: Selbst der starken Wölfin kann in dieser Situation ihre Kraft und körperliche Überlegenheit nicht helfen, weshalb sie ihre «schande» nicht verhindern kann (Vgl. V. 1181). Mecklenburg weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass «das Perfide an dieser Argumentation ist, dass sich damit die Klage von Hersant um den verlorenen Schwanz ihres Mannes gegen sie selbst kehrt» [Mecklenburg 2017:96]. Im weiteren Verlauf der Szene werden weitere Absichten von Reinharts Handeln sichtbar. So verkündet er Frau Hersant nun, dass sie, durch den vollzogenen Geschlechtsakt, rechtmäßig bei ihm bleiben müsse. Da sein Werben um Frau Hersant erfolglos geblieben war, erzwingt er sein Begehren mit Gewalt. Durch diese Gewalt wird die frühere, kontrollierte Intimität völlig zersetzt. Nach der Vergewaltigung ist Frau Hersant beschämt und wütend. Das Schreckliche an dieser Situation ist, dass auch ihr ihre körperliche Überlegenheit nicht helfen konnte. So unterwandert Reinhart auf brutale Weise das Männlichkeitsideal der sichtbaren Gewaltfähigkeit, auf welches Frau Hersant so großen Wert gelegt hatte, und verdeutlicht ihr am eigenen Leib, dass es auf Stärke allein eben doch nicht ankommt. Dies kann auch als deutliche Warnung einer zerfallenden Ordnung angesehen werden (vgl. [Mecklenburg 2017:96]). Mit der Vergewaltigung Frau Hersants hat Reinhart, wie oben bereits dargelegt, nicht nur den Ehrverlust der Wölfin erreicht, sondern den der gesamten Wolfsfamilie. Die Vergewaltigung stellt so den endgültigen Triumph Reinharts über die Wölfe dar.
Sexuelle Gewalt an Isengrin
Nicht nur Frau Hersant erfährt im Reinhart Fuchs sexuelle Gewalt. Auch Isengrin widerfährt durch eine List Reinharts eine Form von sexueller Gewalt. Zwar orientiert sich diese nicht an der Befriedigung sexueller Bedürfnisse, dennoch hat die grausame Tat Reinharts den Verlust der Ehre und Männlichkeit Isengrins zur Folge. So verliert Isengrin durch eine Reihe von körperlichen Verletzungen, die von Reinhart herbeigeführt worden sind, nicht nur seinen «zagel» und sein Haupthaar, sondern beim Schwur auf das Wolfseisen (Vgl. V. 552-564) auch sein Genital. Zwar wird in der Erzählung meist nur vom «zagel», also dem Schwanz des Fuchses gesprochen, allerdings kann in einer semantischen Doppeldeutigkeit immer auch das männliche Genital gemeint sein. Obwohl Isengrin diese Verstümmelungen schließlich das Leben retten, als der Prior Isengrins Verletzungen als Tonsur und Beschneidung interpretiert, darf bei dieser auf Komik abzielenden Erzählung nicht die grausame Bedeutung von Isengrins Beschneidung vergessen werden.
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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«o we, ich en mag ez niht ane sin! | «O weh, ich kann nicht ohne ihn auskommen! |
Mir ist leit, daz der man min | Ich bin bekümmert, dass mein Mann |
Ane zagel mvz wesen. | keinen Schwanz mehr hat, |
wi sol ich arme des genesen?» [6] | wie soll ich Ärmste damit zurechtkommen?» |
Die Tragweite dieses Verlusts zeigt sich besonders in der Szene, in welcher Isengrin den Verlust seines Schwanzes vor seiner Ehefrau und seinen Söhnen beklagt (Vgl. V. 1035-1060). So tritt dieser voller Verzweiflung vor seine Familie und klagt ihnen sein Leid. Anstatt sich allerdings besorgt um ihren Ehemann zu zeigen, beklagt Frau Hersant sogleich ihr eigenes Leid. Sie beginnt zu weinen und betrauert den Verlust des Schwanzes ihres Mannes, ohne den sie nicht auskommen könne. Frau Hersant zeigt sich hier animalisch-primitiv und orientiert sich nur an ihren eigenen sexuellen Bedürfnissen. Isengrin muss durch die ihm zugefügte sexuelle Gewalt nicht nur schmerzhafte Verletzungen erleiden, sondern auch den Verlust seiner Männlichkeit, seiner Zeugungsfähigkeit und in gewisser Weise auch der Zuneigung und des Respekts seiner eigenen Frau.
Mecklenburg weist diesbezüglich darauf hin, dass auch dieser Szene eine gewisse Komik zugrunde liegt, die sich aus Animalität und Anthropomorphisierung ergibt. Eine Wölfin würde so nie den Verlust dieser Körperteile beklagen, da es allenfalls nicht mehr zu einer erneuten Paarung kommen würde. Eine adelige Dame würde den Verlust des «zagel» ihres Mannes nicht beklagen, da in diesem Fall die semantische Doppeldeutigkeit von «zagel» wegfallen würde (vgl. [Mecklenburg 2017:77f]).
Fazit
Sexuelle Gewalt nimmt im Reinhart Fuchs eine wichtige Rolle ein. So wird durch diese kontrollierte, stilisierte Intimität unterwandert, indem sie mit der Vergewaltigung Frau Hersants in gewaltsames Begehren umschlägt. Auch wird durch sexuelle Gewalt das mittelalterliche Männlichkeitsideal der sichtbaren Gewaltfähigkeit zersetzt, wodurch ein problematisches Identifikationspotenzial hergestellt wird, da nicht nur sexuelle Gewalt durch überlegene «Körperkraft legitimiert wird, sondern auch die Ausübung sexualisierter Gewalt, die sich zur Kompensation von Körperkraft-Defiziten anderer Mittel bedienen darf» [Mecklenburg 2017:96]. Des Weiteren wird sexuelle Gewalt von Reinhart als Mittel verwendet, endgültig über Frau Hersant und Isengrin zu triumphieren und sich für den Bruch des triuwe-Verhältnisses an ihnen zu rächen.
Quellen
- ↑ Alle Versangaben beziehen sich auf folgende Ausgabe: Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch, hg. v. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995.
- ↑ Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch, hg. v. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995, V. 430-433.
- ↑ Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch, hg. v. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995, V. 423-427.
- ↑ Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch, hg. v. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995, V. 1176.
- ↑ Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch, hg. v. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995, V. 1161-1183.
- ↑ Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsch, hg. v. Karl-Heinz Götter, Stuttgart 1995, V. 1057-1060.
Literatur
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Von den Anfängen bis zu Hartmann von Aue, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S.13-33.
- [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
- [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S. 73-98.