Täter und Opfer (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 9. Januar 2021, 17:06 Uhr

Der folgende Artikel stellt dar, inwieweit nicht nur die Hauptfigur des von Heinrich dem Glîchezâren verfassten Tierepos Reinhart Fuchs in eine ambivalente Täter- und Opferrolle einzuordnen ist (vgl. hierzu erste Täter-Opfer-Analysen in Reinharts Figurencharakteristik). Vielmehr wird auch der Fokus auf die anderen nennenswerten Figuren des Werkes gerichtet und interpretiert, warum auch sie ambivalente Rollen besitzen können. [1] Zu Beginn folgt eine kurze Einordnung in die Problematik der Täter- und Opferzuteilung anhand der Brunnen-Szene (RF, V. 831-848) aus Reinhart Fuchs (kurz RF). Anschließend werden die nennenswerten Figuren des Werkes und ihre mögliche/n Rolle/n erörtert. Abschließend werden zentrale Ergebnisse zur Rolleneinordnung und ihre mögliche Ambivalenz zusammengefasst.

Hinführung zur Problematik der Täter- und Opferzuweisung

Um zu verstehen, warum die Rollenzuweisung in Täter oder Opfer durchaus schwierig sein kann, gilt es zunächst einmal die Szene aus RF zu betrachten, in welcher Reinhart in den Klosterbrunnen stürzt.

Kontext der Handlung
Reinhart, ein Fuchs, der mit Hinterhältigkeit und etlichen Intrigen zahlreiche Tiere eines Königreiches in Bedrängnis bringt, scheitert bislang mehrfach, sowohl den Wolf Isengrin als ebenbürtigen Kontrahenten, als auch andere Tiere erfolgreich zu hintergehen. Bislang scheint es nicht sein Tag zu sein (doch ist hevte niht sin tac, RF V. 218). Allerdings gelingt ihm im weiteren Verlaufe der Handlung, König Vrevel zu manipulieren und seine Ankläger Schritt für Schritt mundtot zu machen, zuletzt auch den König selbst. Im Gesamtzusammenhang befinden wir uns noch in der zunächst sehr erfolglosen Phase seiner Intrigen (vgl. Reinhart der Verlierer).

Vorausgegangene Handlung der Szene
Der Wolf Isengrin und Reinhart waren zuvor gemeinsam auf der Jagd nach frischen Aalen auf einem gefrorenen See. Auch hier beginnt Reinhart bereits seine nächste List umzusetzen. Reinhart lässt Isengrin den schweren Eimer voller Beute tragen und beabsichtigt, dass er (der Wolf) mit seinem Schwanz allmählich an dem Eis festfriert. Reinhart macht sich aus dem Staub und lässt ihn mit dem schweren Eimer allein. Isengrin ist durch seinen festgefrorenen Schwanz dem nahenden Jäger und seinen Hunden schutzlos ausgeliefert. Der Jäger scheitert allerdings mit seinem Versuch, den Wolf zu fassen und trifft den Wolf lediglich mit seinem Schwert am Schwanz. Glücklicherweise gelingt es dadurch Isengrin, wenn auch nun ohne Schwanz, sich zu befreien und zu flüchten. Reinhart dagegen sucht sich bereits einen neuen Ort, um durch List an Nahrung zu gelangen und nähert sich einem Kloster.

Ausschnitt aus RF (V. 831-848): Reinharts tiefer Fall in den Klosterbrunnen

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Reinhart begunde umbe gan. Reinhart ging umher.
vor dem tor sach er stan Er stand vor dem Tor und sah
einen sot dief unde wit, einen Brunnen tief und breit,
da sach er in, daz gerovwlin sit: daraufhin blickte er hinein, was er später bereuen sollte:
sinen scatin er drinne gesach. er sah darin seinen Schatten.
ein michel wunder nv gesach, Es geschah nun ein großes Wunder,
daz der ergovchete hie, so dass er jetzt zum Toren wurde,
der mit listen wunders vil begie. der sonst mit Listen viele Ungeheuerlichkeiten beging.
Reinhart wande sehin sin wib, Reinhart meinte seine Geliebte zu sehen,
div was ime lieb alsam der lib, welche er ebenso liebt wie er sich liebte,
wan daz er sih doh niht wolte unthaben, jedoch wollte er sich nicht abhalten lassen,
ern mvoste frivndinne haben, trotzdem mehrere Geliebte zu haben,
wande minne git hohen muot; weil Minne ihn zu Hochmut führt;
davon duhte si in guot. dadurch sie ihm kostbar erschien.
Reinhart lachete darin, Reinhart lachte hinunter,
do zannete der scate sin. da bewegte sich sein Schatten
des wister ime michelin danch: deshalb bedankte er sich sehr:
vor liebe er in den sot spranch. vor Liebe sprang er in den Brunnen.


Nachfolgende Handlung der Szene
Reinhart kann sich im Brunnen gerade noch retten und kommt dem Tod davon. Als sich dann auch Isengrin dem Kloster und dem Brunnen nähert, nutzt Reinhart die nächste Chance für einen Hinterhalt. Als der Wolf daraufhin einen Schatten im Brunnen erkennt, täuscht Reinhart ihm vor, dass unten im Brunnen sich die Seele des vermeidlich toten Reinharts befände. Der Fuchs beabsichtigt, wieder aus seiner Not zu entkommen und den Brunnen zu verlassen, weshalb er alles daran setzt, Isengrin zu manipulieren und ihn letztlich durch einen Trick in einen Eimer zu bringen. Als der geblendete Isengrin hinabsteigt, gelingt es Reinhart gleichzeitig, mit dem anderen Eimer empor zu steigen und lässt den Wolf erneut seinem Schicksal überlassen.

Zwischenfazit aus der Brunnen-Szene
Es kann nicht ausschließlich davon ausgegangen werden, dass Reinhart stets konzentriert bei der Sache ist. Auch Reinhart zeigt Schwächen, indem er sich von der Einbildung seiner Geliebten verwirren lässt. Denn, so begründet es beispielsweise Ruh, auch ein listiger Fuchs [könne] Erkenntnistrübungen [haben] und Minne [sei] es, die sie [bewirke] [Ruh 1980: 21]. Es wird so auch eine Ambivalenz des Fuchses deutlich, ob er wirklich klar als Täter berzeichnet werden kann oder ebenfalls als Opfer seiner Gelüste und Triebe.
(...)

Begrifflichkeit Täter und Opfer

Bevor die zentralen Figuren des RF in Täter und/oder Opfer eingeordnet werden können, werden die jeweiligen Rollen und ihre wortwörtliche wie semantische Bedeutung näher definiert. Hier wird schon deutlich, dass selbst die Begrifflichkeiten ambivalenter nicht sein können.

Definition des Täters

Der Duden definiert rein sprachgeschichtlich und syntaktisch den Täter als maskulines Substantiv, welches sich ursprünglich aus dem mittelhochdeutschen -tæter bzw. dem althochdeutschen tāt und tuon herleite. Ein Täter sei jemand, welcher eine Tat begangen habe. Es werden auch juristische Analogien zu Straftaten hergestellt. [2] [3]
Das Wort kann allerdings auch literaturwissenschaftlich betrachtet werden. Zunächst einmal sei jemand laut Definition von Düwell et al. ein Täter, welcher niedere Beweggründe habe, eine Tat zu begehen. Beispiele können hierfür Hass, Neid, Gier, Eifersucht, Rachegedanken, Gewinnstreben oder Missgunst sein. Mögliche Mittel des dort definierten Täters können bloße Hände, Waffen, Gift, Gas oder Alltagsgegenstände sein. Besonders im Kontext der moderneren Kriminalliteratur könne der Täter sehr ambivalente Rollen einnehmen: Einerseits könne sich solch ein Täter in Detektivromanen unauffällig verhalten, der anfangs als Verdächtiger angesehen und erst später als Täter entlarvt werden könne. Andererseits werde ein Täter in Thrillern auch ganz bewusst als skrupelloser Gegenspieler bzw. Antagonist mit der Besonderheit, dass seine Beweggründe transparent und so für den Rezipienten durchaus nachvollziehbar erscheinen, dargestellt und definiert. [Düwell et al. 2018: 254 f.].

Definition des Opfers

Der Duden definiert rein sprachgeschichtlich und syntaktisch das Opfer als neutrales Substantiv, welches vom mittelhochdeutschen opfer bzw. dem althochdeutschen opfar abstamme. Komplexer wird es hier jedoch, wenn es um die klare semantische Bedeutung geht. Je nach Kontext kann das Substantiv anders definiert werden. Als Opfer werden hier im religiösen Kontext bestimmte Gaben wie z.B. ein Tier für eine höhere göttliche Instanz bezeichnet. Außerdem kann es als immaterielle Hingabe verstanden werden, welche eine Person zugunsten einer anderen Person aufbringe. Ein aktueller und sehr negativ konnotierter jugendlicher Ausdruck wird es, wenn jemand dadurch als Schwächling oder Verlierer beleidigt werde. Die gängigere Version eines Opfers ist die einer Person, welche aufgrund der Handlung eines anderen oder eines unglücklichen Umstandes zu Schaden komme. [4]
Düwell et al. finden im Zuge der Kriminalliteratur ebenfalls eine differenziertere Definition des Opfers, die Ähnlichkeiten zu den obigen Duden-Definitionen aufweisen. Aufgegriffen werden hier zusätzlich die lateinischen Herleitungen sacrificium und victima, weil diese eine andere semantische Bedeutung pflegen. Im Deutschen hingegen werden beide Begriffe als Opfer übersetzt, was eine semantische Ambiguität erzeuge. Der erste Begriff bezieht sich dabei vielmehr auf den bereits erwähnten religiös-kulturellen Kontext, in welchem das Opfertum literarisch ebenfalls seine Erwähnung finde. Doch die neuzeitliche Loslösung des Opfer-Begriffes von seiner religiösen Bedeutung hin zum dominanten juristisch-kriminologischen Begriff victima sei von primärer Bedeutung. Hier wird als Opfer bezeichnet, wer durch eine Straftat oder eines Ereignisses, das unmittelbar oder mittelbar physisch und/oder psychisch wie auch gegebenenfalls materiell geschädigt werde [Düwell et al. 2018: 237].

Auch wenn es sich beim RF nicht um einen modernen Kriminalroman oder eine ähnliche Romangattung handelt, können diese Definitionen helfen, eine gewisse Differenzierung des Täter- und Opferbildes zu unterstützen und unscheinbare Handlungen der Figuren differenzierter zu analysieren. Beide Definitionen sollen moderne und historische Erklärungsansätze für die Unterschiedlichkeit der Wortbedeutungen liefern. Deshalb berufen sich alle möglichen ambivalenten Einordnungen auf die ausgeführten Erklärungen der Begriffe.

Einordnung der Figuren in Täter und/oder Opfer


(Dazugehörige Zitate werden noch eingefügt.) Im Folgenden werden nicht alle Figuren des RF einzeln und ausführlich aufgeführt. Dennoch finden sie im Folgenden ihre Erwähnung, weil sie beispielsweise in der Einordnung Reinharts oder des Löwenkönigs Vrevel als mögliches Opfer eine zentrale Rolle der Einordnung einnehmen. Die vier zentralen Figuren des Tierepos RF weisen Ambivalenzen auf, die ausführlicher zu vertiefen sind. Dopplungen bei den Einordnungen von gewissen Handlungen sind nötig, um diese auch noch einmal differenzierter mehreren Personen zuzuordnen und mögliche Gründe für die Täter- und Opferzuteilung zu erläutern.

Der Fuchs Reinhart

Reinhart als Täter

Reinhart hat zwei zentrale Motive, welche seine Handlungen und Taten vorantreiben: Zum Einen zusammengefasst das Motiv des Hungers und der Gier nach Beute (instinktive, naturbedingte Motive), zum Anderen jedoch auch das Bedürfnis nach Rache und Vergeltung (rein boshafte Motive), welches gerade im weiteren Verlauf der Handlung ein zentrales Tatmotiv ist.
Es beginnt zunächst mit den gescheiterten, aber dennoch vorsätzlich begangenen Versuch, den Hahn Scantecler zu töten. Reinhart kennt die Lücken des vermeidlich sicheren Gartenzauns des Menschen Lanzelin (V. 40-172, RF) und weiß auch den sich in Sicherheit wiegenden Hahn zu hintergehen. Er gibt sich als treuen Verwandten aus und lockte den Hahn bewusst zu ihm, was jedoch letztlich scheitert. Einen weiteren Versuch startet Reinhart auch bei einer Meise, bei welcher er sich ebenfalls als vermeidlichen Gefährten und Gleichgesinnten ausgibt und nach einem Kuss von seinem Kusinchen (V. 178, RF) verlangt. Er bezweckt damit, dass sich die Meise ihm nähert und er so zubeißen kann. Eine ähnliche List schlägt jedoch auch beim Raben fehl, welchen er zunächst dazu motiviert, seinen erbeuteten Käse fallen zu lassen. Allerdings hat Reinhart nicht genug und möchte sich ebenfalls den Raben schnappen, indem er ihn mit List in seine Nähe locken möchte. Doch auch dieser Versuch scheitert letztlich [Dimpel 2013: 403-408].
Ab der Begegnung mit dem Kater Diepreht ändern sich allerdings die Beweggründe seiner Taten. Beim Kater scheinen die Gründe nicht der Hunger, sondern reine Boshaftigkeit und Listheit zu sein, weil er lediglich den Kater herausfordern und bei einem Wettrennen mutwillig in eine gefährliche Falle treiben will [Dimpel 2013: 408 ff.]. Beim Wolf Isengrin ist mehr das Motiv der Rache und Vergeltung der Fall. Zunächst schließen sie sich zusammen, jedoch ist ihr Verhältnis durch Brüche ihrer Gevatterschaft geprägt. Als der Wolf den von Reinhart durch List ergaunerten Schinken nicht mit ihm teilt, schwört er Rache und rächt sich mit zahlreichen Intrigen an ihm. Reinhart verpasst ihm mit kochend heißem Wasser eine Tonsur, lässt Isengrins Schwanz absichtlich auf dem See festfrieren, um ihn in Lebensgefahr zu bringen. Zudem lockt er den Wolf in einen Brunnen, um selbst wieder herauszukommen (vgl. obiges Kapitel der Brunnen-Szene) [Mecklenburg 2017: 74]. Er begeht Ehebruch an seiner Frau, der Wölfin Hersant, und vergewaltigt sie zudem auch noch auf demütigende Art und Weise auch vor Isengrin und seinen Jungen. [Dimpel 2013: 411].
Die Liste seiner Taten reicht jedoch noch weiter. Die Ursache der Erkrankung des Löwenkönigs Vrevel ist ihm bekannt und nutzt dies, um von seiner Todesstrafe auf dem Hoftag zu entkommen [Neudeck 2017: 21 f.]. Auch die damit verbundenen Häutungen, die angeblich dem Löwen zur Heilung verhelfen würden, lassen sich den Intrigen des Fuchses als vermeidlicher Arzt zuschreiben. Die Unterstützer des Gerichtsverfahrens, u.a. der Bär und der Kater, verfallen auch hier durch mutwillige Verlockungen von Seiten des Fuchses ihren Gelüsten und werden gedemütigt [Huebner 2016: 93]. Die Mittel, die Reinhart für seine Taten benötigt, reichen dabei nicht ausschließlich auf bloße Lügen. Viel mehr am Beispiel Hersant oder Isengrin wird auch das Gewaltpotenzial des Fuchses, der sich auch mit physischen Mitteln währen kann, deutlich. Die Vergiftung des Königs durch Reinhart ist das verheerende Ende der Geschichte Heinrichs [Ruh 1980: 26].
Keine eindeutigen Rachemotive sind bei den Intrigen an den Elefanten und dem Kamel festzustellen. Auch wenn diese eine vermeidliche Beförderung erhalten und in ihren neuen Gebieten gewaltvoll gepeinigt und geschändet werden, intrigiert hier Reinhart vergleichsweise mild. Dies kann an der Unterstützung für einen fairen Prozess liegen [Dimpel 2013: 418].

Reinhart als Opfer

Der Fuchs ist jedoch nicht ausschließlich ein Täter, so viel auch dafür sprechen mag. Er kann zu Beginn der Geschichte auch durchaus als Opfer wahrgenommen werden, weil er verzweifelt versucht, an Nahrung zu gelangen. Die anfängliche Erzählweise ließe hier Interpretationsspielraum zu [Dimpel 2013: 406]. Zu differenzieren sind hier ebenfalls zwei leitende Gründe für seine Opferrolle: Zum Einen, dass er Opfer seiner eigenen Triebe und Gier ist und zum Anderen die mutwilligen Täuschungen von Seiten der anderen Tiere, auf die er persönlich keinen direkten Einfluss hat. Diese Intrigen provozieren jedoch sein Bedürfnis nach Rache und Vergeltung.
Der Hahn schafft es durch Provokation des Fuchses, dass sich dieser doch vor dem Bauern zu behaupten weiß, aus dem Maul des Fuchses zu entkommen. Die Meise demütigt ihn, indem er vor lauter Gier und Hunger sich von der Meise täuschen lässt, indem er seine Augen schließen und auf einen Kuss warten soll. Stattdessen erhielt er einen Haufen Mist. Die kleineren Tiere haben also durchaus ebenfalls Listen, mit denen sie sich vor Reinhart zu behaupten wissen und sein Opferpotenzial untermalen. Der Rabe verspottet ihn sogar, da dieser aus Reinharts Klauen entkommt und die nahenden Jagdhunde, die drohten Reinhart zu fassen, auf ihn hetzt [Dimpel 2013: 403-411]. In der Brunnenszene verfällt er zudem dem Minnegesang seiner Geliebten und fällt in den Brunnen, was ihn beinahe das Leben kostete. Hier zeigt Reinhart, dass auch er in die Situation kommen kann, getäuscht zu werden und Opfer seiner eigenen Gier und Gelüste werden kann [Ruh 1980: 21]. Der Kater spiele mit Reinhart ein ungleiches Spiel, weil der Fuchs nicht durch den gleichen Körpereinsatz der Falle entgehen konnte wie Diepreht. Beim Fuchs hätte es sich zudem, wenn man es juristisch betrachtet, um eine vorsätzliche Schädigung des Katers gehandelt, welche nicht eingetreten ist. Der Kater wiederum sorgt nun für eine bewusste Schädigung, die Reinhart nun auch ein gewisses Opferpotenzial zuschreiben könnte [Dimpel 2013: 409]. Der Bruch der gemeinsamen Bruderschaft zwischen dem Wolf und dem Fuchs wegen des Schinken-Verrats oder des Versuches, Reinhart durch einen bissigen Rüden zu töten, sind ebenfalls Fälle, in denen Reinhart keine bewusste Schuld treffe [Dimpel 2013: 417]. Der einberufene Hoftag und der Prozess gegen Reinhart ist ebenfalls kritisch zu betrachten. Das zentrale Anliegen der unter Reinharts Intrigen gebeutelten Tiere ist kein fairer Prozess, sondern eine Rasche Verurteilung Reinharts zum Tod. Auch hier könnte man meinen, Reinhart, bei aller Schuld, die er begangen hat, wird einem ungerechten Prozess unterworfen ohne die faire Chance, sich zu verteidigen [Huebner 2016: 90].

Der Wolf Isengrin

Isengrin als Täter

Der Schein trübt, zu urteilen, Isengrin sei lediglich Opfer in der gesamten Handlung des RF. Zum Einen hat auch Isengrin das Tatmotiv des Hungers, der Gier und seine Triebe, welche ihm ein gewisses Täterpotenzial verschaffen. Zum Anderen gibt es auch noch Motive wie Vergeltung und Rache, die er gegen Reinhart pflegt. In den Vordergrund seiner Taten, die letztlich Reinhart dazu motivieren, Rache an ihm zu üben, ist der Verrat auf der Suche nach Nahrung, welche beide ersehnen. Reinhart beschafft durch List einen Schinken von einem Menschen zu stehlen, jedoch überwiegt hier Isengrins Fressgier und überlässt seinem Gevatter nichts. Außerdem planen nach der Vergewaltigung seiner Frau Hersant beide Wölfe einen Vergeltungsschlag mit der sogenannten Rüden-List. Der Wolf will um jeden Preis die Ehre wiederherstellen und seinen ehemaligen Gevatter für seine Untaten bestrafen. Es existiert durchaus der Interpretationsansatz, Isengrin wolle nicht die Ehre seiner Frau wiederherstellen, sondern instrumentalisiere sie und ihr Leid, um eine möglichst harte Strafe für den Fuchs er erreichen. Dabei ist ihm auch physische Gewalt in Form des bissigen Rüden recht, um seinen Feind ein Geständnis zu entlocken und dennoch zu töten [Dimpel 2013: 412-417].

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Isengrin hatte sich wol bedacht, x
hern Reizen hatter dare bracht, x
einen rvden vreslich. x
vf des zennen solde sich x
Reinhart enschvldiget han. x
den rat hatte her Brvn getan. x
si hiezen Reizen liegen vur tot, x
da was nach vberkvndigot x
Reinhart, der vil liste pflac. x

(V. 1121-1129, RF)

Doch seine Amoralität gipfelt in dem intriganten Plan, einen vermeidlich fairen Prozess gegen Reinhart zu erreichen. Die einzige zentrale Absicht ist jedoch, dass er ganz klar als schuldig betitelt und möglichst mit dem Tode vom König bestraft wird. Ein fairer gerichtlicher Prozess ist jedoch nicht vorgesehen [Neudeck 2017: 19]. Ohne das Eingreifen des Dachses Crimel oder dem Kamel wäre es nicht zu solch einer Anhörung Reinharts gekommen [Ruh 1980: 24]. Zusammenfassend greift auf Isengrin in der Handlung zu unmoralischen und gewalttätigen Mitteln, um eine gewisse Gerechtigkeit herzustellen, sprich Selbstjustiz zu betreiben. Dies ähnelt möglichen Eigenschaften eines Täters.

Isengrin als Opfer

Es festzuhalten ist, dass Isengrin Opfer unzähliger Intrigen des Fuchses Reinhart wurde. Dies fängt mit dem Ehebruch seiner Frau Hersant mit Reinhart an, was er durch Kuonin schmerzlich erfahren hat. Die gebrochene Bruderschaft zwischen Reinhart und ihm sorgt für großes Konfliktpotenzial. Reinhart fügt ihm vehement physische Gewalt durch die Verbrühung des Kopfes zu (Tonsur), oder das Festfrieren des Schwanzes auf dem See bei dem Versuch, gemeinsam ein paar Aale zu fangen [Ruh 1980: 20]. In der Forschungsliteratur wird alternativ auch vom Verlust des Genitals, nicht nur des Schwanzes, gesprochen. Dies hat im übertragenen Sinne die Folge des Verlustes der Männlichkeit und dem Geltungsanspruch in der eigenen Wolfsfamilie, was für ihn persönlich durchaus auch als großes Opfer angesehen werden könne [Mecklenburg 2017: 77]. Durch diese geschickt eingefädelte Intrige gerät Isengrin in Gefahr, weil Jagdhunde drohen ihn zu töten. Zudem fällt er durch die List Reinharts und der Täuschung Isengrins in den Brunnen [Ruh 1980: 21]. Sein Tod schließlich ist zum Ende der Geschichte durch eine Häutung, die den König heilen solle, ist die letzte Tat, welcher er zum Opfer fällt [Neudeck 2017: 22]. Das Verlangen nach Gerechtigkeit für den persönlichen Ehrverlust und der seiner Wolfsfamilie ist geleitet von Rachemotiven, die ihm letztlich mit dem Tod endet.

Der Löwenkönig Vrevel

Vrevel als Täter

König Vrevel, ein Löwe, der über das Land der Tiere herrscht, zerstört ein kleines Herrschaftsgebiet eines Ameisenkönigs, weil er es für sich beanspruchen will. Der Ameisenkönig des Gebietes, welches der Löwe zerstört hat, ist nicht anwesend und kehrt erst danach zurück. Die Machtdemonstration und die Gier nach Herrschaft verleitet den König, ein Ameisenvolk mutwillig zu zerstören [Huebner 2016: 92]. Die beweist eine physische Gewaltbereitschaft, die den Eigenschaften eines Täters entspricht. Der blanke Egoismus und Eigennutz des Löwenkönigs wird auch deutlich, als er einen Hoftag einberuft, mit dem Ziel, Landfrieden über sein Herrschaftsgebiet um jeden Preis herzustellen. Er fürchtet bei seiner plötzlichen Erkrankung eine Strafe Gottes und setzt alle Hebel in Bewegung, Ordnung und Ruhe in sein Königreich einkehren zu lassen [Neudeck 2017: 21] [Huebner 2016: 90].
Als ein möglicher Prozess gegen Reinhart thematisiert und Konfliktpotenzial deutlich wird, lässt sich der König durch die Überzeugung der meisten Tiere verleiten, Reinhart zum Tode zu verurteilen aufgrund der vorgebrachten möglichen Schandtaten des Fuchses. Der König berücksichtigt zunächst nicht die berechtigten Zweifel, ob dies ein faires Rechtsverfahren sei laut Kamel und Dachs, wenn man Reinhart nicht dreimal vorlädt und zudem die Möglichkeit der Verteidigung gäbe. Wutentbrannt solle der Fuchs sein Land verlassen und für seine Untaten verurteilt werden [Neudeck 2017: 16-21]:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
vnde sprach: ,sam mir min bart, x
so mvz der vuchs Reinhart x
gewislichen rovmen ditz lant, x
oder er hat den tot an der hant.' x

(V.1477-1480, RF)

Der König selbst letztlich bricht mit seinem eigenen Urteil, den Fuchs für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen. Durch seine Krankheit handelt er rein egoistisch und seinem Heil und glaubt leichtsinnig Reinhart, dass er ihm helfen könne, wieder zu Kräften zu kommen. Dafür nimmt der König in Kauf, zahlreiche seiner Gefolgsleute zu häuten und damit aufzuopfern. [Ruh 1980: 23]. Gewaltbereitschaft, Egoismus und Leichtgläubigkeit machen den Löwenkönig Vrevel durchaus zum Mittäter an seinem eigenen Volk.

Vrevel als Opfer

Man könnte jedoch bei den Taten des Löwen berücksichtigen, dass er aufgrund des Fuchses und seines Wissens über die Rache des Ameisenkönigs in der Notlage schamlos ausgenutzt wurde, als Mittel zum Zweck. Er wird so Opfer von Reinharts Intrigen, die gleichzeitig die Doppelmoral des Königs offenbaren. Tatsache ist die Vergiftung des Löwen durch den Fuchs Reinhart, die letzten Endes auch zum qualvollen Tod des Löwen sorgt [Ruh 1980: 26]. Der König wird schlussendlich zum Opfer seiner Taten. Zwar ist er selbst nicht für seine Vergiftung und Ermordung verantwortlich, was für die Rolle des Opfers spricht. Dennoch ist seine absichtliche aus reinem Eigennutz begangene Tat am Ameisenvolk der Auslöser für eine Reihe von Intrigen, welche Reinhart für sich zu wissen weiß und so den König für seine Intrigen indirekt einspannt [Neudeck 2017: 21 f.].

Die Wölfin Hersant

Hersant als Täter

Hersant kann auch als Täter betrachtet werden. Die Wölfin lässt sich trotz der anfänglichen Abweisung gegenüber Reinhart auf einen Ehebruch ein, was ihr Mann durch Kuonin erfährt [Ruh 1980: 14]. Zudem finden sich Interpretationsansätze, dass von vornherein das mögliche Potenzial eines Ehebruchs vorhanden gewesen wäre (Zitat der Abweisung Hersant ggü. Fuchs einfügen). Wenn ihr Gegenüber mächtiger und stärker sei als ihr Mann, wäre dies ein möglicher Grund für einen Ehebruch. Dies sei aber angeblich bei Reinhart nicht der Fall und weißt ihn zunächst ab. Sie ist gemeinsam mit ihrem Mann Isengrin an der Rüden-List beteiligt, um sich an der Vergewaltigung und dem Spott Reinharts an ihr zu rächen. Auch hier existiert also ein mögliches Tatmotiv aus Rache, die mit einem gewalttätigen Vergeltungsschlag gerächt werden solle. Diese einberufene Verhandlung, die den Konflikt zwischen den kleinen Tieren und Reinhart eigentlich beilegen solle, dient dem Versuch, Reinhart durch einen bissigen Rüden zu einem Geständnis zu bewegen und ihn zudem noch zu töten. Jedoch scheitert der Versuch durch den Dachs, der Reinhart rechtzeitig warnt und ihm zur Flucht verhilft. Sie fordert genauso wie ihr Mann und die anderen Tiere beim Hoftag den Tod des Fuchses. Abschließend sind hier Motive wie Hass, der Wunsch nach Vergeltung und Selbstjustiz aus Rachegelüsten allgegenwärtig [Dimpel 2013: 412].

Hersant als Opfer


Mittelhochdeutsch Übersetzung
do gewan sie schiere schande genuc: x
sine mochte hin noch her, x
Reinhart nam des gvuten war, x
zv eime andern loche er vz spranc, x
vf sine gevateren tet er einen wanc. x
Isengrine ein herzen leit geschach: x
er gebrvtete si, daz erz an sach. x
Reinhart sprach: ,vil libe vrvndin, x
ir schvlt talent mit mir sin. x
izn weiz niman, ob got wil, x
dvrch ewer ere ich iz gerne verhil.' x
vern Hersante schande was niht cleine, x
si beiz vor zorne in die steine, x
ir kraft konde ir nicht gefrvmen. x

(V.1170-1183, RF)

Eines der zentralsten Handlungen des RF ist die Vergewaltigung der Wölfin Hersant durch den Fuchs und die darauffolgende starke Demütigung. Zudem, wie eingangs bei Isengrin erwähnt, steht nicht die Wiederherstellung ihrer Ehre als Misshandelte im Fokus der Verhandlung, sondern wird von ihrem Mann bewusst als Opfer Reinharts zur Schau gestellt um zu erreichen, dass Reinhart zur Verantwortung gezogen wird. Zumindest könnte dies so interpretiert werden [Dimpel 2013: 414 f.]. Auch wenn bei Hersant wesentlich weniger Anhaltspunkte für ihre Opferrolle vorhanden sind, ist die Vergewaltigung und der Spott, der ihr widerfuhr, zentraler Bestandteil der Geschichte und von besonderer Bedeutung für den Handlungsverlauf.

Sonstige Figuren und mögliche Rollen

(Belege aufführen) Einige Figuren wie Hahn, Meise, Rabe oder Kater wurden bereits erwähnt. Sie haben durchaus mit ihrem Gegenlisten gegenüber Reinhart Täterpotenzial und sind ebenfalls in der Lage, aus Rache es dem Fuchs heimzuzahlen [Dimpel 2013: 403-411]. Die Verbündeten des Fuchses, zu denen Elefant, Kamel und Dachs zählen, sind differenzierter zu betrachten. Während der Elefant und das Kamel lediglich auf eine möglichst faire Gerichtsverhandlung für den Fuchs beharren und nicht zwingend als Mittäter bezeichnet werden könnten, sieht es beim Dachs anders aus. Der Dachs ist mehrmals Unterstützer Reinharts, indem er ihn vorwarnt, zur Flucht verhelft und ihn mit nötigen Informationen versorgt. Zudem verleugnet er die Vergewaltigung der Wölfin Hersant vor dem Hoftag und verleumdet damit eine begangene Tat des Fuchses [Ruh 1980: 14 und 24] Der Bär ist auch durchaus daran beteiligt, Reinhart so schnell wie möglich als Täter zu verurteilen und den Tod durchzusetzen. Auch dies wird ihm zum Verhängnis und wird Opfer seiner Gier nach Honig, als Reinhart ihn bei seinem Aufsuchen verführt. Der Ameisenkönig wurde ebenfalls sowohl als Täter am König, als auch als Opfer durch Vrevels Zerstörung seines Ameisenhaufens eingeordnet [Huebner 2016: 92 f.].

Fazit


Literaturverzeichnis

  1. Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, Hg. Karl-Heinz Göttert, Reclam, Stuttgart 1976.
  2. https://www.duden.de/rechtschreibung/Taeter
  3. https://www.duden.de/rechtschreibung/Tat
  4. https://www.duden.de/rechtschreibung/Opfer

<HarvardReferences />

  • [*Dimpel 2013]
  • [*Düwell et al. 2018] Düwell, Susanne / Bartl, Andrea / Hamann, Christof / Ruf, Oliver: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien - Geschichte - Medien, Springer-Verlag, Stuttgart 2018.
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, 1980, S.13-33.
  • [*Huebner 2016]
  • [*Neudeck 2017]
  • [*Mecklenburg 2017]