Radikales Alteritätskonzept: Unterschied zwischen den Versionen
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Jede Parallele der mittelalterlichen Gesellschaft zu unserer Zeit sei also so lange reiner Zufall, bis wir mit genauer Sicherheit eine exakte Analogie beweisen können <ref name="Quelle1">, Zumthor, Paul: Comments on H.R. Jauss's Article, in: New Literary History 10 (1979), S. 367-376.</ref>. Die Schwierigkeit eines solchen Nachweises besteht darin, dass wir weder mit einer '''Primärquelle''' arbeiten (einen '''Zeitzeugen''' befragen), noch selbst die damalige Welt in Augenschein nehmen können. Zum Beispiel können wir die '''Intentionen von Autoren''' mittelalterlicher Texte - aufgrund der damals gängigen '''Manuskript- und | Jede Parallele der mittelalterlichen Gesellschaft zu unserer Zeit sei also so lange reiner Zufall, bis wir mit genauer Sicherheit eine exakte Analogie beweisen können <ref name="Quelle1">, Zumthor, Paul: Comments on H.R. Jauss's Article, in: New Literary History 10 (1979), S. 367-376.</ref>. Die Schwierigkeit eines solchen Nachweises besteht darin, dass wir weder mit einer '''Primärquelle''' arbeiten (einen '''Zeitzeugen''' befragen), noch selbst die damalige Welt in Augenschein nehmen können. Zum Beispiel können wir die '''Intentionen von Autoren''' mittelalterlicher Texte - aufgrund der damals gängigen '''Manuskript- und [[Prinzip Wiedererzählen|Kopierkultur]]''' und der Tatsache, dass die Verfasser schon lange verblichen sind - nur mutmaßen. Des Weiteren muss auch der historische Kontext, in dem sich das zu betrachtende Exemplar einst befand, beleuchtet werden, da dieser im Gegensatz zu heute ein grundsätzlich anderer sein könnte. | ||
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[[Datei:gotfridliteratur.jpg|150px|right|thumb|Literarischer Vortrag am Hof (hier Gottfried von Straßburg)]] | [[Datei:gotfridliteratur.jpg|150px|right|thumb|Literarischer Vortrag am Hof (hier Gottfried von Straßburg)]] | ||
Es zeigt sich, dass auch andere Quellen, vornehmlich die '''mittelalterliche Literatur''', nicht nach heutigen Maßstäben analysiert werden dürfen, da diese sonst zu sehr aus ihrem historischen Kontext gerissen werden. Die angesprochene Literatur war zur damaligen Zeit hauptsächlich ein Produkt aus von Adelshöfen vergebenen '''Auftragsarbeiten''' und wurde meist bei Festivitäten unter Mithilfe einer Schauspiel- oder Musikergruppe vorgetragen. <ref name="Bildquelle2">[http://www.mediaevum.de/autoren/gottfried_von_strassb.htm], Bildquelle "Literarischer Vortrag am Hof" gefunden unter http://www.mediaevum.de/autoren/gottfried_von_strassb.htm</ref> Diese Art der ''Perfomance'' resultiert aus dem allgemeinen Analphabetismus der Bevölkerung, die Geschichten und Sagen größtenteils noch mündlich weitergab. Paul Zumthor bezeichnet diesen Mix aus '''Mündlichkeit und Schriftlichkeit''' innerhalb dieser '''semi-oralen''' Gesellschaft als '''Vokalität'''. Demnach kann und darf ein Stück mittelalterlicher Literatur - sei es Epik, Lyrik o.ä. - nicht unter den Kriterien begutachtet werden, mit denen wir heutige Werke der Belletristik oder Poesie zu bewerten suchen. | Es zeigt sich, dass auch andere Quellen, vornehmlich die '''mittelalterliche Literatur''', nicht nach heutigen Maßstäben analysiert werden dürfen, da diese sonst zu sehr aus ihrem historischen Kontext gerissen werden. Die angesprochene Literatur war zur damaligen Zeit hauptsächlich ein Produkt aus von Adelshöfen vergebenen '''[[Mittelalterliche Auftragsliteratur|Auftragsarbeiten]]''' und wurde meist bei Festivitäten unter Mithilfe einer Schauspiel- oder Musikergruppe vorgetragen. <ref name="Bildquelle2">[http://www.mediaevum.de/autoren/gottfried_von_strassb.htm], Bildquelle "Literarischer Vortrag am Hof" gefunden unter http://www.mediaevum.de/autoren/gottfried_von_strassb.htm</ref> Diese Art der ''Perfomance'' resultiert aus dem allgemeinen Analphabetismus der Bevölkerung, die Geschichten und Sagen größtenteils noch mündlich weitergab. Paul Zumthor bezeichnet diesen Mix aus '''Mündlichkeit und Schriftlichkeit''' innerhalb dieser '''semi-oralen''' Gesellschaft als '''Vokalität'''. Demnach kann und darf ein Stück mittelalterlicher Literatur - sei es Epik, Lyrik o.ä. - nicht unter den Kriterien begutachtet werden, mit denen wir heutige Werke der Belletristik oder Poesie zu bewerten suchen. | ||
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Version vom 2. Dezember 2011, 15:33 Uhr
Das radikale Alteritätskonzept des Schweizer Mediävisten Paul Zumthor (1915-1995) bezieht sich auf den Umgang mit mittelalterlichen Quellen wie z.B. Literatur, historischen Grafiken etc. Es stellt eine direkte Gegenposition zu der These dar, dass Sprache, historische Texte, kulturelle Bedingungen und gesellschaftliche Inhalte dieser Epoche auch heute noch Auswirkungen auf unser Leben haben, bzw. dass sich diese von uns vollkommen nachvollziehen lassen (hermeneutisches Alteritätskonzept, reflexives Alteritätskonzept).
Erläuterung
Zumthor sieht die o.g. Inhalte der mittelalterlichen Epoche für uns als komplett unverfügbar an. Jede Parallele der mittelalterlichen Gesellschaft zu unserer Zeit sei also so lange reiner Zufall, bis wir mit genauer Sicherheit eine exakte Analogie beweisen können [1]. Die Schwierigkeit eines solchen Nachweises besteht darin, dass wir weder mit einer Primärquelle arbeiten (einen Zeitzeugen befragen), noch selbst die damalige Welt in Augenschein nehmen können. Zum Beispiel können wir die Intentionen von Autoren mittelalterlicher Texte - aufgrund der damals gängigen Manuskript- und Kopierkultur und der Tatsache, dass die Verfasser schon lange verblichen sind - nur mutmaßen. Des Weiteren muss auch der historische Kontext, in dem sich das zu betrachtende Exemplar einst befand, beleuchtet werden, da dieser im Gegensatz zu heute ein grundsätzlich anderer sein könnte.
Beispiele
Am folgenden Beispiel soll das Konzept genauer erläutert werden.
Die Ebstorfer Weltkarte [2], eine mittelalterliche Weltkarte mit Entstehung um vermutlich 1300, zeigt eine für unsere Begriffe ziemlich abstrakte geographische Ansicht der (damals bekannten) Welt und eine recht ungewöhnliche "Form" für eine Karte. Auf der Karte ist Osten oben angeordnet, dort befindet sich neben dem ehemaligen babylonischen Reich (Assuria) und Indien (India) das Paradies, während sich Europa mit z.B. Britannien (Britania), Ligurien (Liguria) und der Lombardei (Langobardia) in der unteren linken Ecke (also dem Westen / Nordwesten) befindet. Das Zentrum der Welt bildet die heilige Stadt Jerusalem. Im Süden befinden sich u.a. Kalabrien (Calabria), Lybien (Libia) und Sizilien (Sicilia). Eine weitere Besonderheit der Karte ist, dass sie die Hände (Norden/Süden), Füße (Westen) und den Kopf (Osten) von Jesus Christus trägt. Zudem sind auch mythische Figuren (Amazonen, Einhörner), nicht greifbare Dinge (Arche Noah, Turm zu Babel), Menschen, Tiere und Gebäude auf ihr verzeichnet[3].
Zumthor zufolge sind die Intentionen der Kartenzeichner und die Bedeutung ihrer Karte für uns heute unverständlich und nicht zugänglich. Selbstverständlich lassen sich Vermutungen über die Bedeutung der Karte und ihrer inhaltlichen Gestaltung anstellen, die mit hoher Sicherheit sogar korrekt sind und im Zusammenhang mit eventuell vorhandenen Sekundärquellen (wie Literatur etc.) ihrer ursprünglichen Bedeutung gerecht werden können, doch dies ist nicht der Inhalt der These. Ihr zufolge wäre die Ebstorfer Weltkarte mit all ihren Inhalten und ihrer eigentlichen Aussage unserer Generation gegenüber erst verfügbar, wenn sich diese mit absoluter Genauigkeit (etwa durch den Fund einer Handschrift der Kartenzeichner, in der die Karte bis ins Detail erläutert wird oder durch ein Gespräch mit den Urhebern) nachweisen ließen.
Darüber hinaus ...
Es zeigt sich, dass auch andere Quellen, vornehmlich die mittelalterliche Literatur, nicht nach heutigen Maßstäben analysiert werden dürfen, da diese sonst zu sehr aus ihrem historischen Kontext gerissen werden. Die angesprochene Literatur war zur damaligen Zeit hauptsächlich ein Produkt aus von Adelshöfen vergebenen Auftragsarbeiten und wurde meist bei Festivitäten unter Mithilfe einer Schauspiel- oder Musikergruppe vorgetragen. [4] Diese Art der Perfomance resultiert aus dem allgemeinen Analphabetismus der Bevölkerung, die Geschichten und Sagen größtenteils noch mündlich weitergab. Paul Zumthor bezeichnet diesen Mix aus Mündlichkeit und Schriftlichkeit innerhalb dieser semi-oralen Gesellschaft als Vokalität. Demnach kann und darf ein Stück mittelalterlicher Literatur - sei es Epik, Lyrik o.ä. - nicht unter den Kriterien begutachtet werden, mit denen wir heutige Werke der Belletristik oder Poesie zu bewerten suchen.
Fazit
Das radikale Alteritätskonzept sucht also den direkten Kontakt zur Vergangenheit und will wissenschaftliche Erkenntnisse über zurückliegende Jahrhunderte nicht auf Vermutungen gründen. Paul Zumthors These lässt sich auf alle Überlieferungen der vergangenen Jahrhunderte in jeder Form, deren Aussage und Inhalte noch nicht vollständig begriffen und erklärt werden konnten, anwenden. Dabei versteht sie sich selbst nicht als non plus ultra im Umgang mit derartigen Quellen, zeigt aber auch durchaus ihre Daseinsberechtigung innerhalb der Geschichtswissenschaften, speziell in der Mediävistik, auf.
Quellen
- ↑ , Zumthor, Paul: Comments on H.R. Jauss's Article, in: New Literary History 10 (1979), S. 367-376.
- ↑ [1], Gefunden auf http://www.ebstorfer-weltkarte.de
- ↑ [2], Einzelheiten aus Wikipedia entnommen.
- ↑ [3], Bildquelle "Literarischer Vortrag am Hof" gefunden unter http://www.mediaevum.de/autoren/gottfried_von_strassb.htm