Musenanrufung (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Erzähler::Exkurs von Vers 4.860 bis 4.974, in dem der Erzähler Apollo, die Musen, Vulkan und Kassandra anruft, und mit der Frage, inwiefern es überrascht oder auch nicht, dass in diesen mittelalterlichen Roman mythische Stoffe der Antike einfließen.
Mythologische Personen und ihre allegorische Bedeutung[1]
Apollo
Der griechische Gott Apollon galt als Anführer der Musen, wie auch an seinem Beinamen "Musagetes" ersichtlich.
Die neun Musen
Gottfried spricht in diesem Abschnitt von den neun Camênen.
Apolle und die Camênen,
der ôren niun Sirênen,
die dâ ze hove der gâben pflegent,
(V. 4.871-4.873)
Die Kamönen waren altitalienische Quellgöttinnen, die im Mittelalter mit den olympischen Musen, auch Mnemoiden genannt, gleichgesetzt wurden. Auch die Sirênen aus 4.872, die mythologisch andere Gestalten sind, erfuhren diese Gleichsetzung und stehen daher bei Gottfried ebenfalls für die Musen [2] . Diese weiblichen mythologischen Gestalten gelten als die Töchter des Zeus und der Mnemosyne. Sie sind die Schutzgöttinnen der Künste und verbinden sich in den griechischen Mythen mit Helden, denen sie mit ihrer jeweiligen Kunst zur Seite stehen. Im folgenden sind ihre Aufgaben und anbefohlenen Künste den Namen zugeordnet.
Name | anbefohlene Künste |
---|---|
Klio | Geschichtsschreibung |
Melpomene | Tragödie |
Terpsichore | Chorlyrik und Tanz |
Thalia | Komödie |
Euterpe | Lyrik und Flötenspiel |
Erato | Liebesdichtung |
Urania | Sternkunde |
Polyhymnia | Gesang und Leierspiel |
Kalliope | epische Dichtung, Rhetorik und Philosophie |
Diese Einteilung wird erstmals von Hesiod im 6. Jh. v. Chr. vorgenommen, auch legt er die Zahl der Musen auf neun fest. Sitz der Musen ist der Berg Helikon, wo auch die Quelle Hippokrene entspringt. Das geflügelte Musenpferd Pegasus hatte sie, der Überlieferung nach, durch einen Hufschlag freigelegt.
Vulkan
Lat. vulcanos, ist der Gott des Feuers und der Schmiedekunst. Unter anderem fertigte er die Rüstung des Apoll, ebenso dessen Pfeile und das goldene Szepter des Jupiter. Von seiner Gemahlin Venus wird er aufgrund seiner Hässlichkeit und Behinderung (er hinkt) ständig betrogen, unter anderem mit Mars, dem Gott des Krieges.
Gottfried gibt an, Vulkan habe auch Tristans Rüstung und Waffen geschmiedet. Diese Stelle wurde von der Forschung als Anspielung auf die "Eneide" Henrichs Von Veldeke gewertet. Dort wird ausführlich geschildert, wie Vulkan Waffen und Rüstung für Eneas anfertigt. Damit trägt der Held hier wie dort göttliche Artefakte, die eine Niederlage und den Schwund seines Muts unmöglich und ihn selbst unverwundbar machen. Gleichzeitig wird der Held mit dem schönen Apoll gleichgesetzt, dem Vulkan wie schon erwähnt seine Rüstungsteile schmiedete. Auf Tristans Schild prangt ein Eber, ein Tier, das in zahlreichen Werken der mittelalterlichen Literatur für Kampfzorn und Kühnheit steht. Allerdings besteht auch eine Deutungstradition, die den Eber als "inbegriff zerstörerischer Kraft" interpretiert. Auch der Truchsess Marjodo träumt einen Ebertraum, in dem ein wütender Eber das Ehebett Markes zerwühlt und beschmutzt. Hierin sieht die Forschung einen deutlichen Bezug.
Allerdings prangt ein Feuerstrahl zum Zeichen der Liebesqual auf Tristans Helm. Hier lässt sich eine Parallele zu Vulkan erkennen: Der Feuerstrahl ist seine Insignie (er ist der Gott des Feuers) und die Liebesqual litt er genauso, wie Tristan sie leiden wird, denn seine Frau Venus betrügt ihn immer wieder mit dem Kriegsgott Mars (bis er die beiden in flagranti erwischt). Durch diese Symbolik werden der Siegeszug und die Qualen der Liebe Tristans vorweg genommen.
und seite iu daz, wie Vulkân der wîse, der maere, der guote listmachaere Tristande sînen halsperc, swert unde hosen und ander werc, daz den ritter sol bestân, durch sîne hende lieze gân schône und nâch meisterlîchem site; wie er‘m entwürfe unde snite; den kuonheit nie bevilte, den eber an dem schilte; wie er‘m den helm betihte und oben dar ûf rihte al nâch der minne quâle die viurîne strâle; (V. 4932-4946)
Kassandra
Kassandra begegnet uns in der antiken Mythologie als Tochter von Priamos, dem König von Troja, und der Hekabe. Aus Liebe zu ihr schenkte der Gott Apoll ihr die Gabe der Vorhersehung, doch als sie seine Liebe zurückwies und er seine Gabe nicht wieder rückgängig machen konnte, fügte er stattdessen den Fluch hinzu, dass ihre Vorhersagen niemals Glauben finden sollten.
Im Mittelalter galt Kassandra auch als Meisterin der Web- und Stickereikunst. Dazu Rüdiger Krohn: "Womöglich hat bei dieser Umdeutung die tradierte germanische Vorstellung von den Nornenm die den Schicksalsfaden der Menschheit spinnen, eine gewisse Rolle gespielt."
In Gottfrieds Tristan-Roman tritt Kassandra in eben der Rolle der Weberin von Tristans Gewand auf:
und wie mîn vrou Cassander, diu wîse Troiaerinne, ir liste und alle ir sinne dar zuo haete gewant, daz sî Tristande sîn gewant berihte unde bereite nâch solher wîsheite, sô si‘z aller beste von ir sinnen weste, der geist ze himele, als ich‘z las, von den goten gefeinet was: (V. 4950-4960)
Allegorische Funktion nimmt Kassandra nun dahingehend ein, dass sie Tristan durch das von ihr gefertigte Gewand einen scharfen Verstand sichert. Womöglich könnte die Nennung Kassandras auch eine Vorwegnahme des Endes des Tristan-Romans gelten, insofern, dass die Liebe zu Isolde unglücklich endet; die Gaeb der Voraussicht, also im Schlechten mündet.
Krohn verweist in seinem Stellenkommentar auf eine Passage aus dem "Moritz von Craûn", in der ebenfalls von Kassandra als Webmeisterin die Rede ist.
Sprachliche Auffälligkeiten
Bedeutung der Textstelle zur Selbstpositionierung des Erzählers
Fußnoten
- ↑ Zitationen dieses Kapitels aus: Gottfried von Straßburg; Ranke, Friedrich (Übers.); Tristan, Band 1 und 2; Reclam; Stuttgart; 2007
- ↑ Krohn, Rüdiger: Stellenkommentar zu Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., Bd. 3, 8./9./12. Aufl., Stuttgart 2007-2008 (RUB 4471-4473).
Literaturverzeichnis
- Schwab, Gustav; Die schönsten Sagen des klassischen Altertums; Gondrom, Bindlach; 2006.