Der Löwe Vrevel (Reinhart Fuchs)

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Diese Seite befasst sich anhand von Textbelegen mit der Figur des königlichen Löwen Vrevel im "Reinhart Fuchs". Hierbei werden vor allem die Ameisenepisode sowie die "Heilung" Vrevels durch die Hauptfigur, den Fuchs Reinhart, analysiert und gedeutet. Des Weiteren erfolgt eine Analyse des Löwen als Symbol im Mittelalter und dessen Rolle im Kontext des Tierepos.

Charakterisierung

Nicht zuletzt aufgrund des vom Autor gewählten Namens ‚Vrevel‘ liegt eine ausschließlich negative Deutung der Königsfigur nahe. Interessanterweise ist dies der einzige Name, den der Autor des Reinhart Fuchs von seiner französischen Vorlage ersetzt hat. Im französischen "Roman de Renard" heißt der Löwe ursprünglich "Noble". Diese intentionale Ersetzung ändert nicht nur den Namen, sondern auch den Charakter des Löwenkönigs. "Dem höfischen, jovialen Nobel [...] steht der zugleich lächerlich-würdelose wie tyrannisch-willkürliche Vrevel gegenüber" [Ruh 1960:23; Dietl 2010:51]. Der König verliert damit höfische Qualitäten und wird passend zu seinen Handlungen in ein brutales, gewaltätiges Licht gerückt. Wie im Vorhergehenden/nachfolgenden Abschnitt näher erläutert, wirft auch die im Handlungsverlauf erste Begegnung des Lesers mit der neu auftretenden Figur im Reinhart Fuchs ein stark negatives Bild auf dessen Charakter. Die dort begangene Untat gegen das Ameisenvolk bestätigt die moderne Deutung seines Namens, wodurch die anfängliche Skepsis des Lesers gegenüber der Figur in eine durchgehend negative Assoziation umschwenkt. Dies war, trotz der abweichenden Bedeutung des Wortes ‚Vrevel‘ im mittelhochdeutschen, wohl bereits zur Entstehungszeit der Fall. Denn obwohl die Deutung eine andere war, „[…] bezeichnet [das Wort] durchweg negative Qualitäten: ‚Herrschsucht‘, ‚Frechheit‘, ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Rechtsbeugung‘.“ [Ruh 1960:23]. Diese ist also in ihrer negativen Konnotation identisch mit der modernen und darüber hinaus in ihrer letzteren Lesart sogar weitaus präziser auf bestimmte Aspekte des Tierepos zugeschnitten.

Die, bereits durch die Namensgebung zu vermutende, Rechtsbeugung findet ihr Realisierung im Hoftag, welchen Vrevel in Folge seiner Erkrankung einberuft:„Der König deutet die Krankheit als Strafe Gottes für lange Zeit versäumtes Hofgericht.“ [Ruh 1960: 23]. Bei diesem soll die Rechtsprechung über Reinharts Verbrechen erfolgen (genauer nachzulesen im Artikel Inhaltsangabe (Reinhart Fuchs) ) und der König Vrevel agiert als Richter. Reinhart kommt letztendlich jedoch ohne Strafe davon, während Vrevel und Angehörige seines Hofes ihr Leben lassen müssen. Dies alles geschieht in Folge einer List Reinharts, für welche er sein Wissen um die Ursache für die Krankheit des Königs nutzt, um sich als Arzt auszugeben um dem König ein Heilmittel für dessen Leid anzubieten. Das verwerfliche an diesem Heilmittel ist, dass es nicht etwa eine bestimmte Kräutermischung ist, sondern dafür, laut Reinhart, die Haut eines alten Wolfes, ein Bärenfell und eine Mütze aus Katzenfell, sowie ein gekochtes Huhn, Eberspeck und ein Gürtel aus Hirschleder benötigt werden. All dies fordert der König nun von den Tieren seines Hoftages ein. Da diese der Forderung nicht nachkommen wollen, setzt Vrevel diese mit Gewalt um und wird durch diese Anordnung zum Henker. An dieser Stelle „[…] bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn […]“ [Neudeck 2016: 22] und es wird deutlich, dass ihm die Chance auf Heilung mehr bedeutet als das Leben seiner Untertanen. Hier zeigt sich nicht nur die eigennützige Veranlagung der Königs, sondern in besonderem Maße auch dessen Leichtgläubigkeit. Er vertraut lieber einem Fremden, der ihm Heilung verspricht als den Angehörigen seines Hoftages, die ihn vor den Listen Reinharts warnen und um Gnade für sich selbst bitten. Somit zeigt sich in der Opferung der Tiere nicht nur die Machtposition und körperliche Stärke des Königs, welche ihn zu so einem Handeln ermächtigen, sondern in besonderem Maße auch die charakterliche Schwäche, die ihn anfällig für Manipulation und Versprechen macht. Hierdurch gerät nicht nur die persönliche Schwäche der Figur, sondern auch „[…] die Schwachstelle monarchischer Gesellschaft in den Blick: die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie seine Manipulierbarkeit im Besonderen.“ [Neudeck 2016: 22] Vrevels Handlung wird noch auf einer weiteren als der moralischen Ebene verwerflich, wenn wir zurückblicken auf die eigentliche Begründung für die Einberufung des Hoftages. DerKönig führt seine Schmerzen auf eine göttliche Strafe zurück, was naheliegt, dass Vrevel als religiöse und gläubige Figur anzusehen ist (aufgrund des historischen Kontextes und der Entstehungszeit des Textes kann von einem christlich-katholischen Glauben ausgegangen werden). Somit verstößt die Entscheidung andere Tiere zu opfern gegen ein Gebot seiner Religion und er macht sich nicht nur moralisch, sondern auch gegenüber seinem Gott schuldig. Seine Verzweiflung und Angst geht also soweit, dass er seinen eigenen Glauben und die damit einhergehenden Werte verrät um sich selbst zu retten.


Bewertung des Handeln Vrevels

„Das Handlungsziel kann unter der Voraussetzung der Tiernatur kein Gegenstand eines moralischen Urteils sein; bei der Übertragung aufs Menschliche fällt es unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung.“ [Huebner 2016:87] Will man das Verhalten Vrevels also bewerten, so kann man keine rein menschlichen Maßstäbe hierfür ansetzen. Auf der menschlichen Ebene der Moral wäre die Opferung anderer Tiere zum eigenen Nutzen verwerflich und zeugt von schlechtem Charakter. Folgen wir aber Machiavellis Ansatz, nach welchem jedem Lebewesen naturgegebene das Recht auf Selbsterhaltung zusteht, wird eine andere Facette Vrevels Handeln beleuchtet. Es bleibt weiterhin eigennützig und skrupellos, doch wird es durch seine Schmerzen und die Todesangst, die er durch eben diese empfindet, legitimiert. Sein Selbsterhaltungstrieb setzt ein und jede darauffolgende Handlung dient allein der Erfüllung seines Naturrechtes. Der Rahmen in welchem die Handlung stattfindet – die tierische Inszenierung eines typisch menschlich- höfischen Hoftages, verleitet dazu, die tierischen Akteure zu sehr zu anthropomorphisieren und daher fälschlicherweise menschliche Maßstäbe für moralisches Handeln anzuwenden. Es muss jedoch beachtet werden, dass die im Tierepos dargestellten Figuren sowohl menschliche als auch tierischen Eigenschaften haben infolge derer beide Aspekte der Figur für eine Bewertung herangezogen werden müssen.

Löwe und Ameise

Die Episode, welche den zweiten Teil des Reinhart Fuchs einleitet, beginnt nach der Vergewaltigung Hersants durch Reinhart (nachzulesen im Artikel über Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs) und dem darauf folgenden Streit und der Trennung von Reinhart und Isegrin (Reinhart Fuchs). Der Szene vorangehend erfolgt eine kurze Vorstellung Vrevels als König und Herrscher über das Land, in welchem alle vorangegangenen Episoden stattfanden.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
einem ameizen hvfen wold er gan, Er wollte zu einem Ameisenhaufen gehen.
nv hiez er si alle stille stan Dort hilt er alle an innezuhalten
vnde sagte in vremde mere, und verkündete ihnen die dreiste Botschaft,
daz er ir herre were.so dass er nun ihr Herr ist.
des enwolden si niht volgen, Dem wollten sie nicht folgen,
des wart sin mvt erbolgen. worüber er sehr erzürnt war.
vor zome er vf die hure sprane, Zornig sprang er auf ihre Festung
mit kranken tieren er do rane, und kämpfte mit den kleinen Tieren,
in dvchte, daz iz im tete not. weil er glaubte, daß er dazu verpflichtet sei.
ir lagen da me danne tvsent tot Über tausend von ihnen starben,
vnde vil mange sere wunt, und viele von ihnen wurden verwundet,
gnve bleibe ir ovch gesvnt. doch ein paar von ihnen bleiben unverletzt.
sinen zorn er vaste ane in rach, Voller Zorn rächte er sich an ihnen
die bvrk er an den grvnt brach. und zerstörte die Festung bis auf die Grundmauern.
er hatte in geschadet ane maze, Er hatte ihnen unermessliches Leid zugefügt,
do hvb er sicg sine straze. als er sich wieder auf den Weg machte.
di ameyzen begonden clagen Die Ameisen klagten
vnde irn grozen schaden sagen, und berichteten von dem großen Schaden,
den si hatten an irem chvnne. den ihr Volk hatte.
z [ ] ergangen was ir wunne, Ihre Freude war vergangen,
daz waz in ein iemerlicher tae. das war ein schrecklicher Tag.

(9819, 1251-1271) [1]

Am Ende der Szene wird verdeutlicht, dass Reinhart, im Gebüsch lauernd, die Geschehnisse als einziger beobachtet hat. Das Wissen um den Hergang der Situation wird prägend für den des Hoftages.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
do gesach iz Reinhart Dies sah Reinhart
der was verborgen da bi. der unweit im Verborgenen lag.

Löwe und Reinhart

Im Rahmen der großen Episode des Hoftages findet das Zusammentreffen von Reinhart und Vrevel statt. Kurz nach Eintreffen Reinharts nach der dritten und letzten Vorladung findet ein persönliches Gespräch der beiden Figuren statt, dass nun in den Vordergrund rückt und die Szenerie des Hoftages sowie alle weiteren Teilnehmer vorerst in den Hintergrund verbannt:

[Übersetzung]

Hier wird deutlich, dass es Reinhart nun gelingt, den Fokus des Königs vom eigentlichen Anlass des Zusammentreffens, der Verurteilung Reinharts für seine Verbrechen an anderen Tieren, abzulenken und so einer Rechtsprechung zu entgehen. Der Hoftag wird somit zur Bühne, auf der Reinhart mit Hilfe des Königs Vrevel als seiner Marionette Rache an allen verüben kann, die ihm schaden wollen. Im Unterschied zu vorangegangenen Episoden, ist hier jedoch nicht von Beginn an klar, dass Reinhart mit seiner List auch Vrevel schaden will. Es scheint zunächst so, als würde er ihn wirklich ausschließlich aufgrund seiner Leichtgläubigkeit und Machtposition ausnutzen, jedoch nicht, dass er zwingend böse Absichten Vrevel selbst gegenüber hat. Dies steht im klaren Kontrast zu vorangegangenen Listen (vgl. Fuchs und Meise (Reinhart Fuchs)), bei denen von Beginn an klar kommuniziert wurde, dass Reinharts Gegenspieler Leid davontragen würden.

In Folge Reinharts Täuschung und dem unverdienten Vertrauen welches Vrevel ihm entgegenbringt findet in der Episode ein Rollenverschiebung statt, durch welche Vrevel seine Machtposition verliert und Reinhart in die Rolle des Richters und Vollstreckers schlüpft. (vgl. [Ruh 1960:27] ). Somit besiegelt Vrevel durch seine Leichtgläubigkeit und Verzweiflung über seine Krankheit nicht nur sein eigenes, sondern auch das Schicksal aller Tiere, die nun Reinharts List zum opfern fallen. Somit ist die Charakterschwäche einer Figur Auslöser für eine „kollektive Katastrophe“ [Neudeck 2016: 23] in Folge derer zahlreiche Tiere und sogar Vrevel selbst ihr Leben verlieren. Dies kann jedoch nicht nur als tragische Einzelschicksale gedeutet werden. Durch den Tod des Königs und anderer hoch-gestellter Tiere am Hof ist die gesamte monarchische Gesellschaft in Gefahr: „[Reinhart] zerstört auch nachhaltig die politische Ordnung in der Tiergesellschaft, indem er am Ende sogar selbst Hand anlegt und ihre monarchische Spitze beseitigt.“ [Neudeck 2016: 23] . Vrevel, als König stellvertretend für Recht und Ordnung im Tier-Königreich besiegelte durch seine Entscheidung Reinhart zu Vertrauen seinen eigenen Tod und somit auch das Ende der Tiergesellschaft wie sie bis dato bestand.


„Denn unter der Tiermaske wird hier erfolgreiches politisches Handeln im feudalen Herrschaftsgefüge vorgeführt, genauer ein auf den König gerichtetes Handeln, das im Zeichen der Gewalt steht. Dieses Gewalthandeln ist aber nicht nur prekär, blickt man – über den Wolf hinaus- auf die Opfer und Beteiligten, sondern es ist auch prekär und zugleich symptomatisch, wenn dadurch die soziale Ordnung und ihre monarchische Spitze hinterfragt wird.“ [Neudeck 2016:11]

Opfer oder Täter?

Der königliche Löwe Vrevel ist ein zwiegespaltener Charakter, der, ähnlich wie Reinhart, sowohl Opfer- als auch Täterepisoden durchlebt. In seinem ersten Auftritt im Text wird er ganz klar als Täter dargestellt. Der Angriff des Ameisenkönigreichs trotz eines vereinbarten Landfriedens (vgl. V 1247 ff.) und in besonderem Maße die Reaktion des Königs auf die Weigerung des Ameisenvolkes sich ihm zu unterwerfen, die Zerstörung ihrer Festung und die Ermordung vieler Tiere, zeichnen das Bild eines machtsüchtigen und rücksichtslosen Herrschers. Seine körperliche Stärke und Überlegenheit dienen ihm als vorrangiges Mittel zur Machterhaltung und -gewinnung. Die darauffolgende Szene in welcher der König der Ameisen sich an Vrevel für seine Untaten rächen will und dafür in dessen Kopf krabbelt und ihm unerträgliche Schmerzen bereitet, wirkt wie eine angebrachte Reaktion und nachvollziehbare Strafe für die vorhergehenden Verbrechen.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
mit kraft er im in daz ore spranc. kraftvoll sprang er ihm in das Ohr.
dem kvnege daz zv schaden wart; Dem König sollte das sehr schaden;
do gesach iz Reinhart, Dies sah Reinhart,
der was verborgen da bi. der unweit im verborgenen lag.
si iehent, daz er niht wise si, Zu Recht sagt man, dass derjenige nicht weise ist,
der sinen vient versmahen wil. der seinen Feind unterschätzt.
der lewe gewan do kvmmers vil. Dem Löwen brachte das viel Kummer.
zv dem hirne fvr er vf die richte, Denn er drang in sein Gehirn ein,

Doch nicht nur der Racheakt an sich, sondern vor allem auch, dass Reinhart diese Szene beobachtet spielt eine Schlüsselrolle im weiteren Schicksal Vrevels‘, welcher nach seiner anfänglichen Untat und dem vermeintlichen Beweis von Stärke zunehmend eine Opferrolle einnimmt und kontinuierlich mehr und mehr Schwächen offenbart. Die durch den Ameisenkönig in seinem Kopf ausgelösten Schmerzen deutet Vrevel als göttliche Strafe dafür, dass er nicht Gericht gehalten hat. Daraufhin veranlasst er einen Hoftag und läutet somit eine neue umfangreiche Episode des „Reinhart Fuchs“ ein. In diesem Hoftag hört der König die Klagen der Opfer Reinharts an und nach der Anhörung Isengrins und seines Fürsprechers Brun wird Reinhart durch das Urteil des Hirsches Randolt zum Tode verurteilt. Bereits hier wird deutlich, dass Vrevel stark von seiner Gefolgschaft abhängig ist. Er fällt das Urteil über Reinharts Strafmaß nicht selbst, sondern gibt diese Aufgabe an einen anderen ab. Gleichzeitig hinterfragt diese Handlung aber auch die vorhergehende Darstellung Vrevels als rücksichtslosen und machtbesessenen Herrscher, da die Übertragung dieser Entscheidung auf einen anderen eine Form von Gewaltenteilung und der Existenz anderer Tiere mit Einfluss im Königreich andeutet.

„Die letzte Untat gilt Vrevel selbst, und wenn sie jemand verdient hat, so er.“ [Ruh 1960: 26]
„[…] an dessen Ende – nach dem gewaltsamen Tod des kinderlosen Herrschers - das feudale Herrschaftsgefüge zerfällt.“ [Neudeck 2016:21]
„Doch wenn die Sprache auf Sündenböcke und Opfer kommt, zeigt dies, dass Gewalt zudem ambivalent ist – konstruktiv und destruktiv in einem.“ [Neudeck 2016:10]

Der Löwe als Symbol im Mittelalter

In den mittelalterlichen Bestiarien, Tierdichtungen, die angebliche Eigenschaften von Tieren mit christlicher Heilslehre verbinden und Weiterführungen des Physiologus waren, wurden dem Löwen ganz bestimmte, Christus-ähnliche Eigenschaften zugeordnet. So wird ihm beispielsweise nachgesagt, mit offenen Augen zu schlafen, wie auch Christus, dessen Herz jedoch auch im Schlaf immer offen sei. Auch nachdem er am Kreuz in den ewigen ‚Schlaf‘ fiel, wacht er noch über die Menschheit. Des Weiteren wird einem Löwenvater nachgesagt, er könnte totgeborene Löwenkinder am dritten Tag nach deren Tod durch ein Brüllen wiedererwecken - eine weitere Parallele zur Geschichte Christi. In diesen Tierdichtungen wird der Löwe außerdem oftmals als barmherzig und gütig beschrieben, von ruhiger Natur und Unschuldigen gegenüber milde. „Besonders diese Natur des Löwen entwickelte sich im späteren Verlauf des Mittelalters zu einer der vorbildlichsten Herrschertugenden.“ [Nunez 2016] Daraus folgend ist die Darstellung eines Herrschers als Löwen bzw. die Implikation, dass ein Löwe der geborene Herrscher ist, wie sie auch im Reinhart Fuchs angenommen wird, sowohl Heilsgeschichtlich als auch moralisch gestützt. Neben der christlich-positiven Deutung des Löwen bestand jedoch auch eine negative Konnotation: „Neben dem Drachen stand er oft für Laster, für das Bedrohen des Sünders und die Mächte des Bösen. Er war also sowohl der Christuslöwe als auch der teuflische Löwe, und beide hatten eine herrscherliche Stellung: der eine über die himmlischen Mächte und die Schöpfung und der andere über die Dämonen und die wiedergöttliche Welt.“ [Nunez 2016]

Im Reinhart Fuchs werden beide Seiten der Löwensymbolik durch die Figur des Vrevel veranschaulicht. Im ersten Auftritt zeigt er sich als brutaler und rücksichtsloser Herrscher, der aus reiner Machtgier das Ameisenvolk angreift; durch die Einberufung des Hoftages als Reaktion auf seine Schmerzen, die er als göttliche Strafe empfindet, zeigt er sich jedoch als gläubiger und demütiger Christ, der seinem Herrn dienen will. Während des tatsächlichen Hoftages entsteht zunächst der Eindruck, er sei an einer gerechten und fairen Rechtsprechung interessiert, als er nicht nur die Opfer Reinharts ausführlich über dessen Verbrechen berichten lässt, sondern auch (nach Empfehlung seiner Berater) ebendiesen mehrmals vorlädt bevor ein Urteil gefällt wird. Er erfüllt somit zunächst augenscheinlich die Herrschertugenden, die einem Löwen laut mittelalterlicher Tiersymbolik zugeschrieben werden.

Dies ändert sich jedoch, als Vrvel entscheidet einen Teil der Mitglieder seines Hoftages zu opfern, um sich selbst von seiner Krankheit zu heilen. Hier verkehrt sich die so oft gezogene Parallele zwischen Löwen und Christus ins Gegenteil – Vrevel kann die Entscheidung treffen, seine eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, sich selbst zu opfern, um andere Tiere zu retten. Er verfolgt jedoch egoistische Ziele und statt sich selbst, wie Christus sich Kreuz für die menschlichen Sünden, für das Wohlergehen der Anderen zu opfern, beschließt er stattdessen das Leben unschuldiger Tiere, die eigentlich unter seinem Schutz stehen sollten, für sein eigenes Wohl hinzugeben. Auf diese Weise bricht der Reinhart Fuchs mit der üblicheren, positiveren Konnotation des Löwen und zeigt diesen in der Figur eines brutalen und egoistischen Herrschers, welcher nicht nur die ihm zugeschriebenen Tugenden nicht erfüllen kann, sondern diese auch verrät.

Literatur

<HarvardReferences />

  • [*Ruh 1980]Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33

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  • [*Neudeck 2016]Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016.

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  • [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.

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  • [*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96

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  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S. 73-98

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  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54

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  • [*Kolb 1983] Kolb, Herbert: Nobel und Vrevel. Die Figur des Königs in der Reinhart-Fuchs-Epik, in: Virtus et fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag, hg. von Joseph Strelka und Jörg Jungmayr, Bern 1983, S. 328-350.

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  • [*Nunez 2016] Nunez, Luisina: Die Entwicklung des Löwen als okzidentales Herrschersymbol im Früh- und Hochmittelalter, München 2016, GRIN Verlag, https://www.grin.com/document/466004
Opfer Täter
Befall durch Ameisenkönig (Racheakt) Angriff auf Ameisenvolk
Beeinföussung durch Kamel, Elefant und Krimel Herrschaftsanspruch trotz Landfriedens
Beeinflussung und Täuschung durch Reinhart ordnet Ermordung seiner Gefolgsleute an
Ermordung durch Reinhart nimmt Leid und Tod anderer im Tausch gegen eigene Gesundheit in Kauf
  1. Alle Versangaben beziehen sich auf Textausgabe ...