Kleidung bei Neidhart

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Mittelalterliche Literatur ist voll von Kleiderbeschreibungen, es gibt sie in Hülle und Fülle. In schillernden Variationen bieten sie dem Leser einen wahren Sinnesrausch, sie zelebrieren ein Schwelgen im Meer der Stoffe, Muster und Farben. Die literarisch inszenierte Kleidung bespielt eine erstaunliche Bandbreite: Vom zerschlissenen Leibtuch des Leprösen, dem ungefärbten raukratzigen Überwurf des Märtyrers, bis hin zum unermesslichen Reichtum von Adels- und Herrschergeschlechtern, goldbestickt und edelsteinbeladen, klerikale Ornate, royale Roben, unglaublich kostspielig, teils sogar exotisierter-orientalischer Provenienz (z.B. arabisch - libysch, marokkanisch usw.)

Auch Neidhart bedient sich reichlich des Stilmittels der Kleiderbeschreibung, reiht sich also auf den ersten Blick nahtlos in zeitgenössische Traditions- und Autorengenealogien ein. Auf den zweiten Blick wird jedoch sichtbar, dass Neidhart seine Kleiderbeschreibung nicht als bloße Ausschmückung der Szenerie versteht, sondern eine eigenwillige literarische Funktionalisierung derselben entwickelt.


Intertextueller Bezugsrahmen

Besonders bekannte Textstellen für ausschweifende Kleiderbeschreibungen sind wohl die sogenannten ‚Schneiderstrophen‘ im Nibelungenlied – sie seien hier in Auszügen als Ersteinstieg (und verbildlichender Lesegenuss) offeriert.

Hintergrund zur Szene: Gunther hat sich entschlossen, Prünhilt zu umwerben. Doch bevor er aufbricht, erkundigt er sich vorausschauend nach der Kleiderordnung des fremden Hofes – er will sich vor seiner künftigen Braut nicht blamieren. Sîvrit gibt kurzerhand Auskunft.

Strophe 343, Verse 1-4 Übersetzung [Brackert 1970]
»Diu mære wesse ich gerne«,   sprach der künec dô, Da sagte der König: »Bevor wir wegfahren, hätte ich noch gerne gewusst
»ê daz wir hinnen füeren   (des wære ich harte vrô), und würde mich über eine Auskunft sehr freuen,
waz wir kleider solden   vor Prünhilde tragen, welche Art Kleider wir denn wohl, um richtig angezogen zu sein,
diu uns dâ wol gezæmen:   daz sult ir Gunthere sagen.« am Hofe Brünhilds tragen sollten. Bitte, sagt es mir doch!«
Strophe 344, Verse 1-4
»Wât die aller besten   die ie man bevant, »Die schönsten Kleider, die man jemals gesehen hat,
die treit man zallen zîten   in Prünhilde lant. die pflegt man im Lande Brünhilds zu tragen.
des sulen wir rîchiu kleider   vor der frouwen tragen, Damit man nun nicht schlecht über uns spricht, wenn man später davon erzählt,
daz wirs iht haben schande,   sô man diu mære hœre sagen.« ist es unsere Pflicht, vor der Herrin prächtige Kleider zu tragen.«

Um die Reisevorbereitungen abzuschließen müssen also für sämtliche Reisebegleiter neue Kleider genäht werden! Gunther bittet seine Schwester Kriemhilt dies mit ihren Mädchen zu tun.

Strophe 361, Verse 1-4
Mit guotem urloube   die herren schieden dan. Nach diesen Worten nahmen die beiden Fürsten freundlichen Abschied und schritten von dannen.
dô hiez ir juncfrouwen   drîzec meide gân Da gab die Prinzessin Kriemhild Anweisung, dass dreißig Mädchen aus dem Kreis ihrer Hoffräulein,
ûz ir kemenâten   Kriemhilt diu künegin, die für eine solche Arbeit eine besondere Begabung hatten,
die zuo solhem werke   heten grœlîchen sin. aus ihrer Kemenate herauskommen sollten.
Strophe 362, Verse 1-4
Die árabîschen sîden   wîz alsô der snê Arabische Seide, die weiß war wie der Schnee
unt von Zázamanc der guoten   grüene alsam der klê, und feine Seide aus Zazamanc, die grün war wie der Klee,
dar in sit leiten steine;   des wurden guotiu kleit. besetzten sie mit Edelsteinen. So wurden es treffliche Kleider.
selbe sneit si Kriemhilt,   diu vil hêrlîche meit. Kriemhild selbst, die schöne Jungfrau, hatte sie zugeschnitten.
Strophe 363, Verse 1-4
Von vremder vische hiuten   bezóc wól getân Das schöne Unterfutter aus fremdländischer Fischhaut
ze sehene vremden liuten,   swaz man der gewan, bot den Leuten einen Anblick, der ihnen bis dahin unbekannt war. Was immer man davon zusammenbringen konnte,
die dahten sie mit sîden,   sô si solden tragen. das überzog man, so wie es die Helden zu tragen wünschten, mit Seide.
nu hœret michel wunder   von der liehten wæte sagen! Nun hört wunderbare Dinge von den hellen Kleidern erzählen!
Strophe 364, Verse 1-4
Von Márroch ûz dem lande   und ouch von Lybîân Allerschönste Seide aus Marokko und auch aus Libyen
die aller besten sîden   die ie mêr gewan hatten sie zu ihrer Verfügung,
deheines küneges künne,   der heten si genuoc. mehr als jemals irgendein anderes Königsgeschlecht besessen hatte.
wol lie daz schînen Kriemhilt   daz si in holden willen truoc. Deutlich zeigte Kriemhild, dass sie ihnen sehr gewogen war.
Strophe 365, Verse 1-4
Sît der hôhen verte   heten nu gegert, Da sie sich das Ziel ihrer Reise so hoch gesteckt hatten,
hármíne vederen   die dûhten si únwért. schien ihnen Pelzwerk aus Hermelin nicht kostbar genug.
pféllel daróbe lâgen   swarz alsam ein kol, So kamen noch wertvollere Stoffe aus kohlrabenschwarzem Brokat darüber:
daz noch snellen helden   stüende in hôchgezîten wol. bei festlichen Gelegenheiten würde dies alles auch heute noch tapfere Helden trefflich kleiden.
Strophe 366, Verse 1-4
Ûz árâbîschem golde   vil gesteines schein. Unzählige Edelsteine flimmerten auf arabischem Gold.
der frouwen unmuoze   diu newas niht klein: Emsig waren die Frauen an der Arbeit,
inre siben wochen   bereiten si diu kleit. und innerhalb von sieben Wochen waren die Kleider bereit.
dô was ouch ir gewæfen   den guoten réckén bereit. Da war auch die Bewaffnung für trefflichen Recken fertig.

Jürgen Breuer attestiert eine erstaunliche Auffälligkeit in zurückliegender Forschung: In vielzähligen Arbeiten habe sich die Germanistik auf mythisch aufgeladene Figuren und die mit ihnen verbundenen Objekte wie Tarnkappe, Ring oder Gürtel gestürzt, die vestimentäre Qualität per se jedoch völlig außer Acht lassend. Die Schneiderstrophen waren hinreichend bekannt, wurden jedoch sträflich missachtet. [1] Breuer stellt deutlich heraus, dass hier eine misstönende Diskrepanz zwischen Autor- und Forscherinteresse klafft. Beiläufiges Übersehen oder willentliche Ignoranz? In jedem Fall läuft die schmerzliche Lücke der eigentlichen Autorintention zutiefst zuwider. Die Autorinstanz setzt eine Vielzahl an Kleiderbeschreibungen, „die nach Ansicht bedeutender Germanisten den Ablauf des Geschehens so sehr störend unterbrechen, dass man sie sogar eliminieren könnte oder sollte.“ [Breuer] Also einfach weglassen? Nein! – vielmehr muss der Frage nachgespürt werden, warum Kleidung und „ihre Würdigung im Lied einen sehr breiten Raum einnimmt.“ [Breuer] Denn die Wahl des Gewandes scheint „für den Lieddichter und sein adeliges Publikum bei Hof von höchstem Interesse.“ [Breuer]

  1. Es gibt (soweit bekannt) nur einen einzigen publizierten Forschungsartikel, der sich an einer konzentrierten Deutung der Schneiderstrophen versucht – Wis, Marjatta: Zu den ›Schneiderstrophen‹ des Nibelungenliedes: ein Deutungsversuch, in: Neuphilologische Mitteilungen Bd. 84 (1983) S. 251-260.


Kleidung: Definition und Abgrenzung

Definition

Der Begriff ‚Kleidung‘ bezeichnet im strengen bzw. engeren Sinn ausschließlich Objekte, die der direkten Bedeckung des Körpers zweckdienlich sind. Die Bedeckung des Körpers umfasst auch die Bedeckung der Füße (z.B. Schuhe), der Hände (z.B. Handschuhe) und des Kopfes (z.B Hüte).

Kleidung als Bedeckung des Körpers erfüllt unterschiedliche Funktionen: Primär dient sie dem Schutz des Körpers vor verschiedenen Umwelteinflüssen, sekundär erfüllt sie aber auch die Einhaltung kulturell bedingter Normen (sog. ‚Schamtabus‘), die das Bedecken bestimmter Körperregionen vorschreiben. Tertiär fungiert Kleidung signifikant identitätsstiftend. [1]

In ihrer Primärfunktion als Schutz des Körpers stellt Kleidung lediglich eine Option, keine Notwendigkeit dar: Denn der menschliche Körper besitzt mit der Haut bereits eine natürliche Schutzbarriere, die mit eigenen Regulationsprozessen den verschiedenen Umwelteinflüssen entgegenwirkt. Der Mensch braucht nicht zwingend Kleidung, sie ist nicht überlebensnotwendig. Kleidung ergänzt die Haut um weitere Schutzschichten, die erhebliche Vorteile generieren können. Dank spezialisierter Kleidung konnte sich der Mensch in Klimazonen vorwagen, die ihm ohne Kleidung nur schwer bis unmöglich Lebensraum geboten hätten. Dank Kleidung trotzt der menschliche Körper plötzlich extremsten Witterungsverhältnissen – starken Schwankungen zwischen Tag- und Nachttemperatur, Hitze und Kälte, Wind, Wasser von oben oder unten und in sämtlichen Aggregatszuständen (Nebel, Regen, Eis, Schnee usw.). Zudem ermöglichte Kleidung auch die Ausweitung potentiell gefährlicher Situationen, in die sich der Mensch begeben konnte: Verletzungen bei Jagd und Kampf wurden erheblich minimiert.

  1. Martin Dinges spricht zunächst von einer anders zusammengesetzten Trias der Funktionen und zwar: „Schutz, Scham und Schmuck“ [Dinges 1992: S. 49] . Letzteren Punkt führt er in einer konsequenten Argumentationskette fort, die ebenfalls bei Identität endet: Kleidung als Schmuck sei nicht zweckfrei, sondern ziele auf Auszeichnung bzw. „Distinktion des Geschmückten“ ab. [Dinges 1992: S. 49] Ziel sei die soziale Abgrenzung von anderen durch Kleidung. Im Abspaltungsprozess der Distinktion zeige sich das existentiell-menschliche „Bedürfnis nach Identität“[Dinges 1992: S. 50].

Angrenzung bzw. Abgrenzung

Kleidung im weiteren Sinn ist eng verbunden mit den Kategorien Schmuck, Rüstung und Modeaccessoires.

  1. Schmuck umfasst alle schmückende d.h. zierende Objekte, die zwar direkt am Körper getragen werden, aber nicht primär der Bedeckung des Körpers dienen. Schmuck besteht zudem meist aus (Edel)Metall, (Edel)Steinen, Mineralien, Perlen, Perlmutt oder Elfenbein.
  2. Rüstung entspricht zunächst dem Hauptkriterium von Kleidung. Sie dient primär der schützenden Bedeckung des Körpers, unterscheidet sich allerdings aber auch in zwei wesentlichen Punkten davon: Erstens, ihr Einsatzbereich ist ungewöhnlich verengt (Extremspezialisierung) und zweitens, fällt die Materialwahl meist auf Stoffe metallurgischen Ursprungs.
  3. Modeaccessoires werden ebenso wie Schmuck in schmückend-zierender Funktion direkt am Körper getragen. Der Unterschied: Accessoires bestehen aus denselben Materialien wie Kleidung.

Der folgende Artikel schließt daher explizit die Kategorien Schmuck und Rüstung aus, sie werden in gesonderten Artikeln behandelt – siehe auch Schmuck bei Neidhart und Rüstung (und Waffen) bei Neidhart


Kulturelle Bedeutung von Kleidung

Kleidung fungiert als ordnungsstiftendes Instrumentarium im Sozialgefüge – und das nicht erst seit dem Mittelalter. ‚Kleidung ist (soziale) Ordnung‘, die vereinfachte Grundregel hat sich gewissermaßen als eine von vielen universalanthropologischen Prinzipien etabliert. [Dinges 1992: S. 49] Daraus lässt sich jedoch nicht der Trugschluss ableiten, Kleiderordnung funktioniere immer und überall gleich: Selbstfindung, Gestaltwerdung, Abspaltung, Ausformung, Etablierung durch rekursive Reproduktion sind bei den zahllosen Ordnungen quer durch Raum und Zeit fragil-sensible, komplexe und eigendynamische Prozesse. Jede Ordnung hat ihre eigene Genese. Jede Ordnung ist kulturspezifisch und historisch gewachsen. Der folgende Artikel beschäftigt sich daher ausschließlich mit Kleiderordnungen des deutschsprachigen Mittelalters – eine ‚Einschränkung‘, die mehr einschließt als ausschließt. Es ergibt sich von selbst, dass bereits in dieser vermeintlich konsistenten raumzeitlichen Größe unweigerlich Brüche, Störmomente, ja sogar Diskontinuitäten verhandelt werden müssen.

Was bedeutet ‚ordnungsstiftend‘? Wer ordnet? Was wird geordnet? Es zeigt sich eine nur schwer durchdringbare Polyvalenz, es liegt ein Regulationsmechanimus vor, der selbst reguliert wird. Inneres ordnet Äußeres, Äußeres ordnet Inneres. Jan Keupp stellt zudem die (individual)soziologische Komponente deutlich heraus: Kleidung changiert in vielerlei Facetten zwischen Eingrenzung und Entgrenzung, Universalisierung (im Sinne von Vereinheitlichung oder Gleichmachung) und Individualisierung, Stabilisierung und Destabilisierung, Integration und Rebellion. Keupp attestiert Kleidung eine „scheinbar paradoxe Doppelfunktion von Einordnung und Abhebung“ [Keupp 2014: S. 11], sie bewege sich fließend im „Spannungsfeld von sozialer Egalisierung und individueller Distinktion“ [Keupp 2014: S. 11]. Kleiderordnung werde vom Individuum einerseits als zwanghaft „starre[s] Korsett“ [Keupp 2014: S. 11] empfunden, anderseits als Kompass sozialer Konvenienz, der „eine sichere Verortung im Koordinatensystem legitimer Lebensordnung gestatte[t].“ [Keupp 2014: S. 11]

Im Folgenden soll nicht die Materialität mittelalterlicher Bekleidungspraxis in den Fokus gerückt werden, sondern deren literarische Inszenierung. Es geht daher weniger um Herstellungsverfahren oder spezifische Schnittmuster, sondern, um es mit den Worten Keupps auszudrücken, um die sozialradikale Frage ‚Was ziehe ich an?‘ [Keupp 2014: S. IX]. In ihr schwingt bereits das volle Spektrum weiterführender Überlegungen mit: Was darf ich anziehen? Wo ziehe ich es an? Für wen? Was will ich damit bezwecken?

Eine ausführliche Darstellung der realhistorischen Kleiderordnungen übersteigt den Umfang dieses Artikels. Bei Interesse seien folgende Schlagworte zur weiterführenden Eigenrecherche hilfreich genannt:

Gebiete des HRR (Heiliges Römisches Reich deutscher Nation)

  • Aufwandgesetze, Luxusgesetze (u.a. auch als Luxusordnungen bezeichnet)
    • im Übergang von Antike zu frühem Mittelalter erhaltenes Relikt aus griechisch-römischer Rechtstradition [Kuryłowicz 1985]
    • bereits unter Karl dem Großen wurden eigene Gesetzentwürfe erlassen
    • „Aufwandgesetze, Luxusgesetze sollen Individuen oder Ständen die Gränze vorschreiben, wie weit sie in ihrem Auffwande für Kleidung, häusliche Einrichtung, Gastmahle, Familienfeier u.s.w. gehen dürfen; im Alterthum und durch das Mittelalter bis in die neue Zeit herab durchgängig erlassen und gehandhabt, sind sie von der neuen Gesetzgebung fast allgemein beseitigt worden.“ [Herders Conversations-Lexikon 1854]
  • Kleiderordnungen
    • vor dem 13. Jahrhundert: viele partielle Luxusordnungen (eine Art unübersichtlicher ‚Flickenteppich‘) [Dinges 1992: S. 58]
    • 13. bis 15. Jahrhundert: anwachsende Komplexität und Vernetzung von Luxusordnungen [Dinges 1992: S. 58]
    • ab dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts: „umfassende[r] Versuch, das Kleidungsverhalten der gesamten ständisch gegliederten Gesellschaft zu beschreiben und normativ zu regeln“ [Dinges 1992: S. 58] – Ergebnis: holistisch-angelegte, gesamtgesellschaftlich greifende Kleiderordnungen
    • Die spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen „Kleiderordnungen sind insofern u.a. der historisch bemerkenswerte Versuch, auf die immer dynamischer werdenden sozialen Umschichtungen mit einem Normensystem zu reagieren, das ähnlich wie Adelsnachweise oder Zunftabschließung soziale Mobilität in einer Gesellschaft mit knappen Ressourcen erschweren soll.“ [Dinges 1992: S. 58]
  • (Reichs)Polizeiordnungen
  • Sitten- und Kleidermandate

England

  • Sumptuary laws (von lat. sumptuāriae lēgēs = den Aufwand betreffende Gesetze)

Kleidung und Identität

Dreh- und Angelpunkt des hochmittelalterlichen Kleiderverständnisses sind Adel und Hof: Der Adel trägt, ist also Präsentator. Der Hof ist der Ort des Geschehens, die Schaufläche der Inszenierung. Im Adel verschmelzen Person, Kleidung und Status zu einer untrennbaren Einheit. In der mittelalterlichen Literatur ist Kleidung für den adeligen Helden weit „mehr als nur willkommener Schutz vor Witterung und unerwünschten Blicken“ [Keupp 2014: S. 26] – Kleidung ist „substantieller Bestandteil seiner adeligen Existenz.“ [Keupp 2014: S. 26] Das Innere wird über das Äußere gespiegelt: Der Kern, das soziale Selbst definiert sich „in hohem Maße über die Außensicht der anderen.“ [Keupp 2014: S. 26] Der adlige Held ist nicht nur mit dem Körper, sondern auch mit seiner Kleidung dem Kalokagathie-Ideal absolut verpflichtet. Kleidung wird zur „Visualisierung seiner adligen Qualität“ [Keupp 2014: S. 26], im Umkehrschluss können in deduktiver Manier Rückschlüsse von äußerlich sichtbarer Kleidung auf innere Zustände und Vorgänge gezogen werden. Änderungen der Kleidung markieren Identitätskrisen oder Selbstfindungsprozesse (vgl. der nackte Iwein in der Wildnis). Mit der Wiederherstellung von Kleidung erfolgt auch die Rehabilitation von Person und Identität.

Auch auf niedrigerer Ordnungsstufe setzt sich dieses Strukturprinzip fort: In der stratifizierten Gesellschaft des Mittelalters kongruiert Kleidung inneres Selbstbild mit außenwirkmächtiger Repräsentation – zwei Ideenkonstrukte, die in symbiotisch-wechselseitiger Beziehung zu einander stehen und durch Kleidung erstmals physisch sichtbar werden. Das Kleid bzw. Gewand etabliert sich „als notwendiges Standeszeichen“ [Keupp 2014: S.39]: Es vermittelt „soziales Orientierungswissen“ [Dinges 1992: S. 54], es fungiert als „zuverlässiger Indikator im komplexen Zeichensystem sozialer wie moralischer Ordnung“ [Keupp 2014: S. 41]. Die Vorstellung anhand „Farbe, Schnitt und Verarbeitung der Kleidung auf die Zugehörigkeit zu Geschlecht, Alter, Gruppe und Stand schließen zu können“ [Keupp 2014: S. 41] sei im Mittelalter, so Keupp, eine zentrale gewesen und habe daher auch „breiten Niederschlag“ [Keupp 2014: S. 41] in zahlreichen Texten (nicht nur literarischen!) gefunden. So entwickelten sich nicht nur Kleiderordnungen im höfischen Raum, sondern für sämtliche Standesgruppen: Jeder Mann, jede Frau, jeder Bauer, jeder Handwerker, Kleriker oder auch der spätere Stadtbürger kannte genaue Vorschriften, geschriebene wie ungeschriebene, wie er sich zu kleiden hatte. Die jeweiligen Regeln waren fester Bestandteil des kollektiven Gedächtnisses.

Die mittelalterliche Literatur kennt jedoch auch zahlreiche Beispiele der irreführenden Verkleidung – Keupp wirft grundsätzlich die Frage auf: Können wir wirklich von einer unverbrüchlichen Gleichsetzung von Kleidung und Identität ausgehen, oder müssen wir dem mittelalterlichen Rezipienten eine weitaus differenziertere, spielerische Auffassung von Körper und Hülle zugestehen? [Keupp 2014: S. 35] Gerade im Fastnachtsspiel kommt es zu vestimentären Grenzüberschreitungen, die ridikülisiert werden, die gerade aus dieser Markierung ihr Unterhaltungspotential schöpfen, die eindeutig darauf angelegt sind, von ihrem Publikum entlarvt, regelrecht lustvoll demaskiert zu werden. Eine „vollkommene Kongruenz von Kleidung, Denken und Handeln“ [Keupp 2014: S. 36] ist, so Keupp, aus diesem karnevalesken Treiben eben nicht abzulesen: Das Spiel mit Kleidung erschließt völlig neue Handlungsfelder bzw. Spielräume, durch das „Kostüm und den damit verbundenen gewandelten Interaktionsrahmen“ [Keupp 2014: S. 36] werden dem Kostümierten überraschend vielseitige „Handlungsrepertoires jenseits seiner ständischen Ehrenhaftigkeit eröffnet“ [Keupp 2014: S. 36]. Dennoch vermag es die Maskerade nicht eine neue hochfunktionale Identität zu erschaffen. Sie bleibt ein Spiel der durchdachten Möglichkeiten, deren Potential noch auf der Bühne ausgeschöpft werden muss.


Semantische Bedeutung von Kleidung

Semantik bedeutet so viel wie die ‚Lehre von Wortbedeutungen‘. Der Begriff ‚Semantik‘ wurde im 19. Jahrhundert aus dem Französischen ins Deutsche entlehnt. Als Begründer der Semantik gilt der französische Philologe Michel Bréal, der den sprachwissenschaftlichen Terminus sémantique entscheidend prägte, abgeleitet vom Adjektiv griech. sēmantikós (σημαντικός) ‚zu einem Zeichen gehörig, bezeichnend, deutlich‘; vom Verb griech. sēmaínein (σημαίνειν) ‚durch ein Zeichen kenntlich machen, bezeichnen‘, sowie vom Subjekt griech. sḗma (σῆμα) ‚Zeichen, Schriftzeichen‘. [DWDS – Lemma ‚Semantik‘]

Die Semantik beschäftigt sich folglich mit der Korrelation zwischen Zeichen und Bezeichnetem. Auch Kleidung fungiert als Zeichen, sie verweist stellvertretend auf etwas Bezeichnetes.

Verweischarakter: die ‚Lesbarkeit der Welt‘

Keupp stellt fest, dass der illiterate Mensch des Mittelalters ein umtriebiges Bedürfnis gehabt habe, seine Welt mit einer eigenen Sprache zu versehen, die gleichsam gelesen und verstanden werden konnte. Eine Welt der Zeichen, die zuverlässig Bezeichnetes ersetzte. Voraussetzung war der konventionalisierte Gebrauch der Zeichen, erst dadurch wurde universale Lesbarkeit möglich. Keupp postuliert also ein gesamtgesellschaftlich-geteiltes Grundbedürfnis nach einer Welt der sichtbaren Zeichen, einer Welt der Äußerlichkeit. Keupp selbst bezeichnet dieses Bedürfnis als „explizite[s] Verlangen nach Visualisierung gesellschaftlicher Wertekategorien“ [Keupp 2014: S. 41] , blickt dabei aber zurück auf Martin Dinges, der bereits zwei Jahrzehnte zuvor von einem Wunsch nach der ‚Lesbarkeit der Welt‘ [Dinges 1993] spricht. Dinges wiederum bedient sich bei dem deutschen Philosophen Hans Blumenberg, der das grandiose Wortspiel mit seinem 1981 erstveröffentlichten und gleichnamigen Werk ‚Die Lesbarkeit der Welt‘ ersinnt.

Nach allgemeinem Konsens innerhalb der Forschung ist die Welt des Mittelalters maßgeblich dem Prinzip einer ‚verpflichtenden Visualität‘ unterworfen. [Bauschke u.a. 2011] Horst Wenzel spricht von einer ‚Kultur der Sichtbarkeit‘ [Wenzel 2005], Jacques Le Goff von einer ‚Kultur der Gestik‘. Beiden gemein ist die Bedeutsamkeit des Köpers. Im Mittelalter wird durch und mit dem Körper gesprochen. [Wenzel 1988] Körperliche Zeichen wie Küsse, Blicke oder Berührungen der Hände haben regelgeleitete Bedeutungen. Je nach Kontext variiert diese Bedeutung. Ort, Zeit und personelle Besetzung des Geschehens nehmen deutlichen Einfluss auf die Interpretation körperlicher Zeichen. Besonderen Stellenwert nimmt der öffentliche Raum ein: Körperzeichen, die hier ausgetragen werden, gelten als besonders prekär, wer hier ein heimliches oder gar hinterhältiges Spiel der Bedeutungen beginnt, macht sich dem politischen Gegenüber schuldig. Ein falscher Gebrauch von Körperzeichen evoziert Brüche im sozialen Miteinander, der Körper des anderen kann nicht mehr richtig gelesen werden, es entstehen folgenreiche Missverständnisse.

Die lesbare Welt des Mittelalters ist eng verknüpft mit einer Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit der Dinge. Nur was äußerlich sichtbar wird, kann gelesen werden. Deshalb spielt Kleidung eine entscheidende Rolle bei der Lesbarkeit des Körpers. Im Regelfall wird der Körper von Kleidung bedeckt, in der mittelalterlichen Gesellschaft bleiben nur wenige Körperregionen unbedeckt und damit sichtbar. Der restliche Körper verschwindet unter mehreren Kleiderschichten. In diesem Augenblick übernimmt Kleidung die mitteilende Funktion des Körpers. Plötzlich muss mit und durch Kleidung gesprochen werden.

Nacktheit: Die Abwesenheit von Kleidung

Einen Sonderfall stellt die Abwesenheit von Kleidung bzw. die Nacktheit des Körpers dar. Stefan Bießenecker macht deutlich, dass ‚nackt‘ nicht gleich ‚nackt‘ ist. Es gibt graduelle Unterschiede des Nacktseins, die in jeder Kultur anders bewertet werden. Jede Kultur benennt unterschiedliche Körperregionen, die bedeckt werden müssen oder unbedeckt bleiben dürfen. Es gibt kein universal geteiltes Verständnis, ab wann ein Körper als hinreichend bekleidet oder anstößig nackt gilt. Nacktsein ist also kein natürlicher Zustand, sondern ein kulturelles Konstrukt.

In den Kulturwissenschaften galt Norbert Elias‘ 1939 veröffentlichtes Werk ‚Über den Prozess der Zivilisation‘ „lange Zeit als Grundlagenwerk“ [Bießenecker 2008: S. 9] . Elias postulierte, dass der vormoderne Mensch ein naiv-kindliches, unbefangenes und unvoreingenommenes Verhältnis zum eigenen Körper pflegte. Erst der Mensch der Moderne habe den körperfeindlichen Kampf zwischen und innerhalb der Geschlechter vorangetrieben. Bießenecker verweist in der Einleitung zum Sammelband ‚Und sie erkannten, dass sie nackt waren – Nacktheit im Mittelalter‘ auf den grundlegend veränderten Tenor, der nach Elias Einzug hielt. Zahlreiche Erkenntnisse, die besonders literaturwissenschaftlicher Aufarbeitung zu verdanken sind, zeigen, dass der mittelalterliche Mensch den Körper deutlich negativierte. Dies zeigt sich bereits in einer kleinen Auswahl an Begriffen, die der mittelalterlichen Semantik des Körpers entstammen: Scham etabliert sich als dysphemistische Bezeichnung des Genitalbereichs, Entkleidung wird zu Entblößung, Nacktsein zieht gleich mit Erniedrigung, Demütigung und Ehrverlust (siehe hierzu öffentliche ‚Entblößungsstrafen‘). Gerade im Bereich des Religiösen verkommt der Körper zum Inbild seelengefährdender Ruhelosigkeit: Nacktheit lief stets Gefahr, in Gefilde von „Verführung, Lust und Sündhaftigkeit“ [Bießenecker 2008: S. 11] abzugleiten. Körper mussten bedeckt werden – wo sie es nicht waren, wurden eindeutig Systembrüche markiert. [1]

  1. Dieser ‚Moment des Bruchs‘ wird in den verschiedenen Textgattungen auf erstaunlich unterschiedliche Weise funktionalisiert, zur weiterführenden Lektüre sei empfohlen: Und sie erkannten, dass sie nackt waren. Nacktheit im Mittelalter, Ergebnisse einer interdisziplinären Tagung des Zentrums für Mittelalterstudien der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, 3. & 4. November 2006, hg. von Stefan Bießenecker, Bamberg 2008 (Bamberger interdisziplinäre Mittelalterstudien 1).


Farbe

An dieser Stelle muss vorab eingeräumt werden, dass eine umfassende Aufarbeitung der Thematik ‚Farbe‘ mehrere Bände füllen würde. Basales Hintergrundwissen ist jedoch unumgänglich, möchte man verstehen, welchen Prestigecharakter Kleidung in besonders satt-reinen, kräftigen Farben genoss.

Farbstoffe, -pflanzen, -handel

Bei der Wahl des Farbstoffes war die Materialität des zu färbenden Objekts ausschlaggebend: Für Textilgewebe waren überwiegend Farbstoffe pflanzlichen Ursprungs in Gebrauch. Für die Buch- Tafel- und Wandmalerei, bei denen Untergründe wie Pergament, Papier, Holz, Lehm- oder Kalkputz für den Farbauftrag vorliegen, wurden hauptsächlich mineralische oder tierische Farbstoffe verwendet. [LexMA 'Farbe']

Folgende Tabelle gibt einen Überblick zu den wichtigsten Färbemitteln für Kleidung im Mittelalter - Gefärbt wurden unter anderem:

  • Textilgewebe (tierische Wolle, Leinen, Baumwolle, Seide etc.)
  • Leder
  • Pelze
Farbe Färbemittel Herkunft Erläuterung
Blau (Färber)Waid (botanisch: Isatis tinctoria L.) [LexMA 'Farbe'] Europa Eine in mitteleuropäischen Breiten kultivierbare Färberpflanze, die den sog. Farbstoff Indigo enthält. Sie ist bereits seit der Vorgeschichte in regem Gebrauch.

U.a. schreibt Caesar in seinem Werk ‚De bello Gallico‘: „Omnes vero se Britanni vitro inficiunt, quod caeruleum efficit colorem, atque hoc horridiores sunt in pugna aspectu“ (Liber 14, 2)
Alle Britannier benetzen/tränken/überziehen (bemalen? einreiben?) sich wirklich mit Waid, weil es eine blaue Färbung erzeugt, und dadurch bieten diese im Kampf einen noch schrecklicheren Anblick.

„Um den Indigofarbstoff zu gewinnen, wurden die frisch geernteten Waidblätter im Mittelalter zu einem Pflanzenbrei vermahlen und zu Bällen geformt. Beim Trocknen bildete sich durch Fermentation darin dann ein unbegrenzt haltbarer Farbstoff.“ [Biertümpfel u.a. 2013: S. 16]
Die trocknen Waidbällchen waren gut transport- und lagerfähig. Diese Handhabung ermöglichte eine räumliche und zeitliche Trennung zwischen Ort der Anpflanzung und eigentlichem Färbeprozess. Im nächsten Produktionsschritt wurde der pulverisierte Farbstoff unter Zugabe von Wasser, Urin und alkalischer Lauge (meist Pottasche) wieder aufgelöst. Die Brühe schwamm in großen Bottichen, die zu färbenden Textilien wurden mehrere Stunden bis Tage eingeweicht. Der enthaltene Urin verursachte eine alkoholproduzierende Gärung. Alkohol wird benötigt, um den Farbstoff Indoxyl, der im Naturprodukt in Form unbrauchbarer Derivate (Isatan A, Isatan B, Indican) vorliegt, aufzuspalten. Danach wurden die nassen, in diesem Zustand noch gelben Stoffe zum Trocknen an der Luft aufgehängt – durch Oxidation entstand rasch die erwünschte blaue Farbe. Abschließend musste der Stoff erst mit einer Essiglösung, dann mit reichlich frischem Wasser nachgespült werden. [Biertümpfel u.a. 2013: S. 16-18]

(Indigo)Blau Echter Indigostrauch (botanisch: Indigofera tinctoria L.) [LexMA 'Farbe'] Indien, China, Sumatra und Brasilien [Biertümpfel u.a. 2013: S. 10] Eine seit dem 15. Jh. aus dem Orient importierte Färberpflanze. [LexMA 'Farbe'] Der Indische Indigo färbt deutlich intensiver und farbechter als der europäische Färberwaid und war daher sehr begehrt.
Blau Färberknöterich (botanisch: Polygonum tinctorium Ait.)[Biertümpfel u.a. 2013: S. 10] Osteuropa, Asien (besonders Japan) xx
Rot (Färber)Krapp (botanisch: Rubia tinctorum) [LexMA 'Farbe'] Europa In Europa beheimatete Färberpflanze. Bereits seit den Römern bekannt.
Rot Saflor oder Färberdistel (botanisch: Carthamus tinctorius) [LexMA 'Farbe'] Europa xx
Rot Brasilholz (diverse Rothölzer) [LexMA 'Farbe'] Indien, Sumatra, Ceylon, Brasilien Brasilholz gehört zu den Rothölzern, die seit dem 13. Jahrhundert über italienische Händler aus den Anbaugebieten Indien, Sumatra und Ceylon importiert wurden. Im Italienischen war das Holz auch bekannt als it. verzino ‚Rotholz‘, der Namensbestandteil ‚brasil-‘ leitet sich ab von portugiesisch Adj. brasil ‚glutrot‘. Im Jahr 1500 wurde Brasilien vom portugiesischen Konquistador Pedro Alvares Cabral entdeckt, die Bezeichnung ‚Brasilholz‘ ging auf dort beheimatete Rothölzer, Fernambuk- und Bahiaholz, über. [LexMA 'Farbe']
Rot Kermes [LexMA 'Farbe'] Europa, Amerika unechtes Karmin = aus diversen Arten von heimisch-europäischen Schildläusen

echtes Karmin = Cochenilleschildlaus, Import-Laus aus den amerikanischen Kolonien - sehr begehrt, da höherer Farbstoffgehalt.

Rot Färberflechten (der Gattung Rocella) Europa U.a. zur Herstellung von ‚Lackmus‘ (pulvriger Farbstoff in einer Farbpalette von Blau über Violett zu Rot) tauglich.
Gelb Wau (botanisch: Reseda luteola) [LexMA 'Farbe'] Europa Auch bekannt als Färber-Resede, Gelb- oder Gilbkraut.
Gelb Saflor oder Färberdistel (botanisch: Carthamus tinctorius) [LexMA 'Farbe'] Europa In Mitteleuropa gedeihende Färberpflanze.
Gelb Safran (botanisch: Crocus sativus) [LexMA 'Farbe'] Europa, ursprünglich vermutlich Vorderer Orient Aus den sog. ‚Narben‘ der Blüte einer speziellen Krokusart gewonnen. Besonders für die Seidenfärberei geeignet. Auch heute noch eines der teuersten Gewürze der Welt.
Grün xx xx Überfärben blauer Stoffe mit Gelb:

1. Färbedurchlauf: Blaufärben mit Waid.
2. Färbedurchlauf: Überfärben mit Wau.
Ergebnis: Grün.
Für dunklere Grüntöne wurde noch Krapp beigemischt. [LexMA 'Wau']

Braun Eichenrinde [LexMA 'Farbe'] Europa xx
Schwarz xx xx Eine der schwierigsten zu färbenden Farben. Benötigt mehrfaches Überfärben in unterschiedlichen Farben, daher sehr teuer und wertvoll.
Violett Färberflechten (der Gattung Rocella) [LexMA 'Farbe'] Europa Mittels aus der Färberflechte gewonnenem 'Lackmus'.
Purpur verschiedene Purpurschnecken (u.a. Haustellum brandaris und Haustellum trunculus) [LexMA 'Farbe'] hauptsächlich Mittelmeerraum, Nordatlantik Sehr teuer. Das Sekret der unterschiedlichen Schneckenarten färbt in unterschiedlichsten Nuancen – pastellgelb, hellgrün, dunkelgrün, blaugrün, blau, violett, bis hin zu rot-, violett- oder blaustichig schwarz, aber auch zartrosa, dunkelrosé und sattrot. Das Sekret hat an der Luft und im Sonnenlicht einen spektakulären Farbumschlag: Erst gelb, dann grün, blau, purpur(violett) und schließlich scharlachrot.

Durch Zugabe metallischer Beizen konnten die Grundfarben nochmals stark variiert werden z.B. wird die Grundfarbe Rot des Krapps durch Zugabe von Aluminium-Beize ‚leuchtendrot‘, von Zinn-Beize ‚orange‘, von Eisen-Chrom Beize ‚braun‘, von Kupfer-Beize ‚violett‘. [Struckmeier 2003: S. 407] Es ist unschwer zu erkennen, wie giftig aus heutiger Sicht die Färberbrühe für die ungeschützten Färber war (Hautkontakt, Einatmen der Dämpfe usw.)

Der Anbau von Farbpflanzen und deren Weiterverarbeitung war kosten- wie arbeitsintensiv. Man benötigte eine Vielzahl an Ressourcen – menschliche und tierische Arbeitskraft, fruchtbares Ackerland, viel (!) Wasser usw. Die benötigten agrarischen Nutzflächen wurden meist in Stadtnähe angesiedelt, um die Logistik der Transportwege zu optimieren. Orts- und zeitnah entwickelten sich Zentren zur Textilproduktion. Die beiden Gewerbe waren vielschichtig ineinander verstrickt. [LexMA 'Farbe']

Wichtige Anbaugebiete waren:

für Waid [LexMA 'Farbe']

  • seit dem 12. Jh. in Namur (heut. Belgien)
  • seit dem 13. Jh. am Niederrhein, in Thüringen, Frankreich (Gascogne, Languedoc zw. Toulouse, Albi und Narbonne, Normandie, Picardie), Italien (Piemont, Toskana)
  • seit dem 14. Jh. in Westfalen (Soest)
  • spätestens im 15./16. Jh. in England (Lincolnshire, Somerset)

für Krapp [LexMA 'Farbe']

  • seit dem 12. Jh. im ndl. Seeland
  • seit dem 14. Jh. in Schlesien (Breslau), Niedersachsen (Braunschweig), am Oberrhein (Speyer, Straßburg) und an der Obermosel (Trier), in Frankreich (Provence), Spanien (Kastilien) und Ungarn

für Wau [LexMA 'Farbe']

  • nach 1300 weitverbreitet in Europa, bes. aber in Thüringen, am Nieder- und Oberrhein, in Frankreich (Picardie) und z. T. in England

für Saflor [LexMA 'Farbe']

  • Südfrankreich, Italien und Spanien

für Safran bester Qualität [LexMA 'Farbe']

  • seit dem 12. Jh. aus Oberitalien (Toskana), Südfrankreich und Spanien (Aragón, Katalonien)

für Safran minderer Qualität [LexMA 'Farbe']

  • im 15./16. Jh. am Oberrhein, in Niederösterreich und England (East-Anglia)

Farbsymbolik

Im vorangegangenen Abschnitt wurde bereits die mittelalterliche Kosmovision einer ‚Lesbarkeit der Welt‘ vorgestellt. Die Welt des Mittelalters kennt verschiedene ‚Sprachen‘, in denen kommuniziert werden kann. Sprach- bzw. Zeichensysteme, die ihre Welt lesbar machen. Jedes dieser Systeme verwendet unterschiedliche Sinnträger, um Botschaften zu übermitteln. Sinnträger können sein: Personen, Zahlen, Orte, Zeiten, Ereignisse, Qualitäten, aber auch Dinge. Bei ontologischen Größen liegt die Besonderheit vor, dass „nicht nur die Worte (voces), sondern auch die mit ihnen gemeinten Dinge (res) bedeutungshaltig sind.“ [LexMA 'Farbe'] Sowohl Bezeichnetes (die eigentliche Botschaft) als auch das Zeichen selbst werden zum Gegenstand mittelalterlicher Bedeutungsauslegung, der sog. Allegorese. Ein wichtiges Teilgebiet der Allegorese ist auch die Lehre von den Farben und ihren Bedeutungen. [LexMA 'Farbe']

Farbe fungiert als lesbares Zeichen. Farbe ist Sinnträger, transportiert Botschaften. Diese Eigenschaft von Farbe ist in sämtlichen Kulturen universell konstant. Schwieriger wird es, wenn einer einzelnen Farbe bestimmte Bedeutungen zugeordnet werden sollen: Hier liegen sogar innerhalb ein und derselben Kultur vielschichtige Überlagerungen und Vernetzungen von Bedeutung vor. Die Komplexität von Farbsymbolik erschwert die Deutung, meist müssen kompliziert polyvalent-verstrickte Muster entwirrt werden. Vor diesem Hintergrund bleibt es unmöglich zu behaupten, diese oder jene Farbe bedeute genau dieses oder jenes. Stets muss der individuelle Kontext berücksichtigt werden, allein die Textgattung gibt entscheidende Hinweise wie und warum Farbattribuierungen gesetzt worden sein könnten, z.B. werden die Farben Grün, Violett oder Schwarz in einem liturgischen Gebrauchstext andere Bedeutungen aufweisen als im höfischen Roman oder der Hohen Minne. [Oster 2014: S. 20]

Carolin Oster stellt folgende Liste der wichtigsten Farbordnungen des Mittelalters zusammen: [Oster 2014: S. 21-22]

Sakral-religiöse Farbsysteme

  • christliche Farballegorese
  • liturgische Farben

Profan-weltliche Farbsysteme

  • Farbsymbolik der Minne
  • Farbsymbolik der Heraldik (sogar mit eigener Nomenklatur der einzelnen Farben)
  • Gewandfarben
  • Farben in Malerei und Architektur
  • Edelsteinfarben
  • Blumenfarben [Wackernagel 1872]
  • Farben der Temperamente
  • Farben der Tugend und Laster
  • Farben der Elemente
  • Farben der Planeten
  • Farben der Wochentage
  • Farben der Jahreszeiten
  • Farben des Lebensalters bzw. der Lebensabschnittsphasen
  • Farben der Windrichtungen
  • Farben der Körpersäfte
  • Farben von Tod und Krankheiten
  • usw.


Zur Veranschaulichung seien hier ausgewählte Beispiele von Farbordnungen vorgestellt.


Potentielles Bedeutungsspektrum des Lexems ‚Rot‘ [LexMA 'Farbe']

  • Rot als Blutfarbe: Passion Christi, Martyrium, Blutschuld der Juden an Christus, Christenverfolgung;
  • Rot als Farbe glühenden Feuers: Hl. Geist/Gnade, Liebe, Intensität verschiedener Tugenden, Feuergericht bei der Wiederkunft christi, ird. Bedrängnis
  • Rot als Farbe natürlicher Schamröte: Scham, Buße, Bekenntnis, Liebe/Zorn/Freude Christi
  • Rot als Farbe roter Erde: irdische Natur Christi, menschl. Schwachheit
  • Rot als Weinfarbe: Abendmahl, Blut Christi, Kelch des Leidens
  • Rot als Farbe des Morgenrots: begrenzte Gotteserkenntnis
  • Rot als Farbe der Sonnenglut: Zeit der Gnade Christi
  • Rot als Farbe rötlich gefleckter Haut des Aussätzigen: Sünde
  • Rot als Farbe des Elfenbeins oder Farbqualität des Goldes: Kostbarkeit


Beispiele aus der Edelsteinallegorese [LexMA 'Farbe']

  • Grün: Glaube, Hoffnung, Kontemplation, Keuschheit, Strenge, ewiges Leben
  • Blau: Himmlisches in weitem Bedeutungsumfang, göttl. Natur
  • Schwarz: Sündhaftigkeit/Teufel, geistige Traurigkeit, Unglück, Demut, Unwissenheit
  • Weiß: Glaube, Wahrheit, Reinheit, Freude, Glück
  • Gelb: Tod, Buße, Mäßigung, Reichtum


Farbenspektrum der Minne (nach Silvan Wagner) [Wagner 2011: S. 551]
Kontext: Er analysiert die Märe ‚Der Gürtel‘ Dietrichs von der Glezze.

  • Weiß = Keuschheit/Hoffnung
  • Grün = Minneanfang
  • Rot = Minnenot
  • Blau = Treue
  • Schwarz = Trauer
  • Gelb = Minnelohn


Farbenspektrum der Minne (nach Susanne Brügel) [Brügel 2008]
Kontext: Sie vergleicht 20 Texte und nominiert 7 bedeutungstragende Grundfarben.

  • Rot = brennende Liebe / auch negativ besetzt als Leiden der Liebe
  • Gelb = gewährte Liebe / negativ besetzt: soll weg. Geheimhaltung der (gewährten) Liebe nicht getragen
  • Blau = Treue
  • Grün = Anfang der Liebe, erste Liebe
  • Weiß = wem Liebe offenbart und zugestanden wurde, liebendes Andenken
  • Schwarz = Wut, Beleidigung, Streit, Kränkung durch den Geliebten
  • Grau = richtige Minne, Adel, Frohgestimmtheit (hôher muot)


Zwischenfazit

Farbige Kleidung war immens kostbar. Ihr Wert errechnete sich aus der Summierung mehrerer Faktoren: Zunächst bestimmte die Auswahl des Materials, das gefärbt werden sollte, den Grundpreis; z.B. feinstes Kalbsleder, hauchzarte Seide oder Baumwollsamt waren aufgrund ihrer materiellen Beschaffenheit (Herkunft, Verfügbarkeit, Herstellungsprozess usw.) bereits sehr teuer. Es folgte die Auswahl des richtigen Farbstoffs und des richtigen Färbeverfahrens. Die Farbe bzw. der Farbstoff war teuer. Der Prozess des Färbens verschlang Unmengen an Ressourcen, war zeit- und arbeitsintensiv. Das fertig gefärbte Stück Tuch, Pelz oder Leder wurde abermals quer durch Europa transportiert und auf großen Umschlagplätzen gehandelt. In einem letzten meist mehrwöchigen Verarbeitungsschritt musste jedes einzelne Kleidungsstück von Hand zugeschnitten und genäht werden. Es folgten weitere Zierelemente wie Gold- und Silber-Stickereien, das Aufnähen von Perlen usw. Selbst auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Details wie Borden, die nur fingerbreit die Kragen säumten, mussten in winzig anmutenden Rahmen gewebt oder geknüpft, eventuell bestickt werden. Das Nähen neuer Kleidung in Auftrag zu geben, war stets gleichbedeutend mit einer entsprechend großen Summe Geld, die dafür ausgegeben werden musste. Vor diesem Hintergrund entlarven z.B. die Schneiderstrophen im Nibelungenlied überraschend detailverliebt die finanzielle Situation der literarisch Kleidernähenden und Kleidertragenden: Es liest sich fast wie eine Einkaufsliste der benötigten Utensilien für die einzelnen Kleidungsstücke, jedem Posten könnte ein realer Geldwert zugeordnet werden. Die Schneiderstrophen rechnen auf, sie enthüllen, in welchem verschwenderischen Luxus der Wormser Hof schwelgt. Die Burgunderkönige sind unvorstellbar reich. Ihren Reichtum stellen sie mit Kleidung zur Schau.


Kleines Glossar (mit Belegstellen)

Wortlaut im mhd. Original (konkrete Realisation) Belegstelle Alternative Notationen Bedeutung des Lexems
barchâne Winterlied 1 (IV, 2) barchant, barchât, barchet [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 127] Etymologisch herleitbar von arab. Barrakan ‚grober Wollstoff‘ [Kiessling u.a. 1993: S.31] - ursprünglich aus Kamel- oder Ziegenhaar gefertigt.

Barchent ist ein Mischgewebe aus Baumwoll-Schuss auf Leinen-Kette. [Simon-Muscheid 2005]

Das Gewebe ist einseitig oder beidseitig aufgeraut. [Kiessling u.a. 1993: S.31]

Aus finanziell-ökonomischer Sicht des Mittelalters war Baumwolle der weitaus wertvollere Bestandteil dieses Mischgewebes: Während Leinen aus heimischem Flachs gewonnen werden konnte, musste Baumwolle aus dem östlichen Mittelmeerraum aufwendig und kostspielig importiert werden. Das Endprodukt war leichter und geschmeidiger als reines Leinen, der hohe Baumwollanteil sorgte zudem für verbesserte Pigmenteinlagerung beim Färbeprozess, es entstand Tuch in satteren und strahlenderen Farben. [Simon-Muscheid 2005]

phellerîne Winterlied 24 (V, 4) phellelîn, phellerîn, phellîn [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 236] Adjektivbildung zu phellel, mit der Bedeutung ‚ein feines kostbares seidenzeug (auch wollenzeug?)‘ oder ‚gewand, decke u. dgl. aus solchem, allgem.‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 235 bis 236]
goller Winterlied 24 (Va, 4) x Goller oder Koller

Die etymologische Herleitungskette baut sich auf wie folgt:
1. Ursprung im lat. collum ‚Hals‘
verwandt mit dem Adjektiv lat. collaris ‚zum Hals gehörig‘ und der Substantivierung collare ‚Halsband (Hund), Halsfessel/ Halseisen/Halskette (Sklave)
2. Übertragung in mlat. collārium ‚Halsrüstung‘

Der Eingang ins Deutsche erfolgte auf zwei verschiedenen Wegen:
A. unmittelbar als ahd. chollāri
B. um 1200 als Lehnwort aus franz. collier

Im mhd. koller vereinen sich beide Einflüsse. Das Wort bezeichnet eine Halsbekleidung an Männer- und Frauengewändern. [Kluge 1957: S. 389]

rinkelohte Winterlied 24 (V, 2) rinkeloht [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 451 bis 453] Derivat aus ‚rinkel‘ + Suffix ‚oht‘

d.h.
mhd. rinkel, auch in den Formen rinke, ringge= nhd. ‚spange, schnalle am gürtel, schuh etc.‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 451 bis 452]
-oht, auch in den Formen -ëht, -ëhte oder -loht, -lëht = kein, lexikalisches, sondern ein rein grammatisches Suffix d.h. das Suffix fügt keine neue lexikalische Bedeutungserweiterung hinzu, sondern verändert die grammatische Kategorie des Gesamtwortes. In diesem Fall handelt es sich um ein Adjektivierungssuffix – das Suffix macht aus dem Substantiv ein Adjektiv.

Weiter Beispiele für den Gebrauch des Suffix -oht:
mhd. ringeloht, ringelëht = nhd. ‚mit ringen versehen, geringelt, gekräuselt‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 447 bis 450]

Im Neuhochdeutschen ist das Suffix -loht nahezu verschwunden, nur in schwäbischer Mundart ist es als -lochet (gesprochen: -lochåt) erhalten geblieben.

Grundbedeutung ist also, dass besagtes Kleidungsstück mit einer Schnalle versehen ist.

schaperûne Winterlied 24 (V, 1) schaperûn, schapperûn, schaprûn [Lexer 1872-1878:Bd. 2, Sp. 660 bis 661] ‚kaputze, kurzer mantel‘ [Lexer 1872-1878:Bd. 2, Sp. 660 bis 661]

Lehnwort aus franz. chaperon [BMZ Benecke/Müller/Zarncke 1854-1866: Bd. II/2, Sp. 87a bis 87b]

rîsen Winterlied 27 (IV, 9) rîse [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 458 bis 459] eine ‚art herabfallender schleier‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 2, Sp. 458 bis 459]
golzen Sommerlied 18 (III, 4) kolze , golze [Lexer 1872-1878: [Bd. 1, Sp. 1667 bis 1668] Wort nur im Plural gebräuchlich, mit der relativ offenen Bedeutung einer Art ‚fuss- u. beinbekleidung‘ [Lexer 1872-1878: [Bd. 1, Sp. 1667 bis 1668]

Die Lexikon-Angabe ist äußert unspezifisch gehalten, es kommen mehrere Möglichkeiten in Betracht: Gemeint sein könnten alle Varianten von Strümpfen, kurz bis hoch; Beinlinge; sämtliche Möglichkeiten von Schuhwerk, flach, knöchelhoch, Stiefeletten, Stiefel usw.

Lehnwort aus it. calzo, calzone, franz. caleçon, ursprünglich abgeleitet von lat. calceus [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 1667 bis 1668]

gebende Winterlied 27 (V, 5) gebende Substantivierung/Nominalisierung zum Verb ‚binden‘ = Gebinde

Grundständige Bedeutung in etwa ‚alles womit gebunden wird: band, bandschleife‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 750 bis 752]

Im mittelalterlichen Modejargon kommt es zu einer Bedeutungsverengung, das Gebende bezeichnet hier einen Teil der Kopfbedeckung, die von Frauen getragen wurde: Beim Gebende handelt es sich um einen breiten Streifen Tuch, der unter dem Kinn lag, dann sehr straff anliegend links und rechts über die Ohren nach oben geführt wurde. Je nach Breite des Streifens waren auch die Wangen teils bedeckt. Der Streifen wurde Hinterkopfs gebunden und/oder mit Nadeln fixiert. Er konnte durch ein zusätzliches Stirnband ergänzt werden, was eine gänzliche Rahmung des Gesichts ermöglichte. Das Gebende wurde kombiniert mit schapel oder rîse getragen. Für schapel siehe auch Schmuck bei Neidhart

buosemblech Winterlied 27 (VII, 7) buosem-blëch [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 389] Kompositum aus ‚buosem‘ + ‚blech‘

d.h.
mhd. buosem = nhd. Brustteil der Bekleidung des Oberkörpers - ‚der den busen bedeckende theil des kleides, des rockes‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 388 bis 389]
mhd. blech = nhd. Blech, dünngewalztes oder -gehämmertes Metall, danach in Form geschnitten und mit Löchern versehen - ‚blättchen, meist metallblättchen‘ [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 301]

Vermutlich handelt es sich also um ein Obergewand, auf dessen Brustteil kleine Metallplättchen genäht wurden, ähnlich einer leichten Brustpanzerung (Schuppenpanzer?) siehe auch Rüstung (und Waffen) bei Neidhart

gebræmet Winterlied 27 (VII, 10) bræmen, brëmen [Lexer 1872-1878: Bd. 1, Sp. 340] Partizip II (Partizip Perfekt) zum mhd. Verb bræmen

Das Verb existiert im Neuhochdeutschen in der Form ‚verbrämen‘, die Bedeutung ist nur noch mit absteigender Tendenz bekannt: Es ist ein Tätigkeitsverb und fällt in den Bereich des Nähens, laut Duden bedeutet es so viel wie ‚am Rand, Saum mit etwas versehen, was zieren, verschönern soll‘ [Duden - Lemma ‚verbrämen‘]

Bei diesem Vorgang wird der Rand eines Kleidungsstückes nicht nur gesäumt, sondern zusätzlich verbrämt d.h. mit einem schmückenden Abschluss versehen, das abschließende Stück kann alles Denkbare sein z.B. eine gewebte Borte, ein Samtband oder Pelzbesatz usw.

hiufelbant Winterlied 27 (VII, 8) x Kompositum aus ‚hiufel‘ + ‚bant‘ - gemeint ist ein Wangenband.
pfeit Winterlied 27 (VIIb, 8) x skythisch *baitā ‚Hirtenrock‘ wurde zu...

urgermanisch *paiđō
→ gotisch paida ‚Rock‘
→ ahd. pfeit ‚Unterkleid‘

heute noch in dialektischer Mundart bekannt: bairisch Pfoad ‚Hemd‘ [Köbler 2014]

hiubelhuot Winterlied 10 (VI, 2) x Kompositum aus ‚hiubel‘ + ‚huot‘ - wörtlich übersetzt ist damit ein Haubenhut gemeint. Der Haubenhut ist ein Helm und dient dem Schutz seines Trägers.[BMZ Benecke/Müller/Zarncke 1854-1866:Bd. 1, Sp. 734a]
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Funktionskatalog bei Neidhart

Neidharts Lieder enthalten eine Fülle an Kleiderbeschreibungen. Allein der Umfang ist bemerkenswert. Neidhart belässt es jedoch nicht dabei, Beschreibungen von Kleiderstücken als bloße Zierde der Szenerie einzuflechten, er instrumentalisiert sie geradezu: In verschiedenen Sprechsituationen übernehmen sie unterschiedliche Funktionen. Der folgende Abschnitt konzentriert sich daher auf die Leitfrage: Wie wird Kleidung bzw. ihre literarische Inszenierung bei Neidhart funktionalisiert?

Dabei werden ausgewählte Aspekte die Analyse tragen:

  1. Spiel mit Autonomie: Mimesis vs. Kunstwelt
    1. Dörperliche Nachahmung der höfischen Welt – Winterlied 24 und Winterlied 27
    2. ‚Realitätsanker‘ oder ‚Realitätspartikel‘?
  2. Instrumentarium des Spotts
  3. Kampf der Geschlechter – Mann und Frau
    1. Zeichen der (Un)Verbindlichkeit – Sommerlied 18
  4. Generationenkonflikt – Mutter und Tochter
    1. Alterstopos und Erotik – Sommerlied 17
  5. Eskalationspotential
    1. Indikator für latente Gewalt – Winterlied 1

Spiel mit Autonomie: Mimesis vs. Kunstwelt

Das Neidhartsche Œuvre tritt zugleich als versöhnliches und gestörtes Zerrbild des klassischen Minnesangs in Erscheinung: Vieles wirkt vertraut, integriert sich scheinbar mühelos, nahtlos, manches wird hingegen nur spitzfindig anzitiert, anderes wiederum offensichtlich konterkariert, manches wird nur wahllos eingestreut, anderes stört, hier und da entzweien sich die Gesichter, Kanten gleiten auseinander, Brüche ragen schroff empor. Neidhart greift bereits Dagewesenes auf, moduliert, fügt Neues hinzu – es entspinnt sich ein zarter Versuch zwischen konsequenter Mimesis und leichtfüßiger Autonomie.

Der Begriff Mimesis stammt von altgriechisch μίμησις mímēsis und bedeutet zunächst einmal schlicht ‚Nachahmung‘ oder ‚Darstellung‘. Bereits in der Antike haben sich mehrere wegweisende Denker mit dem Begriff auseinandergesetzt. Aristoteles versteht unter Mimesis ein menschliches Grundbedürfnis nach Nachahmung: Er verweist dabei auf eigene Beobachtungen der menschlichen Natur, die zeigen, dass der Mensch vom Kleinkindalter an bereits in der Lage sei, das Verhalten seiner sozialen Interaktionspartner nachzuahmen, dass der Mensch im spielerischen Spiegeln seines Gegenübers fremde Verhaltensmuster übernehme und problemlos ins Eigene integriere. [Wulf 2014: S. 247] In seiner Poetik entwickelt Aristoteles die Mimesis schließlich zu einem ästhetischen Prinzip: Der Mensch dürste danach, die von ihm vorgefundene Natur nachzuahmen. Diese Nachahmung kann auf unterschiedlichen Gebieten umgesetzt werden z.B. in Form von Dichtung oder bildender Kunst. Dabei soll nicht eine „simple Kopie der Realität“ [Lemma 'Mimesis'] erzeugt werden, vielmehr geht es um „eine kreative Darstellung der Wirklichkeit nach der Maßgabe der ›Wahrscheinlichkeit‹“ [Lemma 'Mimesis']. Im Gegensatz zu Platon, der im steigenden Verarbeitungsgrad eine qualitätsmindernde, von der Realität abrückende Bewegung sieht, sucht Aristoteles gerade die eigensinnige, neuerschaffende Schöpfungskraft der Mimesis. Platon verabscheut die stetige Entfernung vom Urbild, die er Idee nennt, er hält bereits ontologisch greifbare Größen wie Gegenstände für Abbilder, sie sind nur noch der Abglanz vom ursprünglichen Glanz, Mimesis verkommt hiernach zu Abbildern von Abbildern, also ontologischen Größen zweiten Grades, sie sind gewissermaßen der Abglanz vom Abglanz. [Wulf 1997: S. 91-92]

Mimesis bedarf stets eines Referenzpunktes, auf den sie sich bezieht. Die nachahmende Welt gerät in eine Abhängigkeit von ihrer nachgeahmten Welt. Doch auch die nachgeahmte Welt ist keine unangetastet-unveränderliche, sie hat ihrerseits Vorgänger, die sie selbst nachahmt. Die Systeme sind untereinander vielfältig verknüpft, keines steht für sich allein.

Wissensordnungen „verschieben sich und geraten in Bewegung. Durch den Bezug aufeinander ändern sie sich, unaufhörlich. Es entsteht ein mimetisches Verhältnis der Zeichen zueinander, in dem längst nicht mehr eine ›Wirklichkeit‹ das Modell der Nachahmung bildet, sondern in dem Wort- und Bildzeichen selbst zum Modell anderer Zeichen werden, die sie nachahmen und dabei verändern, so daß in einem komplexen mimetischen Prozeß Neues entsteht.“ [Wulf 1997: S. 83]

Impliziert der Begriff Mimesis anfänglich die Vorstellung einer absolut realitätsgetreuen Nachahmung der Welt, wird bei näherer Betrachtung klar, dass auch Mimesis auf die Erzeugung einer artifiziellen, literarisch verfremdeten Welt abzielt. Mimesis ist schöpferisch, sie erschafft geradezu eine Kunstwelt. Zu hinterfragen bleibt, welche Art von Kunstwelt erschaffen wird. Legt man sich eine graduelle Abstufung von Realitätstreue zurecht, lässt sich die mimetisch erschaffene Kunstwelt beruhigend nahe am Realitätsgeschehen einordnen.

Manuel Braun widmet sich in seiner Habilitation genau diesem eigenwilligen Spiel mit Autonomie, dass sich im Neihartschen Werk entfaltet. Braun führt den Nachweis, dass Neidharts Weltentwurf kein mimetischer ist. Es handelt sich nicht um eine Welt des klassischen Minnesangs, bloß „im Modus der Verzerrung“ [Braun 2007: S. 259] präsentiert, sondern um eine bis ans äußerste getriebene Kunstwelt, „die sich fast schon hermetisch nach außen abschließt.“ [Braun 2007: S. 259] Brauns methodischer Ansatz entwickelt sich im Dreischritt, Braun spricht auch von „drei Anläufe[n]“ [Braun 2007: S. 259], die er zu unternehmen gedenke:

  1. Sein erstes Postulat besagt, dass jede Innovation einen retrospektiven Anker benötigt: Ohne Basis, keine Weiterentwicklung. Ohne Definition, keine Abgrenzung. Ohne Vorlage, keine Karikatur. Neidharts OEuvre funktioniert nur, wenn der klassische Minnesang vorausgesetzt wird.
  2. Im nächsten Schritt will Braun untersuchen, auf welche Art und Weise sich Neidhart im ‚Baukastensystem‘ des klassischen Minnesangs bedient: Welche Elemente werden ausgewählt? Werden sie in ursprünglicher Form und Funktion verwendet? Was wird abgewandelt? Es geht um die Frage, welche literarische Realisierung, Braun spricht von Konkretisierung [Braun 2007: S. 263], uns von Neidhart schlussendlich angeboten wird.
  3. Krönender Abschluss bildet dann die Ableitung eigener Gesetzmäßigkeiten: Nach welchen Regeln spielt Neidharts neu geschaffene Kunstwelt?

Neidharts Weltentwurf lebt vor allem durch sein innovatives Figurenpersonal. Aus der ungewöhnlichen Zusammensetzung erwächst ein unglaublich unterhaltsames Potential des gegenseitigen Belauerns, man umschleicht sich, beäugt und wird selbst misstrauisch beäugt. Es entspinnt sich ein Verwirrspiel des Folgens und Verfolgens. Unterschiedliche soziale Schichten prallen ungehindert aufeinander, ein beachtliches Konfliktpotential lauert im aufgeworfenen Grabenbruch.

Das Figurenpersonal lässt sich gut in zwei Lager aufteilen, wobei Lager wohl nur für eine Seite des Konflikts zutrifft – auf der anderen Seite steht eine einzige Einzelperson und zwar das Sänger-Ich Nithart von Riuwental. Sein Dilemma ließe sich getrost als ‚Ich gegen den Rest der Welt‘ zusammenfassen, so kommt es ihm jedenfalls vor. Der Lebenslauf des Protagonisten Neidhart lässt sich, betrachtet man alle bekannten Lieder summa summarum, folgendermaßen rekonstruieren: Neidhart entstammt dem niederen Adel, er besitzt kein eigenes Allodialgut (im Erbrecht der eigenen Familie verankert), sondern muss sich mit einem Lehensgut namens Riuwental (nahe Landshut oder im Salzburgischen, beides erscheint möglich) begnügen. Der Name seines Lehens wurde dann zu seinem eigenen Namensbestandteil – eine häufige Praxis. Der Namenszusatz Riuwental kann nicht nur als geographische Verordnung, sondern auch im übertragenen Sinne gelesen werden: Es bedeutet so viel wie ‚Tal der Reue, Jammertal, Sorgental‘. [Mertens 2018: S. 48] Wie ist das zu verstehen? Neidhart kommt ursprünglich aus der höfischen Sphäre. Er ist zwar Ritter niederen Standes, hatte aber dennoch eine höfische Laufbahn hinter sich, durchlief vermutlich von Kindesalter an bis zum jungen Mann ein großes Spektrum höfisch-ritterlicher Erziehung. Er hat miterlebt, wie höfisches Leben zelebriert wird. Er kennt die strengen Regeln der höfischen zuht – aber auch die Genüsse, die der ausschweifend-luxuriöse Lebenswandel des Hofes zu bieten hat. Neidhart hat die schönsten Edeldamen gesehen und konnte sie (zumindest aus angemessener Distanz) bewundern. Er weiß, wie sich der Adel kleidet, wie er spricht und tanzt. Neidhart ist mit der hohen Kunst des Minnesangs vertraut, er weiß, wie man eine vrouwe hohen Standes mit süßen Worten, gut platzierten Flüstereien oder schmachtenden Liedern geschickt umgarnt. Er kennt die Grenzen, weiß die Sprache der Liebe wohldosiert einzusetzen. Als er den Hof schließlich verlassen muss und auf sein eigenes Lehen geschickt wird, fühlt sich der Abzug wie eine Vertreibung aus dem Paradies an. Neidhart ist gezwungen die Lust am Leben, Lieben, Lachen und Tanzen für immer hinter sich zu lassen. Sein Lehen Riuwental liegt ländlich, fernab vom Hof, tiefste Provinz, plötzlich gibt es nicht mehr als Felder, Kühe – und Bauern! Für Neidhart ein katastrophaler Absturz. Plötzlich muss er sich mit den lästigen Alltagssorgen des Landlebens herumschlagen – es fallen Schlagworte wie ‚armer Ritter‘ und hûssorge [Mertens 2018: S. 48] Die planvolle Bewirtschaftung seiner Ländereien liegt ihm nicht, die Misserfolge häufen sich, sein Land bringt kaum Ertrag. Als Lehensherr ist er zudem Rechtsinstanz, er muss für Recht und Ordnung innerhalb seiner Bauernschaft Sorge tragen. Neidhart ist allein. Er ist der Einzige, der aus der höfischen Welt stammt. Niemand, der seine wehmütige Erinnerung teilt. Neidhart sitzt an einem Ort fest, den er als Verbannung ins Exil empfindet, und bläst Trübsal.

Schließlich beginnt Neidhart sich anderweitig umzuschauen: Doch alles, was er findet, sind ausgerechnet Bauern – ein großer unzivilisierter Haufen, der auf den ersten Blick mit der höfischen Gesellschaft so gar nichts gemein zu haben scheint. Er belegt sie mit dem Schmähwort dörper. Alles an ihnen ist auffällig und laut, übertrieben, die Dörper sind zu viel von allem: Ihr körperliches Auftreten ist zu raumgreifend, bedrängend und zurückdrängend, sie pöbeln, schubsen, stoßen, grapschen nach den Frauen, wenn sie sich nicht rechtzeitig außer Greifweite bringen können. Ihr Sprachgebrauch ist unverschämt derb, bisweilen gar obszön, ihre Stimmen sind laut und grölend. Die Dörper rotten sich zusammen, lauter junge Burschen, bewaffnet mit Knüppeln, Dolchen, Messern und sogar Schwertern, scheinbar wahllos ziehen sie durch die Gassen, um Präsens zu zeigen. An Fest- und Feiertagen gibt es dann kein Halten mehr: Die Dörper werfen sich in Schale, putzen sich heraus – Sommerlied 4 (Strophe IV, 2-3) die suln balde ir bestez vîrtacgewand an legen, / lâzen sich dar inne ersehen! – stolzieren mit geschwellter Brust vor den kichernden Mädchen. Alles eilt dann zum Dorfanger, der großen Wiese, um zu tanzen. Die Tänze sind wild und ausgelassen, es wird gesprungen, die Röcke der Frauen fliegen hoch und weit, unbedecktes nacktes Bein wird sichtbar… Männer wie Frauen nutzen die Gelegenheit, um ansonsten unerlaubte Berührungen zu heischen, die so im wilden Trubel gut kaschiert werden können. Besonders begehrt sind die Männer, die gut tanzen können. Es gibt regelrechte Vortänzer, die in der ganzen Region für ihre flinken Füße bekannt sind.

Ausgerechnet in diese Welt stürzt sich nun Neidhart und beginnt seinerseits die Bauernmädchen und Frauen zu umwerben, selbstverständlich auf seine Art, ganz im Dienst der Hohen Minne. Wie zu erwarten sind die Dörper alles andere als begeistert, als der ungewöhnliche Nebenbuhler plötzlich auf den Plan tritt. Zwischen Neidhart und Dörpern entbrennt ein verbitterter Konkurrenzkampf um die Frauen.

Sehr schnell beginnen die Grenzen zwischen Neidharts höfischer Welt und Dörperwelt jedoch ineinander zu fließen: Neidhart hält sich nicht mehr an die strikten Ehrenregeln, die er eigentlich gelernt hat, er beginnt mit zahlreichen Mädchen Tändeleien, erste Gerüchte von ungewollten Schwangerschaften und sitzengelassenen Liebchen werden laut. Und auch die Dörper sind nicht das, was sie sein müssten: Sie tragen plötzlich Kleidung, die durch und durch höfisch ist! Ihre Kleider sind überbordend, verschwenderisch, unglaublich teuer, verbrauchen Unmengen an Stoff für aufwendige Raffungen, es gibt Röcke, die in winzige Falten gelegt werden, besonders auffällig sind die schillernden Farben.

Kleidung fungiert hier als Konkretisierung ganz im Sinne Brauns. Anhand von Kleiderbeschreibungen wird sichtbar, wie Neidhart die alten Regeln des Minnesangs plötzlich kopfstellt und völlig neuartige Kunstfiguren kreiert.

Dörperliche Nachahmung der höfischen Welt

Männer – Winterlied 24 und Winterlied 27


Winterlied 24 (Strope IV, 6) [ATB 44] Übersetzung
gerne mugt ir hœren, wie die dörper sint gekleidet: üppiclîch ist ir gewant. Sehr gerne sollt ihr hören, wie die Dörper gekleidet sind: Völlig übertrieben ist ihre Kleidung.

Die Kleiderbeschreibungen werden dem Rezipienten nicht durch eine neutrale Erzählerinstanz vermittelt, sondern von Nithart höchstpersönlich, das Sprecher-Ich der Lieder mit dem wohl höchsten Redeanteil. Er spart nicht an Worten, wenn es darum geht, die von ihm gehassten Dörper zu beschreiben.

Winterlied 24 (Strophe V, 1-2) [ATB 44] Übersetzung
Enge röcke tragent sî und smale schaperûne, Enge Röcke tragen sie und schmale Kurzmäntel,
rôte hüete, rinkelohte schuohe, swarze hosen. rote Hüte, mit Rinken/Schnallen versehene Schuhe, schwarze Beinlinge.
Winterlied 24 (Strophe Va, 2-4) [ATB 44] Übersetzung
sie trugen peckkelhauben, darczu lange swert. Sie trugen Pickelhauben, dazu lange Schwerter.
ir spottigkait […] Ihre Lächerlichkeit […]
des wurdens durch die goller mer denn halb gewert. die wurde durch ihre Halskrausen mehr als genug gewährleistet.

Im Winterlied 24 echauffiert sich Neidhart ganz besonders über den Dörper Frideprecht:

Winterlied 24 (Strophe X, 1-2 und 5) [ATB 44] Übersetzung
Rädelohte sporen treit mir Fridepreht ze leide, Mit Rädern versehene Sporen trägt Frideprecht, darunter leide ich sehr,
niuwen vezzel hât er baz dan zweier hende breit. […] er hat ein neues Schwertband (Gürtel?), von sehr guter Qualität, breiter als zwei Hände. […]
zwêne niuwe hantschuoh er unz ûf den ellenbogen zôch. zwei neue Handschuhe hat er sich bis über die Ellbogen hochgezogen.

Bei der Beschreibung der Körper und ihrer Kleidung geht Neidhart bzw. das Sprecher-Ich nicht geordnet vor. Seine Augen folgen scheinbar keiner Struktur, keinem Ablauf – sie huschen hierhin und dorthin, er kann sich nicht festlegen, markiert keinen Start- und Endpunkt. Denkbar und auch naheliegend wäre ja ein visuelles Abtasten von oben nach unten, vom Scheitel bis zur Sohle. Doch Neidharts Blick schwirrt, verliert sich in Details, auf die er sich mit großer Besessenheit stürzt. In feinsäuberlicher Manier zerlegt er einzelne Kleidungsstücke bis ins letzte Detail – und lässt sie so plötzlich fallen, wie er sie aufgegriffen hat, springt zum nächsten, kehrt dann aber wieder zurück zum vorangegangenen Objekt. Es gibt Kleidungsstücke, die ihm keine Ruhe lassen, die ihn aufwühlen und seine Gedanken lange beschäftigen: darunter fallen im Winterlied 24 der Goller (goller, Strophe Xb, 6) und das lange Dörperschwert [1] (sîn niuwez swert, Strophe Xb, 2).

Der Blick auf Kleidung ist also ein zutiefst subjektiver, es ist Neidhart, der seine Augen mit uns teilt. Durch seine Augen erblicken wir die Welt. Neidharts Blick auf die Kleider der Dörper ist widerwillig. Er empfindet Abneigung aus zweierlei Gründen: Erstens frönt er der Überheblichkeit des eigenen Standes, als Ritter möchte er sich von niedrigeren Ständen größtmöglich abgrenzen, eifersüchtig verteidigt er Kleiderprivilegien, die im Mikrokosmos von Riuwental allein ihm zustehen sollten und sonst keinem anderen. Er ist hier der einzige von hoher Geburt. Zweitens gründet seine Abneigung aber auch in einem fassungslos-ohnmächtigen Gefühl der Fremdbeschämung. Die Dörper orientieren sich bei ihrer Kleiderwahl nicht nur ungeniert an höfischen Vorbildern, sie überzeichnen die Vorlagen mutwillig, wollen mehr, machen mehr, noch mehr Stoff, noch mehr Falten, noch schrillere Farben – man sieht Neidhart förmlich vor sich, wie er die Faust gegen die Stirn schlägt und stöhnt. Guter Geschmack lässt sich nicht kaufen! Winterlied 24 (Strophe Va, 3) [ATB 44]: ir spottigkait, ir laster sie gar zu laster brachten - ihr spöttisches Treiben verkehrt sich ins Gegenteil und fällt auf sie zurück, sie geben sich selbst der Lächerlichkeit preis.

Bisweilen schleichen sich jedoch auch leise Untertöne von Missgunst und akuter Eifersucht ein. Nämlich dann, wenn die Dörper besonders kostbare Kleidungsstücke tragen, deren Anfertigung eine schöne Summe Geld verschlungen haben muss.

Winterlied 24 (Strophe V, 4-5) [ATB 44] Übersetzung
ich nîde ir phellerîne phosen, ich neide ihnen ihre seidenen Gürteltaschen/Beutel,
die si tragent […] die sie tragen […]


Immer wieder redet sich Neidhart in Rage, indem er die lästigen Kleiderstücke der Dörper Schlag um Schlag aufzählt, sie sind das Mantra seiner unterschwellig brodelnden Wut:

Winterlied 10 (Strophe VI, 1-2) [ATB 44] Übersetzung
Im hilft niht sîn treie Ihm wird weder sein Wams (gesteppte Weste mit leicht schützender Funktion)
noch sîn hiubelhuot […] noch sein Haubenhut helfen […]


Neidhart kocht, wenn er sieht, was der Dörper Lanze zur Schau trägt:

Winterlied 1 (Strophe IV, 1-3) [ATB 44] Übersetzung
Lanze eine treien treit, Lanze trägt ein Wams,
diu ist von barchâne, das ist aus Barchent,
grüene alsô der klê. genauso grün wie Klee.


Das es noch extravaganter geht, zeigt ein namenloser geiler getelinc (Strophe VI, 3):

Winterlied 27 (Strophe VII, 7-11) [ATB 44] Übersetzung
diu sînen rôten buosemblech Seine rote Brustzierplättchen (vermutlich ein Obergewand, das mit kupfernen Metallplättchen besetzt ist),
diu sint ir ungenæme gar, dar zuo sîn hiufelbant. die gefallen ihr [der Angebeteten] überhaupt nicht, genauso wenig wie sein Wangenband (Kinnband des Helms?).
enge ermel treit er lanc, Er trägt lange, enge Ärmel.
die sint vor gebræmet, Diese sind verbrämt,
innen swarz und ûzen blanc. innen schwarz und außen weiß.
Winterlied 27 (Strophe VIIa, 9-12) [ATB 44] Übersetzung
ein vil guotez lînîn tuoch, Ein sehr gutes leinenes Tuch,
sehzehn elen kleine, sechszehn Ellen weit,
hât sîn hemde und ouch sîn bruoch: daraus wurde sein Hemd und auch seine Bruche genäht;
der site ist ungemeine. diese Sitte ist ungeheuerlich anmaßend.

Neidhart warnt deutlich: im enmac gehelfen niht sîn hovelîch gewant – Winterlied 27 (Strophe VII 4). Ihn wird sein höfisches Gewand nicht retten! Diesen Kontrahenten wird er sich vornehmen.

Die Dörper selbst sind aber auch nicht ‚auf den Mund gefallen‘, sie ertragen Neidharts Frotzelei nicht schweigend, sondern schießen schlagfertig zurück. Sie verhöhnen ihn, er sei selbst der allerbunteste Vogel hier – Winterlied 27 (Strophe VIIc, 8) spreckelehte vogel – und sein Gesang sei nichts weiter als lästiges Gezwitscher. Als krönende Konter ziehen sie ihrerseits seine Kleidung ins Lächerliche:

Winterlied 27 (Strophe VIIb, 1-8) [ATB 44] Übersetzung
Her, Nithart, mug irz lâzen? Herr Neidhart, wollt ihr es nun endlich bleiben lassen?
iu mac misselingen. Euch soll es übel ergehen.
nu habt ez ûf die triuwe mîn, Ich schwöre es bei meiner Treue,
und mag ich, ez muoz iu bî dem tanze werden leit! wenn wir beim Tanz aufeinandertreffen, wird es euch leidtun!
welt ir ûf der strâzen Ständig wollt ihr auf der Straße
vil mit uns gedringen, mit uns wetteifern,
swie breit ab iuwer multer sîn, wie breit doch euer ‚Melkeimer‘ absteht,
dâ gelpfe schînet under iuwer ringelehte pfeit […] da scheint er glänzend unter eurem geringelten/gekräuselten Rock hervor […]

Bei dem ‚Melkeimer‘ handelt es sich vermutlich um eine obszöne Umschreibung für das männliche Geschlechtsteil, das bei Neidhart wohl sehr prominent aus der Kleidung herauszuragen scheint.


  1. Das lange Dörperschwert sorgte wohl auch bei Neidharts Zeitgenossen für große Belustigung, das geflügelte Wort findet unter anderem bei Wolfram von Eschenbach im ‚Willhelam‘ anerkennend seinen Platz (VI, 312, 11ff.) [Lienert 1989: S. 1]


Frauen – Sommerlied 22

Auch die Frauen tragen Kleider, die auffällige Abweichungen zeigen, Kleider, die nichts Ländlich-Bäurisches mehr an sich haben. Zu harter (Feld-)Arbeit taugen sie jedenfalls nicht.

Sommerlied 22 (Strophe III, 3;7-8) [ATB 44] Übersetzung
stolze mägde […] Schöne Mädchen […]
tuot, als ich iuch lêre, tut es so, wie ich es euch jetzt beibringe:
strîchet iuwer kleider an! Streicht eure Kleider aus!

Gemeint ist wohl, das aufwendige Ausbürsten wertvoller Kleider – Staub, lose Hautschuppen oder (Tier-)Haar müssen entfernt werden. Manche Stoffe wie Samt werden auch erst durch ein kräftiges Aufrauen mit der Bürste mattglänzend und schön zu tragen.

Sommerlied 22 (Strophe IV, 1-2) [ATB 44] Übersetzung
Ir brîset iuch zen lanken, Schnürt euch die Flanken (die Taille?),
stroufet ab die rîsen! streift die Schleier ab!

Wer spricht hier eigentlich? Es ist Neidhart selbst. Und erstaunlicherweise gibt er den Dörper-Frauen auch noch genaue Anweisung, wie sie mit ihrer Kleidung zu verfahren haben: Erst aufbürsten, dann enger schnüren, zum Schluss die wallende Haarpracht freilegen. Neidhart fordert die Frauen hier ganz klar zu erotisch-aufreizender Koketterie auf. Bemerkenswert, da Neidhart den männlichen Dörpern ja eindeutige Ressentiments gepflegten Hasses entgegenstellt. Die Frauen haben es ihm jedoch deutlich angetan. Er zeigt sich großzügig, lässt sie an seinem Kleider-Wissen, das er am Hof erworben hat, teilhaben. Er lehrt sie, wie sich höfische Damen kleiden und wie sie diesem Vorbild mit vereinfachten Mitteln – eben dem, was zur Verfügung steht – nacheifern können.

Unter der Vielzahl an Mädchen sticht besonders Friderun heraus:

Sommerlied 22 (Strophe IV, 4-6) [ATB 44] Übersetzung
Vriderûn als ein tocke Friderun sprang wie eine Puppe
spranc in ir reidem rocke in ihrem gefältelten Rock
bî der schar in der Schar [der TänzerInnen]

Vriderun trägt einen gefältelten Rock. Das Fälteln ist ein sehr aufwendiger Nähvorgang: Jede einzelne Falte muss einzeln gelegt und anschließend mit Stichen fixiert werden. Umso kleiner die Fältelung sein soll, umso mehr Falten braucht man –mehr Falten bedeuten mehr Zeit und Arbeit.


‚Realitätsanker‘ oder ‚Realitätspartikel‘?

xx

Instrumentarium des Spotts

Neidhart spottet: Die Dörper sind so eitel, dass sie sogar in der brüteten Sommerhitze nicht bereit sind, ihre Haubenhüte und dicken Wämser abzulegen, mit verbissener Miene, in gemimter Tapferkeit tragen sie sie weiter.

Winterlied 14 (Strophe IIa, 6-10) [ATB 44] Übersetzung
ich sach hiuwer, dazs ir hiubelhüete Ich sah diesjährig, dass sie ihre Haubenhüte
den ganzen summerlangen tac den ganzen sommerlangen Tag
truogen in der grôzen swebelhitze, in der großen Schwefelhitze trugen,
ir troien an, ebenso ihre Wämser,
dicker denne ein hant und beidenthalben ketenîn. dicker als eine Hand breit und auf beiden Seiten aus Ketten bestehend.

Kampf der Geschlechter: Mann und Frau

xx

Missglückte Anbahnung, missverstandene Minne – Winterlied 33

Winterlied 33


Männliche Gewalt, weibliche Hilflosigkeit – Winterlied 27

Winterlied 27


Bibliographie (eine Auswahl)

Kleidung

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  • Schausten, Monika (Hrsg.): Die Farben imaginierter Welten. Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart (= Literatur – Theorie – Geschichte 1), Berlin 2012.


Textilien

  • Alissa Theiß: Höfische Textilien des Hochmittelalters. Der ‚Parzival‘ des Wolfram von Eschenbach, Stuttgart 2020.
  • Mehrteilige Werkreihe: ‚Mittelalterliche Textilien‘
    • Teil I: Otavsky, Karel: Mittelalterliche Textilien I. Ägypten, Persien und Mesopotamien, Spanien und Nordafrika, Riggisberg 1995.
    • Teil II: Otavsky, Karel: Mittelalterliche Textilien II. Zwischen Europa und China, Riggisberg 2011.
    • Teil III: Wetter, Evelin: Mittelalterliche Textilien III. Stickerei bis um 1500 und figürlich gewebte Borten (= Die Textilsammlung der Abegg-Stiftung; 6), Riggisberg 2012.
    • Teil IV:
      • Peter, Michael: Mittelalterliche Textilien IV. Samte vor 1500, Band I (= Die Textilsammlung der Abegg-Stiftung 9), Riggisberg 2019.
      • Peter, Michael: Mittelalterliche Textilien IV. Samte vor 1500, Band II (= Die Textilsammlung der Abegg-Stiftung 9), Riggisberg 2019.


Material Turn

  • Kalthoff, Herbert; Cress, Torsten; Röhl, Tobias (Hrsg.): Materialität. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, Paderborn 2016.
  • Meier, Thomas; Ott, Michael R.; Sauer, Rebecca (Hrsg.): Materiale Textkulturen: Konzepte – Materialien – Praktiken, Berlin/München/Boston 2015.
  • Mühlherr, Anna; Sahm, Heike; Schausten, Monika; Quast, Bruno (Hrsg.): Dingkulturen. Objekte in Literatur, Kunst und Gesellschaft der Vormoderne (=Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik 9), Berlin/Boston 2016.
  • Scholz, Susanne; Vedder, Ulrike (Hrsg.): Handbuch Literatur & Materielle Kultur (= Handbücher zur kulturwissenschaftlichen Philologie 6), Berlin/Boston 2018.


Lexika-Einträge

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Literaturverzeichnis

<HarvardReferences />

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