Der Fuchs und die Wölfe (Reinhart Fuchs)
Diese Seite befasst sich mit der Beziehung zwischen Reinhart und der Familie der Wölfe, bestehend aus dem männlichen Wolf Isengrin, dessen Partnerin Frau Hersant und ihren zwei geeinsamen Söhnen, in dem Tierepos "Reinhart Fuchs" von Heinrichs der Glîchezâre. Dabei liegt der Fokus auf den Episoden mit Isengrin, aber auch die Episoden mit Frau Hersant werden anhand von Textbelegen analysiert und gedeutet. Da der Konflikt zwischen Isengrin und Reinhart zahlreiche Szenen umfasst, konzentriert sich dieser Artikel nur auf ausgewählte. Die zwei Wolf-Söhne sind nicht direkt in Handlung verstrickt und werden deshalb in diesem Artikel nur rudimentär behandelt.
Fuchs und Wolf allgemein
Fuchs und Wolf in der Literatur
In älteren Erzählungen werden Fuchs und Wolf häufig als weibliches und männliches Tier kontrastiert. [Müllneritsch 2010:291] Des Weiteren werden Fuchs und Wolf oft als zunächst Verbündete beschrieben. Diese sind jedoch dazu bereit, einander in den Rücken zu fallen sollte es für sie von Nöten oder von Nutzen sein. [Müllneritsch 2010: 298] Somit ist festzuhalten, dass sie bereits in frühen Fabeln nach ihrem eigenen Vorteil handeln und somit Opportunismus über Loyalität stellen. Müllneritsch beschreibt Fuchs und Wolf in der mittelhochdeutschen Tierdichtung sogar als "altbekannte Widersacher" [Müllneritsch 2010: 299] und konkretisiert so ihre Beziehung.
Überleitung
Da Reinhart sowie Isengrin in "Reinhart Fuchs" Vetreter des männlichen Geschlechts sind, sind die geschlechterspezifischen Unterschiede zwischen Fuchs und Wolf in diesem Werk nicht von Belang. Hervorzuheben ist hingegen die Beziehung zwischen Reinhart und der weiblichen Vertreterin der Wölfe, Frau Hersant, auf die in einem eigenen Abschnitt genauer eingegangen wird. Denn neben der Tatsache, dass Fuchs und Wolf in diesem Tierepos männlich sind, kulminiert die Differenz zu anderen Erzählungen darin, dass der Fuchs die Partnerin des Wolfes begehrt. Wie es sich zu dieser Minne-Werbung entwickelt und wie die Familie der Wölfe Reinhart innerhalb des betrachteten Tierepos erstmalig begegnet, wird im ersten Abschnitt dargelegt. Des Weiteren wird in dem vorliegenden Artikel analysiert, inwieweit die Anwendung von Müllneritsch's Beschreibung der Beziehung zwischen Fuchs und Wolf auf "Reinhart Fuchs" anwendbar ist.
Erstes Aufeinandertreffen (V. 384-413)
Vorangegangene Geschehnisse
Reinhart begegnet der Familie der Wölfe kurz nachdem er es durch eine List geschafft hat, aus einer Wildfalle zu entkommen. Isengrin hat dieses Schauspiel beobachtet, und so bereits, vor dem ersten offiziellen Aufeinandertreffen, einen Eindruck von Reinhart's Gewitztheit erlangt. Anschließend berichtet Reinhart ihm, dass er gekommen sei um ihn zu warnen, da viele Männer Isengrin hassen würden. Er verspricht Isengrin darauf hin, ihm und Frau Hersant zu dienen, wenn Isengrin sich mit Reinhart verbündet. Reinhart argumentiert, dass sie durch seine List, gepaart mit Isengrin's Stärke, unbezwingbar seien. Auch hier wird sich Isengrin der Gewitztheit Reinhart's bewusst; somit war ihm von Beginn an klar, mit wem er ein Bündnis eingeht. Isengrin bespricht sich daraufhin mit seiner Familie. Auffällig ist dabei, dass die beiden Söhne schon alt genug zu sein scheinen um in einer solch wichtigen Sache mit zu entscheiden. Isengrin verkündet anschließend an die Besprechung, dass sie Reinhart als Vetter in die Familie aufnehmen.
Dass sie durch dieses, nun familiäre, Bündnis noch großes Leid erfahren werden, wird dem Leser durch die Prolepse in Vers 411-413 vermittelt.
Übersetzung der Textstelle (V. 411-413)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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do hate aber er Ysengrin | Jedoch hatte Isengrin |
ein vbel gesinde zv ime genvmen, | böses Gesindel zu sich aufgenommen, |
daz mvste im ze schaden kvmen. | das musste ihn schnell ins Verderben stürzen. |
Nachfolgende Geschehnisse
Die angeführte Textstelle beendet den Tag. Ein paar Tage später zieht Isengrin mit seinen Söhnen auf die Jagd und vertraut Frau Hersant, die Textstelle betrachtend, ironischerweise seinem Gevatter an und gewährt diesem somit einen Vertrauensvorschuss.
Interpretation der Textstelle
Reinhart und die Wölfe gehen somit ein Bündnis ein, dem weltliche Interessen zugrunde liegen. vgl. [Ruberg 1988:40] Denn Reinhart hat in den ersten Episoden die Jagd betreffend keine Erfolge zu verzeichnen und überzeugt daher den Wolf dieses Treue-Verhältnis einzugehen, mit dem Versprechen, dass auch dieser davon profitiere.
Des Weiteren ist es von zentraler Wichtigkeit festzustellen, dass die Familie der Wölfe, in dem sie Reinhart in ihre Familie aufnehmen, "[...] deutlich über die eigentliche Anfrage von Reinhart Fuchs hinausgeht, der nur ein Kriegerbündnis zwischen zwei Männern vorgeschlagen hatte. Die Einladung zur Aufnahme einer Nähebeziehung zu seiner Frau geht also von Isengrin selber aus.". [Mecklenburg 2017:93] Diese Gegebenheit ist bei Betrachtung der nachfolgenden Geschehnisse von großer Bedeutung.
Denn was die Wölfe nicht wissen, der Leser hingegen durch die Textstelle selbst und die vorangegangenen Verse erfahren hat, ist, dass Reinhart opportunistisch handelt um die Gunst von Frau Hersant zu erlangen. Somit hat er sich, perfiderweise ohne dass Isengrin sich dessen bewusst ist, zu Isengrin's Antagonisten entwickelt und konkurriert mit seinem neu gewonnen Vetter um dessen Partnerin.
Anbandelungen Reinharts
Dass das Erlangen der Zuneigung von Frau Hersant jedoch zum Scheitern verurteilt ist, macht sie ihm recht schnell deutlich. Reinhart gibt anschließend an die höfische Werbung die Kontrolle über das weitere Vorgehen ab, und die Umworbene kann entscheiden, ob sie auf diese Werbung eingehen möchte oder diese ablehnt. Sollte der Werbende abgewiesen werden, so darf er keinen psychischen oder physischen Schaden bei der Umworbenen verursachen. Prägnant ist während der stattfindenden Werbung die, fast schon maliziöse, Aussage "wold aber ich deheines gern, so werest dv mir doch zv swach." seitens Frau Hersant (V. 432f.). [Heinrich der Glîchezâre 1995] Hierbei hält sie sich nicht an höfliche und respektvolle Umgangsformen.
Des Weiteren hebt sie die körperliche Überlegenheit Isengrins über Reinhart hervor. Dabei fällt auf, dass sie die Werbung nicht aufgrund ihrer bereits bestehenden ehelichen Beziehung mit Isengrin ablehnt, sondern ausschließlich aus dem Grund, dass Reinhart nicht ihrem Männlichkeitsideal entspricht. Dieses Männlichkeitsideal beruht vor allem darauf, dass der Körper des Mannes, in ihren Augen, Kraft und Stärke ausstrahlen muss. Als Isengrin nach kurzer Zeit zu den beiden stößt "[...] tet der hobischere alse der rede niht inwere." (V. 441f.). [Heinrich der Glîchezâre 1995] Die Tatsache, dass sich Reinhart vor seinem Vetter, als dieser zurückkehrte, nichts anmerken lassen möchte und so tut als ob nichts gewesen wäre, verdeutlicht die bigotten und opportunistischen Grundzüge seines Handelns.
Der erste Konflikt
Vorangegangene Geschehnisse
Isengrin und seine Söhne waren zur Jagd aufgebrochen und kommen ohne jegliche Beute von der Jagd zurück. Dies ist besonders problematisch, da Frau Hersant Reinhart gegenüber kurz davor erläuterte, wie wichtig ihr die Stärke eines Mannes sei. Isengrin begründet die Erfolglosigkeit der Jagd damit, dass es schwer gewesen sei Beute zu machen, da jeder Hirte einen Hund bei sich hat. Da erblickt Reinhart einen Bauern mit einem großen Schinken und wittert die Chance, sich nun vor der Familie der Wölfe zu profilieren. Er läuft ins Blickfeld des Bauern's und beginnt zu humpeln - und seine Rechnung geht auf. Sobald der Bauer den augenscheinlich verletzten Reinhart sieht lässt er den Schinken fallen und trachtet nun nach Reinhart's Leben. Reinhart lockt ihn daraufhin von dem Schinken weg und Isengrin ergreift die Chance und holt den Schinken.
Übersetzung der Textstelle (V. 479-498)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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done was sin clage niht cleine, | Da war sein Jammern nicht wenig, |
ern vant weder vleisch noch gebeine, | er fand weder Fleisch noch Knochen, |
wen iz allez gezzen was. | denn alles war gefressen. |
nv viel er nider vf daz gras, | Da fiel er nieder auf das Gras, |
vil vaste klait er den bachen. | und beklagte den Verlust des Schinkens. |
Ysengrin begonde lachen, | Isengrin begann zu lachen, |
er sprach: 'wol mich des gesellen min! | er sagte: 'Wohl mir, bei meinem Verbündeten! |
wi mochte wir baz inbizzen sin? | Wie hätten wir ein besseres Mahl finden können? |
ich weiz im disez ezzens danch.' | Ich erweise ihm meinen Dank für dieses Essen.' |
do weste er niht den nachclanch | Er wusste noch nicht über die Folgen. |
Reinhart qvam spilinde vnde geil, | Reinhart kam heiter und munter näher, |
er sprach: 'wa ist hin min deil?' | er sagte: 'Wo ist mein Anteil?' |
do sprach Ysengrin: | Da sagte Isengrin: |
'vrege di gevatern din, | 'Frage deine Gevatterin, |
ob si iht habe behalten, des ir wart.' | ob sie von ihrem noch etwas aufgehoben hat.' |
'nein ich', sprach si, 'Reinhart, | 'Nein', sagte sie, 'Reinhart, |
iz dvchte mich vil svze. | es war zu schmackhaft. |
daz dir got lonen mvze! | Dass Gott dich dafür belohne! |
vnde zvrne dv niht, | Und ärgere dich nicht, |
wenne mirs nimmer me geschiht.' | es soll nie wieder vorkommen.' |
Nachfolgende Geschehnisse
Isengrin sagt, dass er durch den Verzehr des Schinkens durstig geworden sei. Reinhart merkt sogleich, dass sich die erste Chance zur Rache bietet. Er bringt die Wolfsfamilie zu einem Mönchshof da er ihnen den, im dortigen Keller gelagerten, Wein schmackhaft macht. Als sie bemerkt werden, als Isengrin zu singen beginnt, da er an keine Gefahr denkt, flüchtet Reinhart während die Wölfe verdroschen werden.
Interpretation der Textstelle
Dass die fruchtlose Rückkehr Isengrins genau dann stattfindet, nachdem Frau Hersant Reinhart hat abblitzen lassen weil er ihr zu schwach sei, ist außerordentlich brisant. Denn nun trifft auf ihren Partner genau das zu, was sie Reinhart zugeschrieben hatte. Doch er kommt nicht nur ohne Beute zurück, zusätzlich klagt er über die Hunde der Hirten. Das lässt den Schluss zu, dass seine Stärke nicht ausreicht, um trotz der Hunde Beute zu machen. Dadurch versagt er dabei, seine Familie zu ernähren - und somit, Frau Hersant's Männlichkeitsidealen folgend, bei der grundlegenden Aufgabe des männlichen Familienoberhauptes. Reinhart bekommt durch diese Geschehnisse die Chance, sich vor Frau Hersant zu beweisen. Besonders die Tatsache, dass Reinhart es durch eine List ermöglicht, dass Isengrin den Schinken erbeuten kann, unterstreicht, dass die körperliche Stärke oder die Fähigkeit zu Gewalt keinen Erfolg garantieren, viel mehr kann Reinhart hier durch seine Intelligenz Beute machen.
Dass Isengrin und Frau Hersant Reinhart jedoch nichts von dem Schinken übrig lassen, obwohl sich Reinhart für ebendiesen in Gefahr begeben hat, stellt den ersten Bruch in dem Bündnis zwischen Reinhart und der Familie der Wölfe dar. Isengrin möchte sich dafür nicht einmal verantworten, sondern verweist Reinhart in der obigen Textstelle gewissermaßen an Frau Hersant. Diese schlägt versöhnliche Töne an, welche jedoch unaufrichtig wirken, da sie genau weiß, dass sie Reinhart im Falle einer körperlichen Auseinandersetzung kräftemäßig überlegen wäre.
Depotenzierung Isengrin's
Wie bereits erwähnt, hat Männlichkeit und die damit einhergehende Potenz einen hohen Stellenwert in der Beziehung der Wölfe. Ebendiese Männlichkeit, und das damit verbundene Selbstvertrauen, nimmt jedoch irreversibel Schaden durch Reinhart's Taten. Dabei wird zunächst Isengrin's Selbstbewusstsein und sein Vertrauen in die Beziehung zu Frau Hersant in Mitleidenschaft gezogen und anschließend werden ihm körperliche Merkmale männlicher Potenz und Kraft genommen. Die Depotenzierung erfolgt in drei Schritten, welche im Folgenden analysiert werden.
Psychische Demontage Isengrin's
Vorangegangene Geschehnisse
Isengrin trifft, nachdem er und seine Familie, im Mönchskeller verdroschen wurden, auf Reinhart und erläutert diesem was geschehen ist. Dabei berichtet Isengrin davon, dass seine Söhne ihn beschimpft hätten - wird daraufhin jedoch von Reinhart besänftigt da dieser das mit dem jungen Alter der Wölfssöhne entschuldigt. Reinhart verlässt den schwer verletzten, und stark blutenden Isengrin. Dieser sorgt sich, da er sich dem Tode nah fühlt, um die Zukunft seiner Frau und seiner Söhne. Er denkt, dass Frau Hersant nach seinem Tod so bekümmert sein wird, dass auch sie stirbt und die Kinder als Waisen zurücklässt. Kuonin, auf dessen körperliche Gestalt nicht eingegangen wird, vernimmt die Wehklagen Isengrin's und beginnt ihn zu verspotten.
Übersetzung der Textstelle (V. 583-604)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Kvnin sprach: 'si entvt. | Kuonin sagte: 'Das wird sie nicht. |
si enhat sich niht so wol behvt, | Sie hat nicht so auf sich Acht gegeben, |
als ich dich iezv hore iehen. | wie ich dich hoffen hörte. |
ich han zwischen iren beinen gesehn | Zwischen ihren Beinen habe ich Reinhart gesehen |
Reinhart hat si gevriet, | und wie er sie begattet hat, |
ichn az noch entranc siet: | seitdem habe ich nichtmal etwas eingenommen: |
mag daz gebrvetet sin, | es heißt doch begatten |
ez gie vz une in | wenn etwas rein und raus geht |
als ein bescintiz stabilin.' | wie ein bestimmtes Stäbchen.' |
Isingrin horte mere, | Isengrin hörte Sachen, |
div warin ime swere. | die ihm schwer zusetzten. |
er viel uor leide in unmaht, | Vor Leid wurde er ohnmächtig, |
er wisse weder was dac oder naht. | und wusste nicht einmal, ob es Tag oder Nacht war. |
des lachete Kovnin. | Darüber lachte Kuonin. |
do kan ze sich her Isigrin. | Da kam Isengrin zu sich. |
er sprach: 'scraz, ih han arbeit! | er sagte: 'Waldgeist, ich leide doch schon! |
dar zuo hast du mir geseit | und nun erzählst du mir auch noch |
mit lugin leidiv mere. | diese mit Lügen versehene Geschichte. |
obe ich so gauch ware, | Wenn ich so verwirrt wäre, |
daz ih es wolte gelovben, | dass ich es glauben wollte |
ez gienge dir an div ovgen. | ginge es dir an die Augen. |
hate ih dih hie nidere, | Hätte ich dich hier unten, |
dv enkomist niemer widere.' | würdest du nie wieder entkommen.' |
Nachfolgende Geschehnisse
Isengrin ist wütend über die Aussagen von Kuonin. Diese Wut ist jedoch schnell vergessen, als er Frau Hersant und seine Söhne erblickt. Er berichtet ihnen von dem Leid welches er durch Reinhart erfahren hat und auch von der Geschichte die Kuonin ihn versuchte glauben zu lassen. Frau Hersant versichert ihm Reinhart seit einer Weile nicht gesehen zu haben und als sie und die Söhne beginnen, Isengrin's Wunden zu lecken, hat dieser sein Leid alsbald vergessen.
Interpretation der Textstelle
Isengrin trifft zwar Aussagen, die darauf schließen lassen, dass er die Geschichte Kuonin's nicht glaubt, jedoch ist es trotzdem fraglich ob dem wirklich so ist. Möglich wäre, dass er seine Unsicherheit diesbezüglich überspielt um sein männliches Ehrgefühl in dieser Situation, und vor Kuonin, zu wahren. Die Tatsache, dass er Kuonin als Reaktion auf diese angebliche Geschichte mit Gewalt droht, kann auf eine vorhandene Verunsicherung seinerseits schließen lassen. Diese Annahme wird zudem dadurch gefestigt, dass er, nachdem er dieses Gerücht gehört hat, vor Schock ohnmächtig wird.
Falls er diese Aussagen jedoch wirklich nicht glaubt, zeigt dieses Gerücht, wie gefestigt die monogame Beziehung der Wölfe wirklich ist und welches Vertrauen Isengrin seiner Partnerin entgegenbringt. In dieser Auslegung kann die angedrohte Gewalt so ausgelegt werden, dass er Kuonin daran hindern möchte diese Geschichte weiter zu verbreiten und Frau Hersant so zu verleumdnen. Welche der beiden Annahmen letztendlich zutrifft kann pauschal nicht festgelegt werden und hängt von der jeweiligen Auslegung ab. In beiden Fällen ist jedoch anzunehmen, dass die Verunsicherung und Demontage Isengrin's hier ihren Ursprung findet.
Physische Demontage Isengrin's
Tonsur Isengrin's
Den ersten Bestandteil der körperlichen Depotenzierung Isengrin's stellt die Tonsurierung dar. Welche Ereignisse zu dieser führen und welche Folgen sie mit sich bringt wird nun dargelegt.
Vorangegangene Geschehnisse
Der von Hunger geplagte Isengrin kommt auf der Suche nach Nahrung an der Tür seines Gevatters Reinhart vorbei. Als er dort vorbeigeht nimmt er einen betörenden Essens-Duft wahr, welcher sogleich sein Interesse weckt. Als Reinhart ihn bemerkt spricht er ihn an und ein Gespräch beginnt. Der folgende übersetzte Teil des Gesprächs findet statt, nachdem Reinhart Isengrin zwei Stück Aal gegeben hat, um so dessen Interesse zu wecken.
Übersetzung der Textstelle (V. 684-696)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart sprach: 'des macht dv gnuc han, | Da antwortete Reinhart: 'Davon könntest du genug haben - |
wilt dv hie brvderschaft enpfan, | wenn du der Bruderschaft beitrittst, |
dv wirdest meister vber di braten.' | wirst du für die Braten zuständig sein.' |
da wart er san beraten. | Da hat sich Isengrin sogleich entschieden. |
'daz lob ich', sprach Ysingrin. | 'Das gelobe ich', sagte Isengrin. |
'nv stoz', sprach er, 'din hovbt herin.' | 'Dann streck deinen Kopf herein!', antwortete Reinhart. |
des was Ysengrin bereit, | Dazu war Isengrin bereit, |
do nahet im sin arbeit. | da näherte ihm sich seine Qual. |
dar in stiez er sin hovbet groz, | Hinein streckte er sein mächtiges Haupt, |
brvder Reinhart in begoz | und Bruder Reinhart übergoss dieses, tatsächlich, |
mit heizem wazzer, daz ist war, | mit heißem Wasser, |
daz vurt im abe hvt unde har. | welches Isengrin's Haupt und seine Haare verbrühte. |
Nachfolgende Geschehnisse
Nachdem Reinhart Isengrin diesen Schmerz zugefügt hat, begründet er dies damit, dass Isengrin Leid ertragen muss um in das Paradies zu gelangen. Außerdem war es angeblich notwendig um Isengrin in die christliche Bruderschaft aufzunehmen und so zum Meister über die Braten zu machen. Reinhart betrachtet seine Taten und sich selbst als sakrosant und versucht, Isengrin ebendiesen Eindruck zu vermitteln, sodass dieser die Taten seines Gevatters nicht hinterfragt und seine Schmerzen angesichts der versprochenen Nahrung vergisst.
Interpretion der Textstelle
Zunächst ist auffällig, in welch geringem Ausmaß Isengrin die Taten seines Gevatters anzweifelt, und das obwohl Reinhart erstmalig direkt körperliche Gewalt gegen ihn anwendet. Mit Reinhart's Begründung, dass die Schmerzen notwendig seien um ins Paradies zu gelangen und an Nahrung zu kommen, gibt er sich überraschend schnell zufrieden. Das deutet abermals, ebenfalls wie die Schinken-Episode, auf den hohen Stellenwert hin, den Essen in seinem Leben einnimmt.
Des Weiteren hat Isengrin durch die Tonsur nicht nur seinen Pelz im Kopfbereich verloren, und damit eines der Haupt-Anzeichen für Vitalität und Stärke im Tierreich, sondern hat nun ein anderes Erscheinungsbild als vor der Textstelle. Die Tonsurierung fungiert als conversio eines Mannes hin zu einem Mann Gottes. Durch die Tonsur evoziert nun auch Isengrin das Bild, dass er sich dem Weltlichen abgewandt, und Gott zugewandt hat. Dies ist durch die Existenz seiner Partnerin und seiner zwei Söhne besonders problematisch. Als Mann Gottes darf die Weitergabe seiner Gene nicht seine Priorität sein - anders als es normalerweise der Fall wäre. Diese Abwendung von Sexualität stellt somit den ersten Schritt der Depotenzierung Isengrins dar.
Kastration Isengrin's
Nach der vorangegangenen Tonsur erfolgt nun die absolute und irreversible körperliche Depotenzierung. In anderen Ausgaben geschieht diese Depotenzierung durch den Schwur auf das Wolfseisen. Da die behandelte Ausgabe diese Episode jedoch nicht beinhaltet wird ausschließlich analysiert, wie es in dieser Ausgabe dazu kommt, und welche Folgen diese Depotenzierung mit sich bringt.
Vorangegangene Geschehnisse
Als Reinhart Isengrin kurze Zeit nach dessen Tonsurierung zum Eisfischen überredet, instruiert er Isengrin, den Eimer zu halten. Reinhart befestigt den Eimer an dem Schwanz von Isengrin und gießt immer wieder Wasser über den Schwanz, als Isengrin sich über das steigende Gewicht wundert, behauptet Reinhart jedoch, dass sie großen Erfolg im Fischfang haben. Aufgrund der Temperaturen friert der Schwanz schnell fest. Als Reinhart sich sicher ist, dass Isengrin festgefroren ist, erzählt er ihm, dass er sich auf den Weg zum Kloster macht, um ihre Mitbrüder, die Mönche, zu holen die ihnen tragen helfen sollen, und lässt Isengrin zurück. Dieser gerät alsbald in eine heikle Situation als der Jäger Birtin sich ihm nähert.
Übersetzung der Textstelle (V. 805-821)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Isingrin was besezzin. | Isengrin war umzingelt. |
her Birtin hate ime gemezzin: | Herr Birtin hatte ihn abgeschätzt: |
den rucke wolter ime inzwei slahin. | denn er wollte ihm den Nacken abschlagen. |
do begunden ime die fuze ingan, | Da fing es an, dass ihm die Füße wegrutschten, |
vonme sliffe er nider kam: | auf dem glitschigen Eis fiel er hin: |
div gleti ime den swanc nam. | die Glätte nahm ihm den Schwung. |
umbe den sturz er niht enlie, | Aufgrund des Sturzes |
an den kniwin er wider gie. | machte er auf den Knien weiter. |
div gletin im aber den swanc nam, | Die Glätte nahm ihm erneut den Schwung, |
daz er heht ubir den zagel kam; | sodass er nur den Schwanz traf; |
den sluoc er ime garwe abe. | den schlug er ihm gänzlich ab. |
sie ir huobin beide groze clage. | Sie hegten beide großes Bedauern. |
Her Birtin do clagete, | Herr Birtin beklagte, |
daz er vermisset habete, | dass er nicht getroffen hat, |
ouch clagite sere Isingrin | und Isengrin jammerte |
den vil liebin zagil sin. | seinem geliebten Schwanz nach. |
den muoser da ze pfande lan. | Den musste er als Pfand zurücklassen. |
Nachfolgende Geschehnisse
Nach dem Verlust seines Schwanzes verlässt Isengrin den Schauplatz schnell und folgt Reinhart in Richtung Kloster.
Interpretation der Textstelle
Es könnte zwar als glückliche Fügung angesehen werden, dass Isengrin mit dem Leben davon gekommen ist, jedoch gelang dies nur um den Preis seines Schwanzes. Des Weiteren kann die Textstelle auf verschiedene Weise gedeutet werden. Einerseits kann man "zagil" ausschließlich als die Rute des Wolfes verstehen, wahrscheinlicher ist jedoch die Auslegung, dass "zagil" hier für das männliche Glied steht. Somit wurde Isengrin nicht nur physischer Schmerz zugefügt, sondern er wurde zusätzlich auch seiner Männlichkeit beraubt.
Deutung der fortlaufenden Geschehnisse
Das mit "zagil" das männliche Genital beschrieben wird, wird durch die nachfolgenden Episode, die Brunnenepisode, deutlich. Denn nachdem Isengrin aufgrund einer List Reinhart's, damit ebendieser selbst aus dem Brunnen entkommen kann, im Klosterbrunnen festsitzt, wird er von den Mönchen entdeckt. Diese ziehen Isengrin hinaus und beginnen auf ihn einzudreschen. Die Tatsache, dass die Mönche jedoch von Isengrin ablassen, nachdem ihr Prior ausruft dass Isengrin ritual beschnitten sei, legt die Annahme nahe, dass mit "zagil" hier das männliche Glied gemeint ist. Neben der rituellen Beschneidung entdeckt der Prior auch das Fehlen von Isengrin's Haupthaar, wodurch er darauf schließt, dass Isengrin ebenfalls eine Tonsur trägt. Da die Mönche Isengrin aus diesen Gründen als Büßer verstehen, lassen sie, im Grunde wegen der sichtbaren Nachwirkungen von Reinhart's Listen und den Schmerzen die Isengrin dadurch erleiden musste, von ihm ab. Dass Isengrin somit nur durch die Verstümmelungen, die er erleiden musste, mit dem Leben davonkommt ist eine ironische Wendung der Dinge.
Folgen des Schwanzverlusts
Durch die vorangegangene Tonsur und die spätere Kastration ist die, laut Frau Hersant vorherig exorbitante, Männlichkeit Isengrins nun nur noch rudimentär ausgeprägt. Das ist daher gravierend, da die Männlichkeit Isengrin's als einer der Hauptpfeiler der Beziehung zwischen ihm und Frau Hersant fungierte. Die Abweisungen Reinharts hat Frau Hersant stets mit ebendieser Männlichkeit begründet. Somit haben die Taten Reinhart's, beziehungsweise die aus seinen Taten resultierenden Folgen, eminenten Einfluss auf das Familienkonstrukt der Wölfe. Dieser Einfluss wird im Folgenden analysiert.
Vorangegangene Geschehnisse
Als Isengrin nach diesen Geschehnissen wieder zu seiner Familie stößt, und ihnen sein Leid klagt, zielt er, nach Mecklenburg, nicht auf Mitleid ab sondern möchte vielmehr, dass sie sich über diese Geschehnisse erzürnen. Des Weiteren ist er darauf aus, den Emotionsausdruck des Zorn-Handels, und somit die Rachenahme am Verursacher, dem Fuchs, seitens seiner Familie auszulösen. vgl. [Mecklenburg 2017:76]
Seine Familienmitglieder beginnen jedoch zu weinen und reagieren somit nicht so, wie Isengrin es beabsichtigt hatte. Nachdem Isengrin sie daraufhin zurechtweist und sie aufhören zu weinen, kommen sie zu dem Schluss, welcher von Isengrin intendiert war. Sie entsagen Reinhart die familiäre Verbindung und kündigen an, eine Fehde mit ihm zu beginnen.
Eminent ist in diesem Wortwechsel die Bestürzung Frau Hersant's über die Depotenzierung ihres Partners. Diese ist recht expressiv für den Stellenwert, den die Männlichkeit Isengrin's in ihrer Beziehung einnimmt. Doch die Wichtigkeit dieser nach außen hin erkennbaren Potenz besteht besonders durch das Prestigegefühl Frau Hersant's; dass dem so ist wird in der folgenden Textstelle deutlich.
Übersetzung der Textstelle (V. 1057-1060)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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'o we, ich en mag ez niht ane sin! | 'O weh, ich kann nicht ohne ihn sein! |
mir ist leit, daz der man min | Es erschüttert mich, dass mein Mann |
ane zagel mvz wesen. | keinen Schwanz mehr hat. |
wi sol ich arme des genesen?' | Wie soll ich Ärmste das ertragen?' |
Nachfolgende Geschehnisse
Diese Aussage Frau Hersant's begründet letztendlich die Fehde. Isengrin trabt sogleich los um sich auf die Suche nach Reinhart zu machen und sich so für das Leid, welches ihm und seiner Familie zugefügt wurde, zu rächen. Bevor er jedoch Selbstjustiz verüben kann, trifft er auf den Luchs. Da dieser sowohl Fuchs als auch Wolf zu seiner Verwandtschaft zählt, überredet er Isengrin sein Anliegen bei dem nächsten Gerichtstag vorzutragen anstatt Selbstjustiz zu üben.
Interpretation der Textstelle
Bei dieser Textstelle ist auffällig, dass Frau Hersant in dieser Situation einen selbst-zentrierten Standpunkt einnimmt und ihrem Partner gegenüber sehr unemphatisch auftritt. Obwohl es allein Isengrin ist der Entehrung sowie physischen Schmerz erleiden musste, macht sie sich primär darüber Sorgen, wie sie diese Situation überstehen soll, was auf eine gewisse Selbstsüchtigkeit schließen lässt. In dieser Situation wirkt ihr Verhalten zwar inadäquat, ermöglicht jedoch Rückschlüsse auf ihre monogame Beziehung. Ihr Mann muss für sie ihr Leben lang die Funktion einer Stütze und des Beschützers einnehmen, zudem muss er in der Lage sein, die gemeinsamen Kinder verteidigen und versorgen zu können. Durch die Verstümmelungen vermittelt sein Äußeres jedoch nicht länger die Maskulinität und Stärke, auf die Frau Hersant, auch emotional, angewiesen ist. Denn dass diese auch emotional auf ihn als starken Partner angewiesen ist, zeigen die Geschehnisse nach ihrer Klage. Er fragt sie sogleich was sie bekümmert, während sie Resignation verspüren darf. Ihr Leid ist letztendlich der Auslöser dafür, dass sich Isengrin auf die Suche nach Reinhart macht um die Fehde zu beginnen.
Das Aufbrechen Isengrin's steht somit im Kontrast zu den Männlichkeitsidealen seiner Frau. Denn obwohl sein Äußeres nicht länger einen potenten und aggressionsfähigen Mann erwarten lässt, hat sich an seinem Auftreten und Handeln letztlich nichts verändert - er fühlt sich noch immer in der Lage, seine Familie zu verteidigen und zu rächen.
Frau Hersant
Entehrung Frau Hersants
Wie in Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs ausführlich dargelegt, kommt es zu einer Vergewaltigung Frau Hersant's durch Reinhart. Da sie, mit dem Kopf voran, in einer Dachshöhle feststeckt, kann sie sich nicht zur Wehr setzen, obwohl sie die körperliche Kraft betrachtend, das stärkere Tier ist. Besonders perfide ist dabei der Zeitpunkt des Geschehens. Denn Reinhart war auf der Flucht vor den anderen Tieren, um sich nicht für seine Taten verantworten zu müssen. Dass Frau Hersant bei den Verfolgern an der Spitze war wurde ihr zum Verhängnis. Denn Reinhart entehrt sie öffentlich vor allen anwesenden Tieren - am gravierendsten ist jedoch, dass auch Isengrin und die gemeinsamen Söhne sich diese Schändung anschauen mussten, ohne einschreiten zu können da sie zu spät kamen. Statt sich zu seinen bisherigen Taten zu bekennen und sich für diese zu verantworten hat Reinhart somit noch eine weitere Schandtat vollzogen.
Hervorzuheben ist auch, wie sich die ursprünglichen galanten Avancen Reinharts zu diesem Vorfall verändern konnten. Denn zu Beginn hat er alles versucht, Frau Hersant, auf eine charismatische Art, davon zu überzeugen, dass er ein geeigneter Partner für sie sei. Zu dem hat er versucht, Frau Hersant von seiner tief empfundenen Zuneigung ihr gegenüber zu überzeugen, in dem er sich bei ihr einschmeichelt.
Einen solchen Versuch zeigt folgende Textstelle:
Übersetzung einer Textstelle (V. 423-427)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart sprach zv der vrowen: | Reinhart sprach zu der Dame: |
‚gevatere, mochtet ir beschowen | ‚Gevatterin, möchtest du prüfen |
grozen kvmmer, den ich trage: | welch‘ großen Kummer ich erleide: |
von eweren minnen, daz ist min clage | die Zuneigung zu euch ist mein Schmerz |
Als sie Reinhart nach diesem, und weiteren Versuchen, jedoch abweist, gibt er es schlussendlich auf, Frau Hersant durch Umwerben von sich zu überzeugen. Er vergewaltigt sie nachdem er sie, durch eine List und eine Provokation, in dem er mit seinem Schwanz vor ihrem Gesicht herumwedelt, in einen Dachsbau gelockt hat, in welchem sie stecken bleibt. Direkt im Anschluss an diese Tat verhöhnt er sein Opfer abermals. Isengrin muss sich die Tat mit ansehen ohne eingreifen zu können und dennoch sagt Reinhart zu Frau Hersant, dass keiner davon erfahren müsse - wohlwissend, dass dies schon geschehen ist.
Die folgende Textstelle zeigt diese Verhöhnung. Des Weiteren ist bei dieser Textstelle auffällig, dass Reinhart's Aussagen in direktem Widerspruch zu der zuvorigen Tat steht. Denn er möchte das Geschehen verschweigen um die Ehre von Frau Hersant zu bewahren, obwohl er ihr ebendiese soeben genommen hat.
Übersetzung einer Textstelle (V. 1175-1180)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Isengrine ein herzen leit geschach: | Isegrin’s Herz wurde schwer: |
er gebrvtete si, daz erz an sach. | Reinhart vergewaltigte sie, und er musste es mit ansehen. |
Reinhart sprach: ‚vil libe vrvndin, | Reinhart sagte: ‚Meine liebe Freundin, |
ir schvlt talent mit mir sin. | deine Schuld soll mein Geheimnis sein. |
izn weiz niman, ob got wil, | Ob Gott will, keiner muss es erfahren |
dvrch ewer ere ich iz gerne verhil.‘ | für eure Ehre will ich es gerne geheim halten.‘ |
An diesem Umschwung erkennbar, muss sich Reinhart's Gefühlslage deutlich verändert haben. Es kann jedoch nur spekuliert werden, ob dies an verletztem Stolz oder an Traurigkeit/Liebeskummer liegt. Die Veränderung von galanter Umwerbung hin zu erniedrigender Vergewaltigung vor den Augen ihres Mannes, ihrer Kinder und vielen anderen Tieren vollzog sich jedoch rapide und zieht gravierende Folgen für die Familie der Wölfe nach sich.
Der finale Bruch der Wölfe mit Reinhart
Vorangegangene Geschehnisse
Isengrin ist konsterniert über diese Demütigung seiner Frau und auch über die Verletzung seines männlichen Stolzes und beginnt vor Wut zu weinen. Diese öffentliche Entehrung des weiblichen Familienoberhaupts der Wölfe ist mehr als diese ertragen können.
Übersetzung der Textstelle (V. 1226-1231)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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ver Hersant weinete do | Da begann Frau Hersant zu weinen |
vnde hulte Ysengrin, | und Isengrin heulte, |
alsam taten ovch di svne sin. | wie es auch seine Söhne taten. |
daz laster mvsten si haben. | Was für eine Schmach die ertragen mussten. |
do begonden si dannen draben, | Da begannen sie, hinfort zu traben, |
vil zornic was ir aller mvt. | jeder von ihnen mit einem zornigen Gemüt. |
Nachfolgende Geschehnisse
Reinhart hält jedoch an seinem impertinenten und mokanten Verhalten fest und beginnt nun auch noch die Familie der Wölfe zu verhöhnen. So sollen die Wölfe Frau Hersant zum Beispiel bei Reinhart zurücklassen, da sie aufgrund des vollzogenen Geschlechtsaktes nun bei ihm die Hausfrau sei. Isengrin erwidert darauf nichts mehr, da sich das Land in einem, von König Vrevel ausgerufenen, Landfrieden befindet.
Folgen am Hoftag
Wie sehr Reinhart der Familie der Wölfe durch die Vergewaltigung geschadet hat und wie sehr er sie entehrt hat wird beim Hoftag deutlich. Da Isengrin diesen Vorfall dort zur Anklage bringt, er muss dies tun da "[...] Frauen in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung nicht als eigenständige Rechtssubjekte gelten [...]" [Mecklenburg 2017:86], wird ihm bewusst gemacht, dass er dieses Thema schnellstmöglich in Vergessenheit geraten lassen sollte. Andernfalls "[...] schädige [er] die Ehre von Weib und Kind, wenn er derartige Geschichten in die Öffentlichkeit trage." [Ruh 1980:15] - so behauptet es zumindest Crimel der Dachs, welcher für die Verteidigung Reinharts zuständig ist. Wovon Crimel hier Gebrauch macht würde man heutzutage als "Gaslighting" bezeichnen. Gaslighting beschreibt "[...] eine Manipulationstechnik, bei welcher das Opfer gezielt desorientiert wird [...]". [1] Durch die Aussage die er tätigt weist er den Leidtragenden der Situation die Schuld zu. Des Weiteren formuliert er seine Aussage so einschüchternd und manipulativ, dass sie sich in Zukunft nicht mehr trauen werden, diese Angelegenheit zur Anklage zu bringen. So wurde der Familie der Wölfe, insbesondere Frau Hersant, hier nicht nur Schaden zugefügt, sondern auch jede Möglichkeit genommen, den Schuldigen dafür zur Rechenschaft zu ziehen - die Tat als solche bleibt somit ungesühnt.
Klimax des Konflikts zwischen Fuchs und Wolf
Den Höhepunkt Reinhart's Listen, stellt jedoch der bereits erwähnte Hoftag dar. Nachdem Isengrin die Taten die Reinhart begangen hatte verkündet steht der Großteil der anwesenden Tiere auf seiner Seite, nicht zuletzt weil manche von ihnen auch schon negative Erfahrungen mit Reinhart machen mussten. Diese Menge an Tieren ist davon überzeugt, dass sich Reinhart für diese zu verantworten hat und fordert, dass er durch das Erhängen mit dem Tod bestraft werden soll. Obwohl Reinhart also ursprünglich für seine Untaten angeklagt und zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wendet er sich schnell durch eine List heraus und schafft es nun, auf diabolische Art und Weise, Isengrin gravierenden Schaden zuzufügen.
Vorangegangene Geschehnisse
Reinhart gibt sich als Botschafter eines Arztes aus, welcher ihn aus der Ferne entsendete um den Löwenkönig Vrevel von seinem Leid zu befreien. Aufgrund seiner eloquenten Ausdrucksweise, schafft es Reinhart sich das Vertrauen des Königs zu erschleichen. Als er diesen von seiner fingierten Loyalität und seinen Bemühungen ein Heilmittel für ihn, den König, zu finden überzeugt hat, erteilt er ihm Rat, wie der König sein doloröses Leiden beenden könne.
Übersetzung der Textstelle (V. 1896-1901)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
'evch enpevtet der arzet me, | 'Des weiteren lässt er mich euch ausrichten, |
ob ir einen alden wolf mvget vinden, | dass wenn ihr einen alten Wolf finden könnt, |
den svlt ir heizen schinden, | ihr ihm die Haut abziehen lassen sollt; |
ovch mvzet ir eines bern hvt han.' | auch müsst ihr die Haut eines Bären haben.' |
Der König Vrevel beschließt sich, diesen Empfehlungen Folge zu leisten und fordert von Isengrin und seinem Kaplan die Pelze ein. Während der Kaplan Vrevel um Gnade anfleht, ist Isengrin insistent und versucht, Vrevel von dem Richtigen zu überzeugen.
Übersetzung der Textstelle (V. 1920-1925)
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
'sol mir alsvs gerichtet sin | 'Soll das also das Gericht |
vmme min wip, daz ist ein not.' | für meine Frau sein, das ist ein Jammer.' |
sinen zagelstrvmph er herfvr bot: | Er zeigte den Stummel des Schwanzes vor und fuhr fort: |
'sehet, wi mich ewer arzat | 'Seht, wie mich euer Arzt |
hinderwert gevnert hat. | hinterrücks geschändet hat. |
ouch mag evch wol ergan so.' | Euch mag es wohl ebenso ergehen.' |
Nachfolgende Geschehnisse
König Vrevel misst den Worten Isengrins jedoch keine Bedeutung bei und lässt ihn und Herr Brun, seinen Kaplan, ergreifen. Anschließend lässt er ihnen, Reinhart's Rat befolgend, das Fell abziehen.
Interpretation der Textstellen
Die Tatsache, dass Reinhart es schafft aus der ursprünglichen Rolle des Angeklagten auszubrechen und alleine durch seine kongeniale Rhetorik und Selbststilisierung den König dazu bringt ihm vollends zu vertrauen ist bestürzend. Denn sein Plan, den er mit einer perfiden und dennoch respektablen Subtilität ausführt, war von Beginn des Hoftages an "[...] das Vertrauen des kranken Vrevel durch das Rechtfertigungsnarrativ vom kundigen Arzt zu gewinnen, um es dann für die Rache am Wolf [...] zu missbrauchen.". [Neudeck 2016:22] Er erschleicht sich somit durch die fingierte, ostentative Loyalität zum König dessen Vertrauen und bringt die Familie der Wölfe dadurch in eine prekäre Situation. Denn diese konnte so keine Gerechtigkeit, für die Dinge die Reinhart ihnen angetan hat, erlangen. Viel gravierender ist jedoch, dass Reinhart, trotz seiner anfänglichen Ohnmacht in der Szene des Hoftags, wieder einmal für das Leid der Wölfe verantwortlich ist. Die zwei Rollen die Reinhart während des Hoftags einnimmt sind einander antithetisch zugeordnet; zunächst erscheint Reinhart als Angeklagter, um sich anschließend in die Rolle des Richters und Rächers zu begeben. vgl. [Ruh 1980:27] Denn er kann von den Wölfen als sein Opfer nicht ablassen und holt somit zum finalen Gegenschlag aus. Dass Isengrin, das Familienoberhaupt der Wölfe, bei lebendigem Leibe, und somit unter brachialen Umständen, sein Fell abgezogen bekommt, verleiht dem Fuchs als bewiesener Widersacher der Wölfe letztlich infernalische Züge.
Auslegungen von Isengrin's Verhalten
Isengrin's Verhalten auf zweierlei Weisen verstanden werden.
Auf der einen Seite kann man argumentieren, dass Isengrin sich aufgrund seiner Loyalität zum König, abgesehen von seinem ausschließlich mündlichem Widerstand, mehr oder weniger freiwillig in sein Schicksal fügt. Vor der Kulisse des Hoftages wurde jedem Tier das erscheint körperliche Unversehrtheit zugesichert. Somit hätte der König Isengrin zumindest an diesem Tag nicht dazu zwingen können sein Fell aufzugeben - wenigstens nicht ohne gegen seine eigenen Versprechungen zu verstoßen und sein Gesicht zu verlieren. Wenn man davon ausgeht, dass sich Isengrin dieses Versprechens bewusst war und daran glaubt, dass der König sein Versprechen hält, muss man davon ausgehen, dass er alles dafür gibt, seinem König eine Genesung zu ermöglichen. Jedoch ist es schwierig, diese Annahme alleine dadurch zu begründen, dass Isengrin nur mündlichen Widerstand leistet. So könnte man beispielsweise auch annehmen, dass Isengrin sich dessen bewusst ist, dass jedem Tier körperliche Unversehrtheit zugesichert wurde, und er sich aus diesem Grund nur verbal zur Wehr setzt.
Der eben dargelegten Interpretation seines Verhaltens gegenüber steht die wahrscheinlichere Annahme, dass Isengrin sich zu diesem Handeln gedrängt fühlt. In der Übersetzung der Textstelle von Vers 1920-1925 wird klar, wie sehr er über das Handeln des Königs enttäuscht ist. Er ist desillusioniert darüber, dass seine Frau und er, selbst vor der Kulisse des Hoftages, keine Gerechtigkeit dafür erfahren, was Reinhart ihnen angetan hat. Dadurch, dass Reinhart in Anwesenheit aller auf prätentiöse Weise von den Gefahren die er, auf der Suche nach einem Heilmittel für den König, auf sich genommen hat berichtet, könnte sich Isengrin dazu gedrängt fühlen, ebenfalls Leid auf sich zu nehmen um neben Reinhart nicht illoyal zu wirken oder in Anwesenheit aller Tiere den Königsdienst zu verweigern. Wenn man die Persönlichkeit und das Verhaltens des Königs als entscheidenden Faktor hinzuzieht, könnte man ebenfalls annehmen, dass Isengrin aus Angst vor diesem so handeln musste. Denn so war er, wenn man die Familie der Wölfe betrachtet, alleiniger Leidtragender. Wenn er sich aber geweigert hätte, zu dem angeblichen Heilmittel beizutragen, wäre es durchaus vorstellbar, dass auch seiner Familie als Konsequenz Leid zugefügt wird. Somit ist Isengrin zwischen der Rolle als Oberhaut einer Familie und der des Wolfes, der für seine Überzeugungen einsteht, hin- und hergerissen.
Fazit
Isengrin
Oberflächlich betrachtet erscheint es leicht und eindeutig nur Reinhart maliziöse Eigenschaften und Taten zuzuordnen. Bei kritischer Betrachtung, fällt jedoch auf, dass auch Isengrin den Gesellenbund den sie anfänglich eingegangen sind, wessen Grundpfeiler die beidseitige Treue ist, gebrochen hat. Er hat die List und Verschlagenheit Reinharts schlichtweg ausgenutzt um seine Familie und sich selbst zu ernähren und somit als Erster gegen die Treueverpflichtung zwischen ihm und Reinhart verstoßen. Aus diesem Grund ist es fraglich, ob das Bündnis nach diesem ersten Vertrauensbruch seitens Reinhart überhaupt noch Bestand hat, oder ob die Vertrauensbasis zu Isengrin und dessen Familie zu sehr geschädigt wurde.
Da Isengrin sich diese Frage jedoch nicht stellt, und stattdessen sogleich auf den Plan mit dem Klosterkeller von Reinhart anspringt, können ihm somit ebenfalls opportunistische Wesenszüge sowie eine gewisse Grund-Naivität zugeordnet werden. Hinzu kommt, dass Isengrin, trotz der Avancen die Reinhart Frau Hersant machte, ihn nach Nahrung ersucht, nachdem er bei ihm Aale witterte. Somit stellt Isegrin sein Verlangen nach Nahrung eindeutig über den verletzten Stolz durch Reinhart's Täuschung - die tierischen Wesenszüge, das Stillen der Grundbedürfnisse, triumphieren somit über die, die nach Ordnung und Ehre trachten. Denn der finale Bruch zwischen ihm und Reinhart geschieht erst nach der Vergewaltigung Hersant's durch Reinhart. Dennoch, oder gerade aus diesem Grund, ist Isengrin's Handeln anders zu bewerten als das Reinhart's. Während Isengrin das Überleben seiner Familie und sich selbst als Ziel hatte, war es bei Reinhart ab einem gewissen Punkt nur noch die Rache die ihn angetrieben hat. Kurt Ruh hat das Vorgehen Reinharts dabei pointiert beschrieben: "[v]ollends provoziert er die Gefräßigkeit und Dummheit des Wolfes.". [Ruh 1980:31] So lockt Reinhart die Familie, oder deren Anhänger, multiple Male in Gefahrensituationen, welche die Wölfe durch Nahrung locken, denen er immer wieder rechtzeitig entflieht - wie im Klosterkeller oder beim Eisfischen, um nur zwei Gelegenheiten zu nennen.
Zudem hat nach Ruh [Ruh 1980:22] eine körperliche Schädigung als auch eine moralische Demontage Isengrins stattgefunden.
Diese vollzog sich, ebenfalls Ruh [Ruh 1980:22] zufolge, in den folgenden drei Etappen:
1.: Szene 1: Wolfsschwur auf der Falle und Szene 2: Hersants Ehebruch - wobei der Wolfsschwur auf der Falle in der vorliegenden Ausgabe nicht dargestellt ist.
2.: Szene 3: Isengrin als Mönch, Szene 4: Fischweiher (Schwanzverlust) und Szene 5: Brunnenszene
3.: Szene 6: (vermiedener) Fuchsschwur auf des Rüden Zähne und Szene 7: Notzucht der Hersant
Die Vergewaltigung von Isengrin's Frau stellt somit die Klimax des sich über zahlreiche Szenen ersteckenden Konflikts zwischen Reinhart und der Familie der Wölfe dar.
Die Vergewaltigung Frau Hersants
In Kapitel 2.4 wurde zwar korrekterweise festgestellt, dass Isengrin Reinhart gewissermaßen zu einer Nähebeziehung zu Frau Hersant eingeladen hat, dennoch muss man hier dem Kontext entsprechend differenzieren. Isengrin hat Reinhart zum Taufpaten seiner Söhne gemacht und somit zu einer Art Verwandten oder engen Freund der Familie. Besonders wenn man hier die Verwandtschaftsbeziehung annimmt wird klar, dass diese Einladung seitens Isengrin nicht sexuell konnotiert oder intendiert war. Wenn man die letztendliche Vergewaltigung dennoch damit entschuldigt handelt es sich um Victim Blaming. Denn "[b]eim Victim Blaming soll aus dem Opfer der Täter gemacht werden.". [2] Da Isengrin im Zuge der Vergewaltigung seiner Frau ebenfalls zum Leidtragenden und somit zum Opfer wird, kann man diese Vergewaltigung keinesfalls durch diese, durch Isengrin bewirkte, Verwandtschaftsbeziehung begründen. Hier muss man schlicht darauf schließen, dass Reinhart seine eigenen Beweggründe hatte. Michael Mecklenburg zeigt auf, dass durch diese Vergewaltigungsszene "[...] nicht nur sexualisierte Gewalt qua überlegener Körperkraft legitimiert wird, sondern eben auch eine Ausübung sexualisierter Gewalt, die sich zur Kompensation von Körperkraft-Defiziten anderer Mittel bedienen darf.". [Mecklenburg 2017:96] So kann man sagen, dass Reinhart die Situation, in der sich Frau Hersant nicht zur Wehr setzen konnte, schlichtweg ausgenutzt hat. Diese Untat, ausgeübt unter solch schäbigen Umständen, verdeutlicht die perfiden Charakterzüge Reinhart's. Fragwürdig ist dennoch, ob Frau Hersant zur Deeskalation der Minne-Werbung beigetragen hat. Als es Seitens Reinhart noch mit einer harmlosen, höfischen Werbung ablief, hat sie ihn bereits in seiner Ehre gekränkt durch eine ruppige Ablehnung. Des Weiteren bleibt die Frage offen, ob sie auf die Minnewerbung eines Anderen, mit stärker ausgeprägter Gewaltfähigkeit und Kraft als bei Reinhart, eingegangen wäre. Diese Frage mag sich Reinhart auch gestellt haben und hat so möglicherweise die Situation des Steckenbleibens von Frau Hersant für seine Zwecke missbraucht um so körperlich über ihre Ideale und sie zu triumphieren.
Fazit zu den Wölfen
"Der Verlust des zagel als Kennzeichen wölfischer Würde [...] und die Notzucht der Wölfin zur Zeit des Landfriedens sind Schädigungen die das Wolfspaar durch Reinhart erfahren hat.". [Velten 2011:105] Reinhart hat somit das Wolfspaar stark geschädigt. Als Isengrin davon bei dem Hoftag berichtet, unterscheidet er zwischen Leibesschaden, am Körper erkennbar, und Schmach, dem psychischen Schaden den sie davon tragen, welcher aus dem Verlust sozialer Geltung und Ehre resultiert. vgl. [Velten 2011: 105]
Reinhart hat sowohl Frau Hersant und Isengrin somit in aller Öffentlichkeit entehrt und Isengrin zusätzlich körperlich mit einem Schandmal versehen. Lediglich die Wolfskinder kommen körperlich ungeschadet aus dem Treue-Bündnis zu Reinhart heraus, sind aller Wahrscheinlichkeit nach jedoch ebenfalls durch den Ehrverlust ihrer Eltern betroffen - Reinhart hat somit die gesamte Familie destruiert.
Bewertung von Reinhart's Verhalten
Machiavelli's Handlungstheorie nach, wiedergegeben durch Gert Hübner, kommt es trotz den Untaten Reinhart's nicht zu einer generellen Antipathie ihm gegenüber seitens der Leser. Dieser Theorie nach ist das Verhalten Reinhart's durch die Lasterhaftigkeit der anderen Akteure gerechtfertigt. In Bezug auf die Wölfe, insbesondere auf Isengrin, ist diese Lasterhaftigkeit durch seine Einfältigkeit und Leichtgläubigkeit gegeben. Diese Charaktereigenschaften werden aufgrund des Mangels an der Kardinaltugend prudentia, die Klugheit, als Laster klassifiziert. vgl. [Hübner 2016:81]
Ob seine Taten jedoch, ohne Bedenken, ausschließlich durch die Torheit seitens Isengrin gerechtfertigt werden können ist fraglich. Es ist zwar Fakt, dass diverse Probleme Isengrin's hätten vermieden werden können wäre dieser bedachter gewesen, dennoch ist es ethisch nicht vertretbar, die physische und psychische Demontage die er erleiden musste in irgendeiner Form zu rechtfertigen. Denn der Standpunkt kann auch ein ganz anderer sein: besonders die Schwachen bedürfen Schutz durch die Starken - sowohl in körperlichen als auch in geistigen Aspekten.
Reinhart's Verhalten am Hoftag
Am Hoftag breitet sich der Konflikt zwischen den Wölfen und Reinhart aus. Um seinen Widersachen gesammelt einen Denkzettel zu verpassen holt Reinhart zum finalen Gegenschlag aus. Dabei verfolgt Reinhart ein ganz bestimmtes Muster: "[d]as Stigma ist das performative Kennzeichnen des Ehrverlusts, ein immerwährender, ostentativer Vollzug der Strafe. Im Text ist dies an den bleibenden Versehrungen der Tiere zu erkennen: dem Verlust von Schwanz und zagel beim Wolf, dem Verlust von Ohren und Kopfhaar beim Bären, dem Verlust der Haut bzw. des Fells bei[m] Wolf [...], sowie dem Heraustrennen eines Gürtels aus der Haut des Hirschen und eines Schinken aus dem Fleisch des Ebers. Diese Versehrungen sind Stigmata oder Schandmalen zu vergleichen, die den betreffenden Tieren Ehre und soziale Geltung zu entziehen.". [Velten 2011:109] Reinhart fügt den Tieren somit nicht nur physische Schmerzen zu, sondern entehrt sie auch für den Rest ihres Lebens. Diese Entehrung hat bei den Wölfen somit Frau Hersant als auch Isengrin getroffen, so sind sowohl das weibliche und das männliche Oberhaupt der Wolfsfamilie durch Reinhart in aller Öffentlichkeit und für alle Zeit entehrt worden. Daher kann man sagen, dass sich "Reinhart Fuchs" in die lange Reihe von Tierdichtungen einreiht, in denen Wolf und Fuchs versierte Widersacher sind, welche sich auf luziferische Weise gegeneinander behaupten.
Literaturverzeichnis
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- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33
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- [*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik. Reflexionen des Politischen in europäischer Tierepik, Berlin / Boston 2016, S. 10–26.
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- [*Velten 2011] Velten, Hans Rudolf: Schamlose Bilder – schamloses Sprechen. Zur Poetik der Ostentation in Heinrichs ‚Reinhart Fuchs‘, in: Scham und Schamlosigkeit. Grenzverletzungen in Literatur und Kultur der Vormoderne, hg. von Katja Gvozdeva und Hans Rudolf Velten, Berlin/New York 2011 (Trends in medieval philology 21), S. 97-130.
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- [*Hübner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96.
- ↑ Gaslighting: arbeits-abc.de. URL: https://arbeits-abc.de/gaslighting/#a1, zugegriffen am 19.01.2021.
- ↑ Victim Blaming: atornix. URL: https://atornix.de/diskriminierung/victim-blaming, zugegriffen am 19.01.2021.