Der Löwe Vrevel (Reinhart Fuchs)

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Diese Seite befasst sich anhand von Textbelegen mit der Figur des königlichen Löwen Vrevel im "Reinhart Fuchs". Hierbei werden vor allem die Ameisenepisode sowie die "Heilung" Vrevels durch die Hauptfigur, den Fuchs Reinhart, analysiert und gedeutet. Des Weiteren erfolgt eine Analyse des Löwen als Symbol im Mittelalter und dessen Rolle im Kontext des Tierepos.

Löwe und Ameise

Die Episode, welche den zweiten großen Teil des "Reinhart Fuchs" (den Hoftag) einleitet, beginnt nach der Vergewaltigung Hersants durch Reinhart (nachzulesen im Artikel über Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs) und dem darauf folgenden Streit und der Trennung von Reinhart und Isegrin (Reinhart Fuchs). Der Szene vorangehend erfolgt eine kurze Vorstellung Vrevels als König und Herrscher über das Land, in welchem alle vorangehenden Episoden stattfinden.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
einem ameizen hvfen wold er gan, Er wollte zu einem Ameisenhaufen gehen.
nv hiez er si alle stille stan Dort hielt er alle dazu an, innezuhalten
vnde sagte in vremde mere, und verkündete ihnen die dreiste Botschaft,
daz er ir herre were. dass er nun ihr Herr sei.
des enwolden si niht volgen, Dem wollten sie nicht folgen,
des wart sin mvt erbolgen. worüber er sehr erzürnt war.
vor zorne er vf die burc spranc, Zornig sprang er auf ihre Festung
mit kranken tieren er do ranc, und kämpfte mit den kleinen Tieren,
in dvchte, daz iz im tete not. weil er glaubte, dass er dazu verpflichtet sei.
ir lagen da me danne tvsent tot Über tausend von ihnen starben,
vnde vil mange sere wunt, und viele von ihnen wurden verwundet,
gnvc bleibe ir ovch gesvnt. doch ein paar von ihnen blieben unverletzt.
sinen zorn er vaste ane in rach, Voller Zorn rächte er sich an ihnen
die bvrk er an den grvnt brach. und zerstörte die Festung bis auf die Grundmauern.
er hatte in geschadet ane maze, Er hatte ihnen unermessliches Leid zugefügt,
do hvb er sich sine straze. als er sich wieder auf den Weg machte.
di ameyzen begonden clagen Die Ameisen klagten
vnde irn grozen schaden sagen, und berichteten von dem großen Schaden,
den si hatten an irem chvnne. den ihr Volk angenommen hatte.
z[ ]ergangen was ir wunne, Ihre Freude war vergangen,
daz waz in ein iemerlicher tac. das war ein schrecklicher Tag.

(RF, 1251-1271) [1]

Nach diesem Abschnitt, welcher das gewaltsame und brutale Vorgehen Vrevels gegen das Ameisenvolk illustriert, liegt der Fokus auf dem zuvor abwesenden Ameisenkönig, der seine Festung nun zerstört, und sein Volk getötet und verletzt vorfindet. Daraufhin fasst er den Entschluss, eigenständig Rache an dem zu nehmen, der seinen Untertanen so ein Leid zugefügt hat. Hierfür beschließt er, durch das Ohr in das Gehirn des Königs einzudringen und diesem von dort aus Schmerzen zuzufügen (vgl. RF V. 1299-1307). Am Ende der Szene wird verdeutlicht, dass Reinhart, im Gebüsch lauernd, die Geschehnisse als einziger beobachtet hat:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
do gesach iz Reinhart Dies sah Reinhart
der was verborgen da bi. der unweit im Verborgenen lag.

(RF, 1302f.)[2]

Sein Wissen um den Hergang des Zusammentreffens wird prägend für den des Hoftages. Somit kann diese Szene als Wendepunkt des Tierepos gesehen werden, der nun von episodenhaften Erzählung der Missetaten Reinharts und dem Leiden Isegrins zu einer relativ zusammenhängenden Erzählung des Hoftages (mit episodenhaften Einschüben) wechselt. Sie legt außerdem den Grundstein für den weiteren Verlauf der Beziehung zwischen Reinhart und Vrevel, welche im nächsten Abschnitt näher erläutert werden soll.

Löwe und Reinhart

Ablauf des Zusammentreffens

Im Rahmen der großen Episode des Hoftages findet das Zusammentreffen von Reinhart und Vrevel statt. Kurz nach Eintreffen Reinharts nach der dritten und letzten Vorladung findet ein persönliches Gespräch der beiden Figuren statt, das nun in den Vordergrund rückt und die Szenerie des Hoftages sowie alle weiteren Teilnehmer vorerst in den Hintergrund verbannt:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Reinhartes liste waren gros, Reinharts Verschlagenheit hatte keine Grenzen
er sprach: ,kvnic, was sol dirre doz? er sagt: "König, was soll dieser Lärm?
ich bin in mangen hof kvmen, Ich bin schon an manchen Hof gekommen,
daz ich selden han vernvmen doch noch nie habe ich
solche vngezogenheit. solch eine Ungehorsamkeit erlebt.
des war, iz ist mir vur evh leit.' Die tut mir wahrlich leid für euch."
der kvnic sprach: ,iz ist also.' Darauf antwortete der König: "So ist es eben."
vberbrechten verbot man do. Daraufhin wurden die Einwürfe untersagt.
Reinhart sprach: ,evch enpevtet den dienst sin, Reinhart sagte:
reicher kvnich, meister Pendin, "Mächtiger König, euch bietet Meister Bendin seine Dienste an,
ein artzt von Salerne, ein Arzt aus Salerno,
der sehe ewer ere gerne, der euch sehr schätzt -
vnde dar zv alle, di da sint, wie es alle dort tun -
beide di alden vnt di kint. ob alt oder jung.
vnde geschiht evch an dem liebe icht, Sollte euch irgendetwas zustoßen,
daz enmvgen si vberwinden niht. so werden sie nicht darüber hinwegkommen.
herre, ich was zv Salerne , Herr, ich war deshalb in Salerno
dar vmme, daz ich gerne weil ich euch unbedingt
evh hvlfe von diesen sichtagen. von eurer Krankheit befreien möchte.
ich weiz wol, daz allez ewer dagen Ich weiß genau, dass euer ganzer Schmerz
in dem hovbet ist, swaz iz mvge sin. im Kopf begründet liegt, was es auch immer es sein könnte.
evch enpevtet meister Bendin, Meister Bendin lässt Euch ausrichten,
daz ir evh niht svlt vergezzen, dass Ihr es nicht vergessen dürft,
irn svlt tegliche ezzen täglich die Heilkräuter zu essen,
dirre lactewerien, di er evh hat gesant.' die er für euch gesendet hat."
,daz leist ich', sprach der kvnic ze hant "Das werde ich tun", sagte der König sofort.

(RF,1865-1889) [3]

Hier wird deutlich, dass es Reinhart nun gelingt, den Fokus des Königs vom eigentlichen Anlass des Zusammentreffens, der Verurteilung Reinharts für seine Verbrechen an anderen Tieren, abzulenken und so einer Rechtsprechung zu entgehen. Der Hoftag wird somit zur Bühne, auf der Reinhart mit Hilfe des Königs Vrevel als seine Marionette Rache an allen verüben kann, die ihm schaden wollen. Im Unterschied zu vorangehenden Episoden, ist hier jedoch nicht von Beginn an klar, dass Reinhart mit seiner List auch Vrevel schaden will. Es scheint zunächst so, als würde er ihn wirklich ausschließlich aufgrund seiner Leichtgläubigkeit und Machtposition ausnutzen, jedoch nicht, dass er zwingend böse Absichten gegenüber Vrevel selbst hat. Dies steht im klaren Kontrast zu den vorherigen Listen (vgl. Fuchs und Meise (Reinhart Fuchs)), bei denen von Beginn an klar kommuniziert wurde, dass Reinharts Gegenspieler Leid davontragen würden.

Nichtsdestotrotz wird auch Vrevel am Ende ein Opfer Reinharts, als dieser ihn nach vollbrachter Rache (für welche er die Verzweiflung des Königs über seine Krankheit ausnutzte) mit Hilfe eines Trankes umbringt:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
er sprach: ,herre, ich wil ev geben einen tranc, Er sagte: "Herr, ich will Euch einen Trank geben,
so sit ir ze hant genesen.' danach seid ihr sofort genesen."
der kvnic sprach: ,daz sol wesen.' Der König antwortete: "So soll es sein."
do brov er des kvniges tot. Da braute er des Königs Tod.
Reinhart was vbele vnde rot, Reinhart war übel und rot,
daz tet er da vil wol schin: was er jetzt klar zeigte:
er vergab dem herren sin. er vergiftete seinen Herrn.

(RF V. 2168-2174) [4]

Folgen des Zusammentreffens

In Folge der Täuschung durch Reinhart und des unverdienten Vertrauens, welches Vrevel ihm entgegenbringt, findet in der Episode eine Rollenverschiebung statt, durch welche Vrevel seine Machtposition verliert und Reinhart in die Rolle des Richters und Vollstreckers schlüpft. (vgl. [Ruh 1980:27] ). Somit besiegelt Vrevel durch seine Leichtgläubigkeit und Verzweiflung über seine Krankheit nicht nur sein eigenes, sondern auch das Schicksal aller Tiere, die nun Reinharts List zum Opfer fallen. Dadurch ist die Charakterschwäche einer einzigen Figur Auslöser für eine „kollektive Katastrophe“ [Neudeck 2016: 23], in Folge derer zahlreiche Tiere und sogar Vrevel selbst ihr Leben verlieren. Diese Vorfälle können jedoch nicht nur als tragische Einzelschicksale gedeutet werden. Durch den Tod des Königs und anderer hochgestellter Tiere am Hof ist die gesamte monarchische Gesellschaft in Gefahr: „[Reinhart] zerstört auch nachhaltig die politische Ordnung in der Tiergesellschaft, indem er am Ende sogar selbst Hand anlegt und ihre monarchische Spitze beseitigt.“ [Neudeck 2016: 23]. Vrevel, als König stellvertretend für Recht und Ordnung im Tier-Königreich, besiegelte durch seine Entscheidung, Reinhart zu vertrauen, seinen eigenen Tod und somit auch das Ende der Tiergesellschaft, wie sie bis dato bestand.

Charakterisierung

Hintergünde der Namensgebung

Der vom Autor gewählte Name ‚Vrevel‘ ist zweideutig: Er trägt einerseits die Bedeutung "Kühnheit", andererseits aber auch "Gewalttätigkeit".[Dietl 2010:51] Interessanterweise ist dies der einzige Name, mit welchem der Autor des Tierepos von der französischen Vorlage abweicht. Im französischen "Roman de Renard" heißt der Löwe ursprünglich "Noble". Diese intentionale Ersetzung ändert nicht nur den Namen, sondern auch den Charakter des Löwenkönigs: "Dem höfischen, jovialen Nobel [...] steht der zugleich lächerlich-würdelose wie tyrannisch-willkürliche Vrevel gegenüber" [Ruh 1980:23] [Dietl 2010:51]. Der König verliert damit höfische Qualitäten und wird passend zu seinen Handlungen in ein brutales, gewalttätiges Licht gerückt. Wie im ersten Abschnitt (Löwe uns Ameise) näher erläutert, kreiert auch die im Handlungsverlauf erste Begegnung des Lesers mit der neu auftretenden Figur im "Reinhart Fuchs" ein stark negatives Bild seines Charakter. Das dort begangene Verbrechen gegen das Ameisenvolk bestätigt die moderne Bedeutung seines Namens ("Untat"), wodurch die anfängliche Skepsis des Lesers gegenüber der Figur bestärkt und eine negative Assoziation hervorgerufen wird. Dies war, trotz der abweichenden Bedeutung des Wortes ‚Vrevel‘ im Mittelhochdeutschen, wohl bereits zur Entstehungszeit der Fall. Denn obwohl die Deutung eine andere war, „[…] bezeichnet [das Wort] durchweg negative Qualitäten: ‚Herrschsucht‘, ‚Frechheit‘, ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Rechtsbeugung‘.“ [Ruh 1980:23]. Diese sind also in ihrer negativen Konnotation identisch mit der modernen Bedeutung und darüber hinaus in ihrer letzteren Lesart sogar weitaus präziser auf bestimmte Aspekte des Tierepos zugeschnitten.

Historische Bezüge

Der Gifttod Vrevels gibt Hinweise auf mögliche historische Hintergründe der Herrscherfigur. Aufgrund dieses Details ist eine Verbindung zu Kaiser Heinrich VI. denkbar, welcher so als Vorlage für die Königsfigur angesehen werden könnte. Im Dienste der antistaufischen Propaganda wurde in der "Sächsischen Weltchronik" (1230) das Gerücht verbreitet, beim Tod des Kaisers im Jahre 1197 handle es sich um eine Vergiftung [Ruh 1980:28]. Dort wird der Kaiser in erstaunlicher Kongruenz mit der Figur des Vrevel als tyrannischer Willkürherrscher und als Feigling gegenüber den deutschen Fürsten dargestellt. Eine Gleichsetzung zwischen Vrevel und Heinrich VI. ist indes nicht legitim. Es sind lediglich einzelne Andeutungen, die ein antistaufisches Publikum auf staufische Verhältnisse aufmerksam machen [Ruh 1980:28].

Stärken und Schwächen

Die bereits durch die Namensgebung zu vermutende Rechtsbeugung findet ihre Realisierung am Hoftag, welchen Vrevel infolge seiner Erkrankung einberuft: „Der König deutet die Krankheit als Strafe Gottes für ein lange Zeit versäumtes Hofgericht.“ [Ruh 1980: 23]. Bei diesem soll die Rechtsprechung über Reinharts Verbrechen erfolgen (genauer nachzulesen im Artikel Inhaltsangabe (Reinhart Fuchs) ) und König Vrevel agiert als Richter. Reinhart kommt letztendlich jedoch ohne Strafe davon, während Vrevel und Angehörige seines Hofes ihr Leben lassen müssen. Dies alles geschieht infolge einer List Reinharts, für welche er sein Wissen über die Ursache für die Krankheit des Königs nutzt, um sich als Arzt auszugeben und dem König ein Heilmittel für dessen Leid anzubieten. Das Verwerfliche an diesem Heilmittel ist, dass es nicht etwa eine bestimmte Kräutermischung ist, sondern laut Reinhart die Haut eines alten Wolfes, ein Bärenfell und eine Mütze aus Katzenfell, sowie ein gekochtes Huhn, Eberspeck und ein Gürtel aus Hirschleder benötigt werde. All dies fordert der König nun von den Tieren seines Hoftages ein. Da diese der Forderung nicht nachkommen wollen, setzt Vrevel diese mit Gewalt um und wird durch jene Anordnung zum Henker. An dieser Stelle „[…] bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn […]“ [Neudeck 2016: 22] und es wird deutlich, dass ihm die Chance auf Heilung mehr bedeutet als das Leben seiner Untertanen. Hier zeigt sich nicht nur die eigennützige Veranlagung der Königs, sondern in besonderem Maße auch dessen Leichtgläubigkeit. Er vertraut lieber einem Fremden, der ihm Heilung verspricht, als den Angehörigen seines Hoftages, die ihn vor den Listen Reinharts warnen und um Gnade für sich selbst bitten. Somit zeigt sich in der Opferung der Tiere nicht nur die Machtposition und körperliche Stärke des Königs, welche ihn zu einem solchen Handeln ermächtigen, sondern in besonderem Maße auch die charakterliche Schwäche, die ihn anfällig für Manipulation und Reinharts Versprechen macht. Hierdurch gerät nicht nur die persönliche Schwäche der Figur, sondern auch „[…] die Schwachstelle monarchischer Gesellschaft in den Blick: die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie seine Manipulierbarkeit im Besonderen.“ [Neudeck 2016: 22]

Religiöse Aspekte

Vrevels Handlung wird noch auf einer weiteren als der moralischen Ebene verwerflich, wenn wir auf die eigentliche Begründung für die Einberufung des Hoftages zurückblicken. Der König führt seine Schmerzen auf eine göttliche Strafe zurück, was nahelegt, dass Vrevel als religiöse und gläubige Figur anzusehen ist (aufgrund des historischen Kontextes und der Entstehungszeit des Textes kann von einem christlich-katholischen Glauben ausgegangen werden). Somit verstößt die Entscheidung, andere Tiere zu opfern, gegen ein Gebot seiner Religion und er macht sich nicht nur moralisch, sondern auch gegenüber seinem Gott schuldig. Seine Verzweiflung und Angst geht also soweit, dass er seinen eigenen Glauben und die damit einhergehenden Werte verrät, um sich selbst zu retten.

Fazit

Charakteristiken Vrevel.PNG

Im rechten Schaubild werden nun nochmal die wichtigsten Charakteristiken Vrevels aufgearbeitet. Dabei wird deutlich, dass die Figur sowohl von mit (körperlicher) Stärke verbundenen (rot) als auch von eher mit Schwäche konnotierten Attributen (grün) definiert wird. Somit ist die Figur Vrevel ein sehr zwiespältiger Charakter. Einer körperlichen Stärke wird geistige und persönliche Schwäche entgegengestellt, der Brutalität, mit der er das Ameisenvolk angreift, steht eine starke Verletzlichkeit und Angst, sein eigenes Leben betreffend, gegenüber. Es wird das klassische (mittelalterliche) Bild eines autoritären und starken Herrschers gezeichnet, das jedoch gleichzeitig durch die Darstellung von Verzweiflung und Angst durchbrochen wird, und so seine persönlichen Schwächen in den Vordergrund rückt. Vrevel vereint in sich selbst die Gegensätze, welche sich schon in früheren Abschnitten des Textes gegenüberstanden. Bereits in Form des Konflikts zwischen Wölfen und Fuchs wird die körperliche Stärke (der Wölfe) dem Geist und der List Reinharts entgegengestellt. In beiden Fällen, sowohl diesem Konflikt als auch im inneren Konflikt Vrevels, siegt der Geist über den Körper. Im Falle Reinharts ist dies eine Stärke, im Falle Vrevels jedoch eine klare Schwäche, wodurch der Ausgang eines Zusammentreffens der beiden Figuren bereits vorherbestimmt war.

Bewertung des Handeln Vrevels

„Das Handlungsziel kann unter der Voraussetzung der Tiernatur kein Gegenstand eines moralischen Urteils sein; bei der Übertragung aufs Menschliche fällt es unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung.“ [Huebner 2016:87] Will man das Verhalten Vrevels also bewerten, so kann man keine rein menschlichen Maßstäbe hierfür ansetzen. Auf der menschlichen Ebene der Moral wäre die Opferung anderer Tiere zum eigenen Nutzen verwerflich und zeugt von schlechtem Charakter. Folgen wir aber Machiavellis Ansatz (vgl. [Huebner 2016] ) , nach welchem jedem Lebewesen naturgegeben das Recht auf Selbsterhaltung zusteht, wird eine andere Facette von Vrevels Handeln beleuchtet. Es bleibt weiterhin eigennützig und skrupellos, doch wird es durch seine Schmerzen und die Todesangst, die er durch ebendiese empfindet, legitimiert. Sein Selbsterhaltungstrieb setzt ein und jede darauffolgende Handlung dient allein der Erfüllung seines Naturrechtes. Der Rahmen, in welchem die Handlung stattfindet – die tierische Inszenierung eines typisch menschlich-feudalen Hoftages –, verleitet dazu, die tierischen Akteure zu sehr zu anthropomorphisieren und daher fälschlicherweise menschliche Maßstäbe für moralisches Handeln anzuwenden. Es muss jedoch beachtet werden, dass die im Tierepos dargestellten Figuren sowohl menschliche als auch tierische Eigenschaften haben, infolge derer beide Aspekte der Figur für eine Bewertung herangezogen werden müssen.

Opfer oder Täter?

Täter

Der königliche Löwe Vrevel ist ein zwiegespaltener Charakter, der, ähnlich wie Reinhart, sowohl Opfer- als auch Täterepisoden durchlebt. In seinem ersten Auftritt im Text wird er ganz klar als Täter dargestellt. Sein Angriff auf das Ameisenkönigreich trotz eines vereinbarten Landfriedens (vgl. V 1247 ff.) und in besonderem Maße die Reaktion des Königs auf die Weigerung des Ameisenvolkes, sich ihm zu unterwerfen, die Zerstörung ihrer Festung und die Ermordung vieler Tiere, zeichnen das Bild eines machtsüchtigen und rücksichtslosen Herrschers. Seine körperliche Stärke und Überlegenheit dienen ihm als vorrangiges Mittel zu Machterhalt und -gewinn. Die darauffolgende Szene, in welcher der König der Ameisen sich an Vrevel für seine Untaten rächen will, dafür in dessen Kopf krabbelt und ihm unerträgliche Schmerzen bereitet, wirkt wie eine angebrachte Reaktion und nachvollziehbare Strafe für die vorherigen Verbrechen. Auch die Entscheidung, seine eigenen Untertanen für den egoistischen Wunsch nach Heilung zu opfern, unterstreicht das klare Bild eines Täters, der aktiv zum Leid anderer beiträgt.

Opfer

Doch nicht nur der Racheakt des Ameisenkönigs an sich, sondern vor allem auch, dass Reinhart diese Szene beobachtet, spielt eine Schlüsselrolle im weiteren Schicksal Vrevels, welcher nach seiner anfänglichen Untat und dem vermeintlichen Beweis von Stärke zunehmend eine Opferrolle einnimmt und kontinuierlich mehr und mehr Schwächen offenbart. Als er in Folge seiner Schmerzen (die er göttlicher Bestrafung gleichstellt) Gericht hält, wird an mehreren Stellen verdeutlicht, wie abhängig der König von seiner eigenen Gefolgschaft ist. Nicht nur lässt er sich mehrfach zu einem Aufschub der Rechtsprechung (durch die dreimalige Vorladung Reinharts) überreden, er fällt das Urteil über Reinharts Strafmaß auch nicht selbst, sondern gibt diese Aufgabe an einen anderen ab. Diese Handlung hinterfragt klar die vorhergehende Darstellung Vrevels als rücksichtslosen und machtbesessenen Herrscher, da die Übertragung dieser Entscheidung auf einen anderen eine Form von Gewaltenteilung und die Existenz anderer Tiere mit Einfluss im Königreich andeutet. Gleichzeitig ist dies aber auch ein klares Zeichen fehlenden Durchsetzungsvermögens und der Unsicherheit, was seine eigenen Entscheidungen betrifft. In der Position eines Herrschers machen ihn diese Eigenschaften angreifbar und schlussendlich zum Opfer seiner eigenen Berater sowie Reinharts.

Fazit

Im folgenden finden sich noch einmal zusammengefasst die Handlungen, welche Vrevel als Opfer oder als Täter darstellen:

Opfer Täter
Befall durch Ameisenkönig (Racheakt) Angriff auf Ameisenvolk
Beeinflussung durch Kamel, Elefant und Krimel Herrschaftsanspruch trotz Landfriedens
Beeinflussung und Täuschung durch Reinhart ordnet Ermordung seiner Gefolgsleute an
Ermordung durch Reinhart nimmt Leid und Tod anderer im Tausch gegen eigene Gesundheit in Kauf

Die Figur Vrevel kann hier weder klar als Opfer, noch klar als Täter identifiziert werden. Abschließend kann aber argumentiert werden, dass sich die Opferrolle Vrevels in der Konsequenz erst durch den Angriff auf das Ameisenvolk entwickelt hat. Da kein Hintergrundwissen über Ereignisse vorliegt, in die Vrevel davor involviert war, kann dieser Gewaltakt als Auslöser für alle folgenden Handlungen gesehen werden. Wäre Vrevel also nicht eigenständig zum Täter geworden, wäre die Rache des Ameisenkönigs, in dessen Folge auch der Hoftag und somit der Kontakt zu Reinhart, welcher seinen Tod besiegelte, ausgeblieben und der König nicht zum Opfer geworden.

Der Löwe als Symbol im Mittelalter

Die 'Natur' des Löwen

In den mittelalterlichen Bestiarien, Tierdichtungen, die angebliche Eigenschaften von Tieren mit christlicher Heilslehre verbinden und die Weiterführungen des "Physiologus" waren, wurden dem Löwen ganz bestimmte, Christus-ähnliche Eigenschaften zugeordnet. So wird ihm beispielsweise nachgesagt, mit offenen Augen zu schlafen, wie auch Christus, dessen Herz auch im Schlaf immer offen sei. Auch nachdem er am Kreuz in den ewigen ‚Schlaf‘ fiel, wacht er noch über die Menschheit. Des Weiteren wird einem Löwenvater nachgesagt, er könnte totgeborene Löwenkinder am dritten Tag nach deren Tod durch ein Brüllen wiedererwecken - eine weitere Parallele zur Geschichte Christi. In diesen Tierdichtungen wird der Löwe außerdem oftmals als barmherzig und gütig beschrieben, von ruhiger Natur und Unschuldigen gegenüber milde. „Besonders diese Natur des Löwen entwickelte sich im späteren Verlauf des Mittelalters zu einer der vorbildlichsten Herrschertugenden.“ [Nunez 2016] Daraus folgend ist die Darstellung eines Herrschers als Löwen bzw. die Implikation, dass ein Löwe der geborene Herrscher ist, wie sie auch im "Reinhart Fuchs" angenommen wird, sowohl heilsgeschichtlich als auch moralisch gestützt. Neben der christlich-positiven Deutung des Löwen bestand jedoch auch eine negative Konnotation: „Neben dem Drachen stand er oft für Laster, für das Bedrohen des Sünders und die Mächte des Bösen. Er war also sowohl der Christuslöwe als auch der teuflische Löwe, und beide hatten eine herrscherliche Stellung: der eine über die himmlischen Mächte und die Schöpfung und der andere über die Dämonen und die wiedergöttliche Welt.“ [Nunez 2016]

Adaption der Löwensymbolik im Reinhart Fuchs

Im Reinhart Fuchs werden beide Seiten der Löwensymbolik durch die Figur des Vrevel veranschaulicht. Im ersten Auftritt zeigt er sich als brutaler und rücksichtsloser Herrscher, der aus reiner Machtgier das Ameisenvolk angreift; durch die Einberufung des Hoftages als Reaktion auf seine Schmerzen, die er als göttliche Strafe empfindet, zeigt er sich jedoch als gläubiger und demütiger Christ, der seinem Herrn dienen will. Während des tatsächlichen Hoftages entsteht zunächst der Eindruck, er sei an einer gerechten und fairen Rechtsprechung interessiert, als er nicht nur die Opfer Reinharts ausführlich über dessen Verbrechen berichten lässt, sondern auch (nach Empfehlung seiner Berater) ebendiesen mehrmals vorlädt, bevor ein Urteil gefällt wird. Er erfüllt somit zunächst augenscheinlich die Herrschertugenden, die einem Löwen laut mittelalterlicher Tiersymbolik zugeschrieben werden.

Dies ändert sich jedoch, als Vrevel sich entscheidet einen Teil der Mitglieder seines Hoftages zu opfern, um sich selbst von seiner Krankheit zu heilen. Hier verkehrt sich die so oft gezogene Parallele zwischen Löwen und Christus ins Gegenteil – Vrevel kann die Entscheidung treffen, seine eigene Gesundheit aufs Spiel zu setzen, sich selbst zu opfern, um andere Tiere zu retten. Er verfolgt jedoch egoistische Ziele und statt sich selbst für das Wohlergehen der Anderen zu opfern, wie Christus sich für die menschlichen Sünden kreuzigen ließ, beschließt er stattdessen, das Leben unschuldiger Tiere, die eigentlich unter seinem Schutz stehen sollten, für sein eigenes Wohl zu opfern. Auf diese Weise bricht der "Reinhart Fuchs" mit der üblicheren, positiveren Konnotation des Löwen und zeigt diesen in der Figur eines brutalen und egoistischen Herrschers, welcher nicht nur die ihm zugeschriebenen Tugenden nicht erfüllen kann, sondern diese auch verrät.

Literatur

<HarvardReferences />

  • [*Ruh 1980]Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33

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  • [*Neudeck 2016]Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016.

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  • [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.

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  • [*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96

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  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Göttingen 2017 (Aventiuren 12), S. 73-98

<HarvardReferences />

  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54

<HarvardReferences />

  • [*Kolb 1983] Kolb, Herbert: Nobel und Vrevel. Die Figur des Königs in der Reinhart-Fuchs-Epik, in: Virtus et fortuna. Zur deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag, hg. von Joseph Strelka und Jörg Jungmayr, Bern 1983, S. 328-350.

<HarvardReferences />

  • [*Nunez 2016] Nunez, Luisina: Die Entwicklung des Löwen als okzidentales Herrschersymbol im Früh- und Hochmittelalter, München 2016, GRIN Verlag,

https://www.grin.com/document/466004


Achtung!: Wenn du Ausgabe von Reinhart Fuchs zitieren willst, welche uns Herrn Gebert hochlud,

dann beachte das Erscheinungsdatum und verwende die Harvard-Referenz:

<HarvardReferences />

  • [*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005.
  1. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.
  2. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.
  3. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.
  4. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.