Das Leimrutengleichnis (Gottfried von Straßburg, Tristan)
Die Leim-Metapher im Tristan
Liebe und Leim bei Riwalin und Blanscheflur
Das Gleichnis von der Liebe und dem Leim taucht in Gottfrieds von Straßburg Tristanroman das erste Mal in Kapitel II über Riwalin und Blanscheflur auf:
- der gedanchafte Riwalîn
- der tete wol an im selben schîn,
- daz der minnende muot
- rehte alse der vrîe vogel tuot,
- der durch die vrîheit, die er hât,
- ûf daz gelîmde zwî gestât:
- als er des lîmes danne entsebet
- und er sich ûf ze vlühte hebet,
- sô clebet er mit den vüezen an; (V. 841 - 849).
Gottfried vergleicht hier die Liebe Riwalins zu Blanscheflur mit einem Vogel, der sich unüberlegt auf einem leimgetränkten Ast niederlässt und mit den Füßen daran kleben bleibt. So sehr sich der Vogel auch mit aller Kraft um seine Befreiung aus dieser klebrigen Fessel bemüht, es gelingt ihm nicht. Letztendlich bricht er vor Erschöpfung zusammen und verfängt sich vollends im Leim.
Gottfried überträgt die Moral dieser Fabel nun auf Riwalins Situation:
- rehte in der selben wîse tuot
- der unbetwungene muot:
- sô der in senede trahte kumet
- und liebe an ime ir wunder vrumet
- mit senelîcher swaere,
- sô wil der senedaere
- ze sîner vrîheite wider;
- sô ziuhet in diu süeze nider
- der gelîmeten minne.
- dâ verwirret er sich inne
- sô sêre, daz er sich von dan
- noch sus noch sô verrihten kan. (V. 859 - 870).
Der Mensch also, den die Liebe gewissermaßen ebenso überwältigt hat wie der Leim den ahnungslosen Vogel, bleibt, wenn er notwendigerweise wieder in die Freiheit strebt, hilf- und wehrlos in ihr gefangen. Jeder Widerstand ist zwecklos, er entkommt der gelîmeten minne, der "mit Leim bestrichenen Liebe", nicht mehr. In Riwalins Fall wird sein metaphorischer Kampf mit dem klebrigen Leim durch seine extremen Gefühlsschwankungen hinsichtlich seiner Liebe zu Blanscheflur symbolisiert. Hin- und hergerissen zwischen Zuversicht und Zweifel, versucht er mal sich loszureissen, mal wird er von der süßen Hoffnung wieder angezogen. sô er ie harter dannen vlôch,/ sô minne ie vaster wider zôch. (V. 905 f.) Je stärker er versucht, ihr zu entkommen, desto fester hält ihn die Minne fest. Solange bis Riwalin sich schließlich, genauso wie der Vogel, kraft- und willenlos der unbezwingbaren Macht der Liebe unterwirft und nicht länger dagegen ankämpft.
Das selbe Gleichnis bei Tristan und Isolde
Das selbe Gleichnis verwendet Gottfried an anderer Stelle erneut. Und zwar in der Minnetrank - Szene in Kapitel XVI. Tristan und Isolde, durch den Trank in ewiger gegenseitiger Liebe vereint, wehren sich anfänglich verzweifelt dagegen. Isoldes Leiden wird von Gottfried folgendermaßen beschrieben:
- dô sî den lîm erkande
- der gespenstegen minne
- und sach wol, daz ir sinne
- dar în versenket wâren,
- si begunde stades vâren,
- si wolte ûz unde dan.
- sô clebete ir ie der lîm an.
- der zôch si wider unde nider.
- diu schoene strebete allez wider
- und stuont an ieglîchem trite.
- si volgete ungerne mite. (V. 11792 - 11802).
In der gleichen Weise wie zuvor Riwalins Liebes-Leiden, stellt Gottfried Isoldes Kampf mit der unbarmherzigen Minne dar. Auch Isoldes verzweifelter Versuch, den süßen Verlockungen der Liebe zu entkommen, wird in den Bildern des im Leim feststeckenden Vogels erzählt. Jeder Befreiungsversuch resultiert in einer noch stärkeren Bewegungsunfähigkeit, bis die Besiegte den Kampf schließlich aufgibt und sich von der Liebe zu Tristan vollends gefangen nehmen lässt.
Deutung der Metapher
Gefängnis "Minne"
Der klugen Blanscheflur wird vom Erzähler die Kompetenz verliehen, relativ rasch selbst zu erkennen, dass ihr Herz seine bisherige Freiheit nicht etwa durch Riwalins erotische Kräfte, sondern vielmehr durch die Gewalt der Minne verloren hat:
- und semmir got, ich waene wol,
- ob ich's mit êren waenen sol
- und sol ich mich der rede nicht schamen
- durch mînen magetlîchen namen,
- sô dunket mich, diu herzeclage,
- die ich durch in ze herzen trage,
- diu ensî niwan von minnen. (V. 1057 - 1063)