Die Urinepisode (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)
Die Urinepisode in Ulrich von Liechtensteins Frauendienst lässt sich leicht überlesen. Sie ist in Relation zum Gesamtwerk und anderen Episoden sehr kurz, schnell und indirekt beschrieben. Dennoch hat sie großen Stellenwert, denn sie illustriert eingängig die Erniedrigung, die der Ich-Ezähler im gesamten Werk zu erleiden hat. Die Folgen sind für den weiteren Verlauf ausschlaggebend. Die Episode soll daher kurz in den Zusammenhang der Geschichte eingeordnet werden. Anschließend wird die Szene gedeutet und in einem letzten Schritt werden die weiteren Folgen erläutert.
Einordnung in den Gesamtzusammenhang
Vorgeschichte
Es ist der Wunsch der Dame, dass Ulrich als Leprakranker verkleidet zur Essenszeit vor der Burg auf ein Zeichen von ihr warten soll, um dann eingelassen zu werden. (FD, 1114) Dort angekommen mischt er sich mit seinem Boten, der ihn begleitet, unter die Aussätzigen, die auf milde Gaben der Hausherrin warten. Ulrich speist trotz großem Ekel mit den Kranken, wird dann aber nicht zur Dame vorgelassen, sondern erhält die Nachricht, er solle am nächsten Morgen wiederkommen. Nach einer kalten und äußerst unbequemen Nacht im Freien begibt sich Ulrich am nächsten Tag wieder zu den Kranken um schließlich erneut abgewiesen zu werden. Schlussendlich fliegt seine Verkleidung als Aussätziger auf, Ulrich darf sich am Tag der Burg nicht mehr nähern und soll sich deshalb um Mitternacht in einem Graben verstecken und dann an einem Leintuch in das Gemach seiner verehrten Dame klettern. (FD, 1184/85)
Episode mit kurzer Interpretation
Die Episode besteht aus den Versen 1188, 1189 und 1190:
mittelhochdeutscher Text[1] |
neuhochdeutsche Übersetzung[2] | |
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1188 | Als tet ouch der geselle min, wir muosten da vil stille sin. do wir verholn lagen hie, der husschaffer selbe sibent gie umbe die burc her und dar; er nam vil vliziclichen war, ob iemen dar waer verholn chomen, des wart von im wol war genomen. |
So tat es auch mein lieber Freund, wir mußten nun sehr stille sein. Als wir versteckt so lagen dort, da ging der Hausverwalter und sechs Männer um die Burg herum; er hatte eifrig nachzuseh'n, ob jemand heimlich kommen wär'. das nahm er dann auch sicher wahr. |
1189 | Do er ez hier und dort gesach, nu horet, waz mir dort geschach: ez gie der ungemuote man von sinen gesellen zuo mir stan und tet sin unzuht da uf mich, so daz da von gar naz wart ich; des getorst ich im geweren niht, daz was ein wunderlich geschiht. |
Als er so hin- und hergespäht, nun hört, was mir nun dort geschah: Es kam der wiederwärtige Mann, er stand gerade über mir und schlug auf mich sein Wasser ab, und ich war danach ganz durchnäßt; ich traute mich nicht wehren dort, die Sache war recht seltsam doch. |
1190 | Da mit er in die burc sa gie. so saz ich also nazzer hie, daz was mir leit und ungemach; uz der lin daz lieht ich sach liuhten: do stuont ich zehant uf und zoch abe min gewant, daz boese, daz ich durch heln truoc, daz barg ich snellich genuoc. |
Dann ging er in die Burg hinein. So saß ich nun ganz naß herum, ganz elend war's und unbequem; ich sah das Licht im Fenster bald: Da stand ich auf so schnell ich konnt' und zog die Bettlerkleider aus, das ich zur Täuschung hier nun trug, und ich versteckte sie sofort. |
Anschließende Ereignisse
Nach einigen Schwierigkeiten gelangen Ulrich und seine Begleitung in die Räumlichkeiten der Dame, wo ihm zunächst neue Kleidung gereicht wird. Es kommt zu einer Unterhaltung zwischen Ulrich und der Dame, allerdings nicht in einer intimen Atmosphäre sondern immer umgeben von anderen Frauen. Die Dame macht zudem alle Hoffnungen Ulrichs auf körperliche Nähe zunichte. Als verheiratete Frau will sie ihr Ansehen und ihre Ehre schützen und schließt deshalb ein körperliches Verhältnis zu Ulrich kategorisch aus. (FD, 210/11) Obwohl sie ihm versichert, dass bereits seine bloße Anwesenheit in ihrem Gemach ein Ausdruck ihrer Wertschätzung ist, ist Ulrich sehr enttäuscht von diesem Zusammentreffen und wird im Anschluss von Selbstmordgedanken heimgesucht. Der Besuch Ulrichs in der Burg endet mit seinem Absturz aus dem Fenster, da er die Hand der Herrin loslässt, um sie zu küssen. (FD, 1269)
Interpretation
Erniedrigung im Moment
Identitäsverlust
"Null-Person"
Liteaturangaben
Primärliteratur
Der zitierte mittelhochdeutsche Text stammt aus:
- Franz Viktor Spechtler (Hrsg.) (1987): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen: Kümmerle.
Die dazugehörigen hochdeutschen Übersetzungen sind folgendem Werk entnommen:
- Liechtenstein, Ulrich von (2000): Frauendienst. Roman, Aus dem Mittelhochdeutschen ins Neuhochdeutsche übertragen von Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec: Wieser.
Forschungsliteratur
- Ackermann, Christiane: "'min lip reht als ein stumbe sweic', Ich – Subjekt – Körper –: zu Ulrichs von Liechtenstein 'Frauendienst'". In: Ridder, Klaus & Langer, Otto (Hrsgg.) (2002): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 18. bis 20. März 1999, o.A.: Berlin, 139-156.
- Kablitz, Andreas (2000): "Die Minnedame. Herrschaft durch Schönheit." In: Neumeyer, Martina (Hrsg.): Mittelalterliche Menschenbilder. Regensburg: Friedrich Pustet, 79-118.
- Kartschoke, Dieter (2001): "Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur". In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien: o.A., 61-78.
- Kiening, Christian (1998): "Der Autor als 'Leibeigener' der Dame – oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein". In: Andersen, Elizabeth A. et al. (Hrsgg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, o.A.: Tübingen, 211-238.
- Kraß, Andreas: Geschriebene Kleider, höfische Identität als literarisches Spiel; Tübingen 2006.