Die literarische Funktion der Orient-Episoden im Parzival
Dieser Artikel soll sich mit den Orient-Episoden im Parzival beschäftigen. Dabei soll analysiert werden ob und welche Funktion diese haben und inwieweit sie für die Handlung und einzelne Personen wichtig sind.
Gahmurets Auszug in den Orient
Als "Nachgeborener" unterliegt Gahmurtes der Primogenitur und damit ist ihm zwangsläufig eine Mobilität aufgezwungen, die auf andere Weise als durch das Erbrecht in ein Leben voller Ruhm und Ehre führen soll. Aber der Wunsch nach einem Leben gemäß des Ritterethos scheint in besonderer Weise in Gahmuret verankert zu sein: strît und minne was sîn ger (35, 25; 7, 9-30[1]) Allerdings ist es kein vorrangiges Anliegen des Ritters den Orient zu bereisen, vielmehr landet sein Schiff nur aufgrund eines gewaltigen Sturmes im Hafen Patelamuts. (8, 8; 11, 7; 11, 23 f.) Gahmuret entschließt sich vielmehr, einen der mächtigsten Herrscher zu finden, um diesem dann wegen des ideellen Ruhmes zu folgen. Daraufhin erfährt er von Baruk von Bagdad, dem bedeutendsten Protagonisten des Orients. (13, 16-30) Es erfolgt also keine bewusste Entscheidung für den Ritterdienst im Orient, vielmehr wird hier die Macht eines morgenländischen Herrschers instrumentalisiert, um Gahmurets Durst nach Ehre und Ruhm zu stillen. Zusätzlich erscheint hier Gahmuret auch nicht in der Tradition eines Kreuzfahrers, der das Heilige Land zu erobern sucht, sondern eher als Abenteurer. [Goetz 1967: 7] Auffällig ist der pompöse Einzug des Orientreisenden in Zazamanc . Wie die Stadt und ihre fremdartigen Einwohner auf die Reisegesellschaft wirkt, wird nicht beschrieben. Wolfram distanziert sich hier auffällig von anderen Orientpassagen seiner Zeit, beispielsweise im Straßburger Alexander oder Herzig Ernst. Es fehlen die typischen orientalischen Wunder, das Exotische, was gerade Reiz gegenüber dem Abendland ausmacht. [Noltze 1995: vgl. S. 109 ff.] Das weißt darauf hin, dass dem Orient eine andere Bedeutung im Parzival zukommen muss, als die stereotypische Fremdartigkeit . Aber warum lässt Wolfram den jungen Helden in den Orient ausziehen, um Ruhm und Ehre zu erlangen, warum kann er nicht in heimischen Gefilden zum größten Ritter seiner Zeit werden?
Das Höfische bestimmt sich durch seinen Gegensatz, durch Abgrenzung. Die höfische Identität definiert sich durch den Erfahrungsimport der fahrenden Ritter, die letztendlich immer wieder zum Hof zurückkehren, um dort ihre Beobachtungen einzubringen. Der Orient, spezieller Zazamanc, ist ein solcher Schauplatz der Erfahrungssammlung, fernab vom heimatlichen Hof. Die Erwartung, dass sich hier aber eine Abgrenzung zum Abendland einstellt, wird nicht erfüllt, vielmehr offenbart die Erzählung Wolframs den Orient „als Verlängerung des Abendlandes.“[Noltze 1995: 117] [2] „Dem Orient“ widerfährt hier eine Entzauberung, die zu einer Verbindung zweier Kulturkonzepte unter einer bindenden höfisch-ritterlichen Kultur führt. [Goetz 1967: 7] Die Andersartigkeit des Morgenlandes ist zwar noch nicht vollkommen verschwunden, dient aber nicht mehr als Abgrenzungsmerkmal zum Abendland. Damit wird auch klar, warum Gahmuret weder im Orient noch in seiner Heimat ein verankertes Leben führen kann. Diente das Morgenland als reiner Abgrenzungsmechanismus, müsste der fahrende Held seinen Frieden in der Heimat finden, dem ist aber nicht so. Vielmehr ist seine „ewige Heimatlosigkeit in seinem Inneren verankert und kann weder durch „das Fremde“ noch durch „das Bekannte“ befriedet werden. [Noltze 1995: vgl. S. 116-119]
Monströse Wesen aus dem Osten - Cundrîe
Cundrie ist ein tragender Charakter im Parzival und vor allem auffällig durch ihre äußere Erscheinung. Im Vergleich zu der französischen Vorlage hat er sie und ihren Bruder mit Hundeschnauzen, zottigen Gesichtern, Eberzähnen, struppigen Haaren, Bärenohren, Löwenkrallen und einer affenartigen Haut ausgestattet. Sie erscheinen damit wie Fabelwesen und Wisbey führt auf, dass sie damit dem Volk der Hundeköpfigen (Cynokephalen) aus dem Osten entstammen. Damit reiht sich die Figur der Cundrie in den Topos der Häßlichkeit der im Orient beheimateten Völker ein und weist sich als solche aus dem Orientstammende Frau aus. [Kolb 1963: 42] Dabei sind die beiden Geschwister angehörige eines Stammes und nicht etwa einzelne verunstaltete Individuen:
Original | Übersetzung |
---|---|
diu küneginne Secundille,
[…] diu het in ir rîche hart unlougenlîche von alter dar der liute vil mit verkêrtem Antlitzes zil: si truogen vremdiu wilden mâl. […] sît daz ir bêde wârt ein blout,
|
Die Königin Secundille
[…] die hatte in ihrem Reich, das ist gar nicht zu leugnen seit alten Zeiten viele von den Leuten, bei denen auf so verkehrte Weise das, was sonst das Menschenantlitz ist, gebildet war: Sie trugen wahrlich fremde, wilde Zeichen.
|
Doch warum schafft Wolfram diese orientalische Figur und gibt ihr innerhalb der Handlung so eine tragende Rolle? Ihre Abstammung befähigt sie zu vielen Aufgaben, die niemand in der Gralsgesellschaft sonst übernehmen könnte. Sie spricht alle Sprachen, in Geometrie, Astronomie, Dialektik, Rhetorik ist sie bewandert und vor allem ihre pharmazeutischen Kenntnisse sind von unschätzbaren Wert für ihre Mitmenschen, vor allem für den siechenden Anfortas. Sein Krankenlager strotzt nur so vor orientalischen Erzeugnissen: pigment und zerbenzînen smac, müzzel bunt arômatâ (789, 25f.), drîakl und amber tiure (789, 29), cardemôm, jeroffel, muscât (790, 2) und zusätzlich viele wundersame Edelsteine (791, 1-30). Das unsagbare Leid des Anfortas kann nicht mit dem herkömmlichen Wissen behandelt werden, dafür muss eine Verbindung zum sagenumwobenen Orient geschaffen werden, in dem solche wundersamen Heilmittel entsprechend der mittelalterlichen Ansichten über den Osten vorlagen. Die Figur der Cundrie ist also das verbindende Element von Westen und Osten, sie vollzieht einen Wissenstransfer der östlichen Kenntnisse in die höfische Welt und betreibt damit eine Inklusion des Orients. Dass auch ihr Bruder Malcrêatiure enormes Wissen über die Astronomie inne hat (520, 3), beweist, dass die Gelehrsamkeit nicht nur auf die Figur der Cundrie beschränkt ist sondern dass sie paradigmatisch auf den Osten übertragen ist. Zusätzlich scheint […] die in der äußerlichen Form unordentliche, im Herzen jedoch treue und hilfreiche Cundrîe - die [Wolfram] in einer die Vorurteile seiner Zuhörerschaft provozierenden Weise die unattraktivsten Elemente der heidnischen Welt verkörpern läßt, die filii Caini maledicti - eine mildtätige und keineswegs dämonische Rolle in einem Prozeß weltweiter Versöhnung spielen zu lassen. [Wisbey 1971: 213]
Anmerkungen
- ↑ Im Folgenden stets zitierte Ausgabe: [Parzival].
- ↑ Goetz offenbart, dass diese neue Mentalität zu späteren Kreuzfahrerzeiten durchaus nicht selten war. Durch die Entwarnung der Züge zu weltlichen Kolonie- und Handelsunternehmen, die Begegnungen mit der hoch entwickelten islamischen Kultur, dem Kampf zwischen Kaiser und Papst hatten das vorherige Weltbild zumindest in Frage gestellt. Hinzu kamen die zahlreichen Berichte der Rückkehrer aus den Kreuzfahrerstaaten. [Goetz 1967: 8].
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
[*Noltze 1995] Noltze, Holger: bî den dûht in diu wîle lanc – Warum langweilt sich Gahmuret bei den Môren?, in: bickelwort und wildiu moere, hrsg. von Dorothee Lindemann u.a., FS für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, Göppingen 1995, S. 109–119.
[Goetz 1967]Goetz, Hermann: Der Orient der Kreuzzüge in Wolframs Parzival, in: Archiv für Kulturgeschichte, hrsg. von Herbert Grundmann, Köln & Graz 1967, S. 1-42.