Typologie im Tristan (Gottfried von Straßburg, Tristan)

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

In diesem Artikel soll das Prinzip der Typologie kurz angesprochen aber nicht tiefgehend erläutert werden. Vielmehr sollen hier Textstellen genauer betrachtet werden, in denen Tristans Inszenierung als Held Parallelen zu alttestamentlichen Glaubenshelden aufweisen.

Typologie

Bezeichnend für die christlichen Geschichtsdeutung des Mittelalters war ihre eschatologische Ausrichtung. Eschatologisch (von altgrichisch τὰ ἔσχατα ta és-chata, „die äußersten/letzten Dinge“ [wikipedia 2011] ) bedeutet "auf das Ende hinweisend" und bezeichnet ein heilsgeschichtliches Verständnis der Geschichte, nach dem alles, was geschieht, letztendlich der Erfüllung des göttlichen Plans dient.
Hier setzt die Typologielehre an die grundsätzlich darauf beruht, jedem in der Geschichte oder Dichtung vor Christus auftauchenden "Typus" einen auf Christus und den göttlichen Heilsplan bezogenen "Antitypus" zuzuordnen, der die Erfüllung der im Typus gegebenen Verheißung verkörpert [Richardson 1996:S.88]. Ihr zu eigen ist also der grundlegende Gedanke der Analogie: Die Welt ist das Buch, in dem es zu lesen gilt (vgl.[Weddige 2006]). So werden Figuren und Geschehnisse aus dem Alten Testament als Allegorien neutestamentlicher Figuren und Geschehnisse gedeutet (z.B. die Opferung Isaaks als Vorahnung des Opfertods Christi [Luther 2008:1. Mose 22,1-19]), doch auch die heidnische Literatur wird christlich umgedeutet (und somit sozusagen "exorziert" und als Kulturschatz in die christliche Ära hinübergerettet). So wird zum Beispiel Orpheus[Ovid 2010:X,1-85], der in die Unterwelt hinabsteigt, zu einem äußerst populären Antitypus für Christus, der den Tod überwindet, und begegnet uns heute in unzähligen Darstellungen auf mittelalterlichen Kunstwerken [Richardson 1996:S.89].

Die folgende Betrachtung der Parallelen zwischen biblischen Figuren und Tristan allerdings stellt uns unvermeidlich vor die Frage, ob Gottfried hier eine "säkularisierte Typologie" einführt (An essential part of Gottfried's comprehensive strategy is his appropriation of the typological method from the religious realm for his own thoroughly secular purposes - Ein essenzieller Teil der Gesamtstrategie Gottfrieds liegt in der Anwendung der aus dem religiösen Bereich stammenden typologischen Methode für seine durch und durch säkularen Zwecke [Richardson 1996:S.109]), indem er als Antitypus nicht den Gottessohn auftauchen lässt, sondern den durch und durch edlen, aber menschlichen Tristan.

Tristan / David

Auch wenn Gottfried den alttestamentlichen König David nicht mit einem Worte erwähnt [Richardson 1996: S. 89], fallen dem Leser gleich auf den ersten Blick zu viele Parallelen mit dieser Figur ins Auge, als dass man einen Bezug leugnen könnte. Wie in verschiedenen wissenschaftlichen Aufsätzen bereits ausführlich dargelegt wurde (z.B. [Richardson 1996], [Denomy, 1956]) bezieht sich diese (typologisch anmutende) Ähnlichkeit sowohl auf physische Attribute und Fertigkeiten als auch auf Erzählmotive und ganze Szenen innerhalb der Erzählungen.

Erscheinung, Charakter und Kunstfertigkeit

Sowohl David als auch Tristan bestechen durch ihre ungewöhnlich schöne Erscheinung. Beide verfügen über ein derartiges Charisma, dass sie bald von allen als Autorität geachtet werden und spielend die höchsten Ehren bei Hof erringen, ja sogar offiziell als Thronfolger gelten dürfen [Denomy 1956:S. 226]. Ihr außerordentlich gutes Harfespiel öffnet beiden die Herzen großer Könige; bei Tristan sogar zweimal: Seine Musik ist ihm nicht nur Schlüssel zu Markes Hof, sondern öffnet ihm als Spielmann Tantris auch Tür und Tor zum Hof der irischen Königin Isolde.

David:

  • Und er war bräunlich, mit schönen Augen und von guter Gestalt. [Luther 2008:1. Samuel 16,12]
  • ...des Saitenspiels kundig, ein tapferer Mann und tüchtig zum Kampf, verständig in seinen Reden und schön gestaltet, und der HERR ist mit ihm [Luther 2008:1. Samuel 16,18]


Tristan:

dar zuo was ime der lîp getân,
als ez diu Minne gebôt.
sîn munt was rehte rôsenrôt,
sîn varwe lieht, sîn ougen clâr.
brûnreideloht was ime daz hâr,
gecrûspet bî dem ende.
sîn arme und sîne hende
wol gestellet unde blanc.
sîn lîp ze guoter mâze lanc.
sîne vüeze und sîniu bein,
dar an sîn schoene almeistic schein,
diu stuonden sô ze prîse wol,
als man'z an manne prîsen sol.
sîn gewant, als ich iu hân geseit,
daz was mit grôzer höfscheit
nâch sînem lîbe gesniten.
an gebaerde unde an schoenen siten
was ime sô rehte wol geschehen,
daz man in gerne mohte sehen.
V. 3332-3350

(Außerdem war er so schön, wie die Liebe selbst es sich wünschen könnte. Sein Mund war von vollem Rosenrot, seine Haut hell, seine Augen leuchtend. Sein Haar war braungelockt und ganz und gar gekräuselt. Seine Arme und Hände waren wohlgeformt und weiß. Er hatte die richtige Körpergröße. Seine Füße und Beine, an denen seine Schönheit sich am deutlichsten zeigte, verdienten so viel Lob, wie man einem Manne spenden kann. Seine Kleidung war, wie gesagt, mit großer höfischer Eleganz ihm angepasst. An Benehmen und feinem Anstand war er so vollkommen, dass es eine Freude war, ihm zuzusehen.)

>>Tristan, Tristan li Parmenois
cum est bêâs et cum cûrtois!<<
V. 3363-3364

(>>Tristan, Tristan aus Parmenien, wie schön und höfisch ist er!<<)

sîne noten und sîne ursuoche,
sîne seltsaene grüeze
die harpfete er sô süeze
und machete sî schoene
mit schoenem seitgedoene,
daz ieglîcher dâ zuo lief,
dirre jenem dar nâher rief.
(...)
do begunde er suoze doenen
und harpfen sô ze prîse
in britûnischer wîse
daz maneger dâ stuont unde saz,
der sîn selbes namen vergaz.
V. 3566-3572+3588-3592

(Seine Noten und Improvisationen, seine fremdartigen Vorspiele harfte er so lieblich und ließ sie so herrlich ertönen mit herrlichem Saitenklang, dass viele herbeieiten und einander näherriefen. (...) Er spielte so schön und schlug die Harfe so vortrefflich in bretonischer Weise, dass viele da standen und saßen, die ihren eigenen Namen vergaßen.)


David bei Saul

Nachdem König Saul einen Auftrag Gottes nicht so ausgeführt hatte, wie dieser es von ihm verlangt hatte [Luther 2008:1. Samuel 15], verlässt ihn der Geist Gottes. Stattdessen wird er nun von einem bösen Geist geplagt. Seine Diener raten ihm, nach jemandem zu suchen, der ihm auf der Harfe vorspielt, wenn der Geist ihn überfällt. So wird David an den Hof berufen und es dauert nicht lange, bis König Saul ihn "liebgewinnt" und ihn zu seinem Waffenträger macht:
So kam David zu Saul und diente vor ihm. Und Saul gewann ihn sehr lieb und er wurde sein Waffenträger. Und Saul sandte zu Isai und ließ ihm sagen: Lass David mir dienen, denn er hat Gnade gefunden vor meinen Augen. Sooft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter und es ward besser mit ihm und der böse Geist wich von ihm. [Luther 2008:1. Samuel 16,21-23]

Auch Marke bittet Tristan, ihn dann und wann mit seinem Saitenspiel zu erfreuen:

>>dîne leiche ich gerne hoeren sol
underwîlen wider naht,
sô dû doch niht geslâfen maht.
diz tuostu wol mir unde dir.<<
V. 3652-3655

(>>Ich will deine Lieder gerne hören bisweilen am Abend, wenn du nicht schlafen kannst. Das wird dir und mir guttun.<<)

Desgleichen erhebt auch er Tristan in den Stand eines Gefährten und Waffenträgers:

Der künec sprach: >>Tristan, hoere her:
an dir ist allez, des ich ger.
dû kanst allez, daz ich wil:
jagen, sprâche, seitspil.
nu suln ouch wir gesellen sîn,
dû der mîn und ich der dîn
tages sô sul wir rîten jagen,
des nahtes uns hie heime tragen
mit höfschlîchen dingen:
harpfen, videlen, singen,
daz kanstu wol, daz tuo du mir.
sô kan ich spiel, daz tuon ich dir,
des ouch dîn herze lîhte gert:
schoeniu cleider unde pfert,
der gibe ich dir swie vil du wilt.
dâ mite hân ich dir wol gespilt.
sich, mîn swert und mîne sporn,
mîn armbrust und mîn guldin horn,
geselle, daz bevihle ich dir.
des underwint dich, des pflic mir
und wistu hövsch unde vrô!<<
V. 3721-3741

(Der König sagte: >>Höre, Tristan! Du hast alles, was ich möchte. Du kannst alles, was ich gern könnte: Jagd, Sprachen, Saitenspiel. Lass uns nun Gefährten sein, du der meine und ich der deine. Tagsüber wollen wir auf die Jagd reiten, und abends wollen wir uns hier zuhause mit höfischen Unterhaltungen beschäftigen, mit Harfenspiel, Fiedeln und Singen. Das beherrschst du gut. Tu es für mich. Dafür kenne ich Vergnügungen, die ich dir bereite und die du gewiss gerne hast: Prächtige Kleider und Pferde gebe ich dir, soviel du willst. So gut unterhalte ich dich. Sieh, mein Schwert und meine Sporen, meine Armbrust und mein goldenes Horn übergebe ich dir, mein Freund. Kümmere dich um sie, achte auf sie für mich, sei zufrieden und glücklich bei Hofe!<<)

Und wenn im weiteren Verlauf der Geschichte Saul mit dem steigenden Ansehen Davids immer mehr in Eifersucht und Zorn gegen David entbrennt und schließlich seinen Speer auf den Harfenden schleudert, so nimmt auch die Beziehung zwischen Marke und Tristan immer mehr Spannung auf, als Isolde in die Handlung eintritt.


David und Goliath

Datei:Kampf.jpg
Tristans Kampf mit Morold: Überfahrt zur Werder; Zweikampf; Morolds Tod und Tristans Rückkehr zum Festland

Fast noch augenfälliger als die oben beschriebenen Ähnlichkeiten zwischen David und Tristan ist die Parallele des sprichwörlich gewordenen Kampfes eines Jünglings gegen einen übermächtigen Gegner - einmal heißt das Paar David und Goliath, ein anderes Mal Tristan und Morold. Die einzelnen Punkte der Ähnlichkeiten und auch die der Abweichungen folgen bald und sind mit Hilfe der Aufsätze von Richardson und Denomy erarbeitet worden.

Tristan / Josef

Eine weitere Geschichte aus der Bibel, zu der sich Parallelen herstellen lassen, ist die Geschichte Josephs aus dem 1. Buch Mose. Als Lieblingssohn seines Vaters Jakob zieht er den Neid seiner Brüder auf sich, die ihn in eine Zisterne werfen. Dort finden ihn Händler und verkaufen ihn als Sklave nach Ägypten. Durch seine Gabe als Traumdeuter gewinnt er in der Fremde schnell Ansehen. Die Frau des Kämmerers, für den er arbeitet, versucht ihn zu verführen und als Joseph sie zurückweist, wird er ins Gefängnis geworfen. Auch hier hilft ihm wieder seine Begabung als Traumdeuter und er gelangt schließlich an den Hof des Pharaos und in die Position des Zweitwichtigsten Mannes nach ihm. Dort findet auch die Wiedervereinigung mit seinem Vater statt, als seine Brüder während einer Dürreperiode nach Ägypten kommen, das Dank Josefs Deutungen auf die Dürren vorbereitet war.[1]


Die Hauptelemente dieser Geschichte lassen sich auch im Tristan finden. Die hier behandelten Punkte folgen im wesentlichen der von Evelyn M. Jacobson vorgenommenen Auflistung der Basiselemente der Geschichte.[Jacobson 1985: S.570] Auch Tristan ist der Lieblingssohn seines (Zieh-)Vaters: "Wan er in werderhaete/ und bôt ez baz im einem/ dan aller der dekeinem/ [...]/ sîner eigenen kinde/ was er sô vlîzec niht sô sîn." [2182-2187].[2] Es ist zwar nicht der Neid der Brüder, der ihn ungewollt und ohne des Wissens des Vaters von zu Hause fortbringt, dennoch sind sie daran beteiligt. Wenn sie auch nicht ihre Schuld, sie sind aber dennoch die Auslöser da [Jacobson 1985: S.573] "zwei des marschalkes kint/ [...]/ an ir vater kâmen/ und bâten den bihanden,/ daz er in durch Tristanden/ der valken koufen hieze."[2169-2177].

Tristan wird also unfreiwillig nach Cornwall verschlagen so wie Josef nach Ägypten. Beide Male ist es in den Händen von Kaufleuten, in denen sie in die Fremde gelangen. In der Fremde kommen beide in niedriger Position an den Königs- bzw. Pharaohof, Josef als Sklave des Kämmerers, Tristan als angeblicher Sohn eines Kaufmannes [3099-3104]. Bei beiden sind es ihre Talente, nicht ihre Abstammung, die sie zu Ehre bringen. Josef zeigt sein Talent als Traumdeuter. Tristan fällt gleich durch mehrere Fähigkeiten auf: Jagdkunst [2810-2817], Musikspiel, sowohl auf dem Horn [3209-3214] als auch auf der Harfe [3567-3572], und Fremdsprachenkenntnisse [3690-3694].

Ab diesem Punkt sind die Parallelen nichtmehr so deutlich sondern haben eher schematischen Charakter. Beide wachsen in der Fremde auf und schaffen es in der Fremde zum zweiten Mann nach dem Herrscher aufzusteigen. Tristan gelingt dies kurze Zeit nach seiner Ankunft in zwei Schritten: erst ernennt Marke ihn zu seinem "gesellen"[3725/3726], dann zu seinem rechtmäßigen Erben [5152-5158]. Josef hat dieses Glück erst zum Ende seiner Geschichte, nachdem er schon im Gefängnis war und wieder begnadigt worden ist.

Trotz ihres Erfolges bleiben sie doch Außenseiter am Hof und ziehen den Neid anderer auf sich. Tristan ist zwar zuerst allseits beliebt, erst nach seiner ersten Irlandfahrt, als seine Macht deutlicher wird, beneiden die anderen ihn aber so sehr, dass er sogar fürchten muss ermordet zu werden [8365-8378].

Beide werden vom Hof verbannt, Josef wegen einer Anschuldigung angeblichen Missbrauchs, Tristan wegen seiner tatsächlichen Beziehung zu Isolde [16603/4].

Nach einem augenscheinlichen Unschuldsbeweis, kann Tristan wieder an den Hof zurückkehren. Josef wird vergeben, da seine Traumdeuterischen Fähigkeiten erneut gebraucht werden und sich bewähren, er bewahrt Ägypten vor einer Hungersnot.

Ein Element, das Jacobson nicht nennt, ist die Wiedervereinigung mit dem Vater. Riwalin gelangt auf der Suche nach Tristan schließlich an Markes Hof und kann seinen Ziehsohn wiedersehen. Josefs Vater kommt während der Dürre nach Ägypten, nachdem seine Brüder Josef um Korn gebeten haben.



  1. Diese Gliederung folgt der von Evelyn M. Jacobson, S.570
  2. Alle Textzitate nach der unten angegebenen Reclam-Ausgabe[Krohn 2007]


Literaturnachweise

<HarvardReferences />

  • [*Denomy 1956] Denomy, Alexander J. (1956): Tristan and the Morholt. David and Goliath. In: Mediaeval Studies (28), S. 224–232.
  • [*Jacobson 1985] Jacobson, Evelyn M.: Biblical Typology in Gottfried's Tristan und Isolde. In: Neophilologus 69 (1985), S.568-578.
  • [*Krohn 2007] Gottfried von Straßburg: Tristan. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Rüdiger Krohn, Bd. 1 u. 2: Text, Bd. 3: Kommentar, 8./9./12. Aufl., Stuttgart 2007-2008 (RUB 4471-4473).
  • [*Luther 2008] Luther, Martin (2008): Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin Luthers; [Bibeltext in der revidierten Fassung von 1984]. Standardausg., durchges. Ausg. in neuer Rechtschreibung, [Nachdr.]. Stuttgart: Dt. Bibelges.
  • [*Ovid 2010] Ovidius Naso, Publius; Albrecht, Michael von (2010): Metamorphosen. Lateinisch, deutsch. Durchges. und bibliogr. erg. Ausg. Stuttgart: Reclam (Römische Literatur, 1360).
  • [*Richardson 1996] Richardson, John (1996): Niuwer David, Niuwer Orpheus. Transformation and metamorphosis in Gottfried von Straßburg's Tristan. In: Tristania (17), S. 85–109.
  • [*Weddige 2006] Weddige, Hilkert (2006): Einführung in die germanistische Mediävistik. 6., durchges. München: Beck (C.-H.-Beck-Studium).