Die Darstellung des Orients (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
Dieser Artikel beschreibt auf welche Art und Weise Wolfram von Eschenbach Orientmotive in seinen Erzähltext Parzival einbringt, sowie welches Bild er vom Orient zeichnet.
Allgemein
Bekanntermaßen bildet der Conte du Graal von Chrétien de Troyes die Hauptquelle für Wolframs von Eschenbach Parzival. Allerdings können zahlreiche Ausweitungen und Neuerungen des Erzählstoffs ausfindig gemacht werden. So ist der Artusroman des französischen Autors einzig im „westlichen, im arthurisch-bretonischen Bereich“ [Kunitzsch 1984: S. 79] zu verorten, wohingegen Wolfram an mehreren Stellen Bezüge zur orientalischen Welt herstellt. Diese Einbettung von Orientmotiven in die eigentliche Parzival- und Gralerzählung gilt als eine besonders wichtige Erneuerung gegenüber dem als Basis fungierenden Conte du Graal. [Kunitzsch 1984: vgl. S. 79] Durch welche Figuren, Ereignisse und Objekte die Orientthematik im Parzival hervortritt sowie welches Bild Wolfram vom Orient aufzeigt, wird im Folgenden dargestellt.
Orientbezüge im Parzivaltext
Figuren
Bâruc von Baldac
Der heidnische Herrscher, der Kalif von Bagdad, ist Herrscher über mehr als zwei Drittel der Welt (13,16–19)[1], womit Asien und Afrika neben dem dritten Teil Europa gemeint sind. [Raucheisen 1997: vgl. S. 64]. Zudem ist er ebenso "das geistige Oberhaupt aller Ungläubigen und erteilt ihnen den Sündenablass".[Raucheisen 1997: S. 64] Hierin kann eine "Stilisierung auf das Papsttum"[Raucheisen 1997: ebd.] gesehen werden. Wolfram weist auf den immensen Reichtum, die Herrschaftsmacht sowie die Großzügigkeit des Herrschers hin. Darüber hinaus bezieht er aber auch "realistische Geschehnisse, wie seinen Konflikt mit Ipomidôn und Pompeius mit ein".[Raucheisen 1997: S. 65] Nach Raucheisen stellt Wolfram mit dem Bâruc von Baldac einen "vorbildlichen Herrschertypus"[Raucheisen 1997: ebd.] dar.
Belacane
Die dunkelhäutige Belacane ist die Königin über das afrikanische Reich Zazamanc und lebt in der Stadt Patelamunt. Sie ist Gahmurets erste Frau und die Mutter von Feirefiz. Durch ihre dunkle Hauptfarbe entspricht sie nicht dem höfischen Schönheitsideal. Dennoch wird sie als von besonderem Ebenmaß beschrieben. Wolfram wendet sich somit von stereotypen Schönheitsvorstellungen ab, kehrt sie sogar um (24,6–11). Hinzukommt die Tatsache, dass die Königin eine Heidin ist. Doch auch dies lässt sie keineswegs minderwertig erscheinen, denn durch ihre Reinheit wird sie zur Christin ("ir kiusche was ein reiner touf", 28,14).
Feirefiz
Die Figur des Feirefiz verbindet die Grals- und Artuswelt mit der heidnischen Welt des Orients. Seine schwarz-weiße Elsternfarbigkeit erscheint dem heutigen Leser häufig als „konkretes Zeichen für die Verbindung von Orient und Okzident“. [Dallapiazza 2009: S. 102] Zudem fällt auf, dass er neben seiner unkonventionellen Hautfarbe auch durch extravagante und prachtvolle Kleidung hervorsticht (735,5–30). So schmücken etwa besonders edle Steine, die wahrscheinlich aus dem Orient stammen und deren Namen der Erzähler selbst nicht kennt, seinen Waffenrock.
Clinschor
Die Fähigkeit zur bösen Magie hat der Zauberer Clinschor im Orient, genauer in der Stadt Persida, erworben. [Bumke 2004: vgl. S. 191]
Der Orient als Handlungsort
Umrahmung der Haupthandlung durch Orient-Passagen
Durch die Gahmuret-Passage, die als einleitende Erzählung der Haupterzählung vorangestellt ist, sowie durch die Feirefiz-Erzählung am Ende des Romans wird eine „stark orientbestimmte Umrahmung“[Kunitzsch 1984: S. 79] erschaffen. Denn die Dichtung hat ihren Anfang im Orient (da lediglich Gahmurtes Auszug aus Anschouwe der Orient-Passage vorgeschoben ist) und ebenso endet sie im Orient, indem Feirefiz gemeinsam mit Repanse de Schoye in Indien das Herrschergeschlecht der Priester-Könige gründet (822,25–823,9). [Bumke 2004: vgl. S. 191]
Orientalische Ortsnamen
Folgende Orte aus dem Orient werden im Parzival erwähnt: „Alexandire, Arabi, Arabie, Babilon/ Babylonie, Baldac, Damasc, Halap, Kalot enbolot, Marroch, Ninnive, Persia, Ranculat, Sarrazin, Surin“. [Kunitzsch 1984: S. 83] Allerdings fungieren diese Orte nicht immer als Schauplätze für Handlungen und Ereignisse.
Gegenstände aus dem Orient
Die Wundersäule
Clinschor hat diese wundersame Säule aus den Ländern des Feirefiz' mitgebracht ("ûz Feirefîzes landen", 589,10). Sie scheint wie von Zauberhand gemacht und wurde nur aus äußerst edlen Materialien wie etwa Rubin und Smaragd hergestellt. Zudem kommt es Gawan bei der Betrachtung der Säule so vor, als ob die ganze Welt in dieser zu sehen sei und als ob die Länder wie auf einer kreisförmigen Bahn vorüberziehen würden (590,7–9).
Der Gral
Der Gral im Parzival ist ein Edelstein. Höchstwahrscheinlich hängt die Entscheidung Wolframs, den Gral zu einem Stein zu machen, mit der Kenntnis über Steine aus dem Orient, denen heilende und Wunder vollbringende Wirkung zugesprochen werden, zusammen. Jedoch war es bisher nicht möglich, einen bestimmten Edelstein ausfindig zu machen, der als direktes Vorbild für Wolframs Gral gelten kann. [Bumke 2004: vgl. S. 191]
Orientalische Astronomie
Wissenschaftliche Schriften über die Lehren der Astronomie und Astrologie, die aus dem Arabischen stammen und übersetzt werden, gewinnen im 12. Jahrhundert in Westeuropa zunehmend an Bedeutung.[Kunitzsch 1984: vgl. S. 110] Auch der Autor des Parzival interessiert sich für diese Schriften und verstrickt diese Kenntnisse in seinen Roman. So kann etwa die Fähigkeit Flegetanis', den Namen des Grals im Sternenhimmel auszumachen, auf dieses Wissen zurückgeführt werden.
Flegetânîs der heiden sach | Der Heide Flegetânîs sah etwas |
da von er blûweclîche sprach, | am Sternenhimmel mit den Augen, |
im gestirn mit sînen ougen | davon sprach er nur mit Scheu, |
verholenbaeriu tougen. | es war verborgen und geheimnisvoll. |
er jach, ez hiez ein dinc der grâl: | Er sagt nämlich, es gebe da ein Ding, das heiße Der Grâl; |
des namen las er sunder twâl | diesen Namen konnte er ganz leicht lesen in den Sternen, |
imme gestirne, wie der hiez. | da stand es geschrieben, dass er so heiße. |
454,17–23
Außerdem erwähnt Cundrîe in ihrer Rede zur Berufung Parzivals die arabischen Namen der sieben Planeten (782,1–21).
Wolframs Kenntnisse über den Orient
Es ist davon auszugehen, dass Wolframs Orientwissen auf den europäischen Kenntnissen seiner Zeit über die orientalische Welt basiert. Wahrscheinlich ist Wolfram selbst nicht direkt mit dem Orient in Berührung gekommen. Es wird vermutet, dass seine Orientkenntnisse drei Ursprünge haben: Zum einen sind das die Kenntnisse seiner Zeit über Welt- und Erdkunde, zum anderen geben ihm Reiseberichte, etwa von Pilgern und Kaufleuten, Auskunft. Hinzu kommt die lateinische Übersetzungsliteratur aus dem Arabischen. Somit speist Wolfram sein Wissen über die orientalische Welt aus sehr unterschiedlichen Quellen und baut es auf verschiedene Weise in seinen Erzähltext ein. Von einer „einheitlichen arabischen Quelle, aus der Wolfram den gesamten Orientteil des Parzival“[Kunitzsch 1984: S. 80] entnommen haben soll, kann nicht ausgegangen werden. Schließlich liegen zu Lebzeiten Wolframs keine Erzähltexte aus der arabischen Welt vor und es können lediglich fachwissenschaftliche Texte ausgemacht werden. [Kunitzsch 1984: vgl. S. 80]
Wie der Orientstoff in den Erzähltext eingebracht wird
Teilweise fügt sich die Orientthematik gut in die Handlung ein, etwa indem der Handlungsort in den Orient verlagert wird. An anderen Stellen erscheint es jedoch, als ob der Orientstoff vielmehr „rein äußerlich-schematisch für stereotype Aussagen“ [Kunitzsch 1984: S. 81] verwendet wird. So werden etwa die in großer Zahl vorkommenden orientalischen Ortsnamen lediglich in der Gahmurethandlung in den Erzähltext integriert, etwa in dem sie als Schauplätze hervortreten, wohingegen sie in dem übrigen Teil des Erzähltextes vielmehr stereotyp auftauchen. Denn zumeist stehen die orientalischen Ortsnamen für Herkunftsorte exotischer Waren, wie etwa edlen Stoff oder zur groben Skizzierung heidnischer Länder.[Kunitzsch 1984: vgl. S. 81–87] So ist beispielsweise die Rede von "einem Umhang aus Tuch von Sûrîn" (Syrien) ("ein failen tuoches von Sûrîn", 301,28).
Das Bild des Orients im Parzival
Dallapiazza, der die Darstellung des Orients in Bezug auf den gesamten Parzivalroman betrachtet, kommt zu der Ansicht, dass ein positives Bild vorherrschend ist. Denn der Orient wird zumeist sehr märchenhaft, teilweise frei erfunden, ferner positiv und ohne Missachtung oder Unterordnung beschrieben. Darüber hinaus ist das Herrschaftsgebiet des Bâruc von Baldac nach der Ansicht Gahmurtes sowie der des Erzählers dem „westlichen Kaiserreich zumindest in seinem Glanz überlegen“.[Dallapiazza 2009: S. 103] Es fällt auf, dass Gahmurets Orientfahrt eine sehr genaue Darstellung der Pracht und sogar „Freude am Gepränge, am Pomp“[Dallapiazza 2009: S. 103] aufweist. Die Welt des Orients, die heidnische Welt, wird somit nicht nur anerkennungsvoll geschildert, sondern es werden darüber hinaus bewundernde Töne laut. Ferner wird die orientalische Welt der ritterlich-christlichen Welt gleichwertig gegenübergestellt. Die beiden Halbbrüder Feirefiz und Parzival können als eine Verkörperung dieser beider Sphären, die sich in nichts nachstehen, gedeutet werden. In dieser Gleichsetzung kann ein „weitgehend neuer Toleranzgedanke im abendländischen Bewusstsein“ gesehen werden, der sich jedoch stark von dem damaligen Zeitgeist unterscheidet, denn damals dominierte die „Realität und Ideologie der Kreuzzüge“.[Dallapiazza 2009: S. 34f.] Wolfram grenzt sich somit ab von den Kreuzzugdichtungen, in denen "kirchlich-dogmatische Polarisierung das Heidenbild manipuliert"[Raucheisen 1997: S. 63]. Jedoch merkt Raucheisen an, dass die Religion der Bewohner, der Islam, vom Dichter "weitgehend ignoriert" werde.[Raucheisen 1997: ebd.]
Anders als Dallapiazza, der im Parzival ein äußerst positives Bildes des Morgenlands zu erkennen vermag, befasst sich Noltze sehr genau mit der Orientschilderung in der Gahmuret-Partie und verweist auf deren negative Züge. So wird nach Noltze zunächst die Neugierde des Lesers geweckt, indem Wolfram dreißig Verse verwendet, um zu beschreiben, welchen Eindruck der prunkvollen Einzug Gahmurets und dessen Gefolgschaft in die besetzte Stadt macht (18,17–19,16). Jedoch wird nur äußerst knapp und oberflächlich geschildert, wie die ferne Stadt und deren Bewohner auf die Ankömmlinge wirken. Hierin liege nichts orienttypisches und es könnte sich genauso um eine Stadt in Europa handeln.[Noltze 1995: vgl. S. 110] So sind Gahmuret und sein Gefolge nicht überrascht und sie staunen nicht über die Eindrücke über das fremde Land. Hinzukommt, dass die Stadt Patelamunt kein angestrebtes Ziel ist, sondern sie lediglich vom Sturm dorthin getrieben wurden. Parzivals Vater verhält sich zunächst geschäftsmäßig, indem er "dienst umbe guot" (17,11) anbietet. Die Einwohner von Zazamanc erhoffen sich, der Ankömmling könnte sie womöglich aus der Belagerung befreien und bieten ihm "ir golt und ir gesteine" ("was sie an Gold und Steinen besäßen", 17,18). Obgleich er bereits zahlreiche Güter, wie Klumpen von Gold, besitzt, beschließt er dort zu bleiben und gegen die Belagerung anzukämpfen. Die folgenden Verse „liute vinster sô diu naht/ wârn alle die von Zazamanc:/ bî den dûht in diu wîle lanc.“ (17,24-26) werden in der Forschung unterschiedlich gedeutet: So wird diese Stelle etwa mit den Worten da "ward es ihm unheimlich" oder auch "es wurde ihm unheimlich" übersetzt.[Noltze 1995: vgl. S. 112] Bumke übersetzt sogar: „bei denen mochte er nicht bleiben“.[Bumke 1991: S. 53.] Knechts Übersetzung geht in eine ähnliche Richtung, denn er schreibt: „Dunkel wie die Nacht waren alle dies Leute in Zazamanc. Bei denen hier, dachte er, würde die Zeit ihm lang werde“. Zu recht weist Noltze auf die Widersprüchlichkeit des Zusammenhangs der Zeitdehnung und der dunklen Hautfarbe der Bewohner Zazamancs hin.[Noltze 1995: vgl. S. 113] "Auf die außergewöhnliche Erfahrung schwarzer Menschen reagiert der fahrende strît-und minne-Ritter mit dem Gefühl einer Zeitdehnung; keineswegs wirkt Gahmuret hier gespannt – und zwar [...] durchaus im Gegensatz zu einem Publikum, bei dem 'liute vinster sô diu naht' sehr wohl ein gespanntes Interesse geweckt haben werden".[Noltze 1995: S. 113] Trotz der Tatsache, dass Gahmuret von der Schönheit der dunkelhäutigen Belacane kurze Zeit später tief beeindruckt ist, bleibe nach wie vor eine Abneigung des Ritters gegenüber der dunkelhäutigen Bevölkerung spürbar. Von dem Reiz der von Belacane ausgehe, werde diese lediglich überdeckt. [Ebenbauer 1984: vgl. S. 21] Folgt man dieser Ansicht, so scheint Gahmuret ein zwielichtiger Ritter zu sein, dessen Interesse hauptsächlich wirtschaftlicher Art ist. Jedoch gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass die Aussage Gahmurets sehr umständlich formuliert und dabei aber offen gehalten ist. Somit ist es nicht möglich, eine eindeutige Deutung zu finden.[Noltze 1995: vgl. S. 114]
Quellenachweise
<HarvardReferences />
[*Bumke 1991] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, Sechste Auflage, Stuttgart 1991.
[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, Stuttgart/Weimar 2004.
[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009.
[*Ebenbauer 1984] Ebenbauer, Alfred: Es gibt ain mörynne vil dick susse mynne. Belakanes Landleute in der deutschen Literatur des Mittelalters, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 113 (1984), S. 16–42.
[*Kunitzsch 1984] Kunitzsch, Paul: Erneut: Der Orient in Wolframs ‘Parzival’, in: Ruh, Kurt (Hrsg.): Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 113. Bd., Kassel 1984, S. 79–111.
[*Noltze 1995] Noltze, Holger: bî den dûht in diu wîle lanc – Warum langweilt sich Gahmuret bei den Môren?, in: Lindemann, Dorothee u.a. (Hrsg.): bickelwort und wildiu moere, FS für Eberhard Nellmann zum 65. Geburtstag, Göppingen 1995, S. 109–119.
[*Raucheisen 1997] Raucheisen, Alfred: Orient und Abendland. Ethisch-moralische Aspekte in Wolframs Epen Parzival und Willehalm, Frankfurt 1997.
- ↑ Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.