Die Hauptunterschiede zwischen Chrétiens Conte du Graal und Wolframs Parzival (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Es ist mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass der Conte du Graal, auch Perceval genannt, von Chrétien de Troyes die Hauptquelle für Wolframs von Eschenbach Parzival bildet.[1] Jedoch können auch zahlreiche Abweichungen und Erneuerungen im Parzival ausgemacht werden. In folgendem Artikel sollen die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Romanen aufgezeigt werden.

Allgemein

Der Conte du Graal

Der Conte du Graal ist im Auftrag von Philipp von Flandern geschrieben worden und wurde vermutlich zwischen 1180 und 1190 verfasst. Als Quelle diente Chrétien wahrscheinlich ein Buch vom Graal, das ihm sein Auftraggeber gegeben hatte.[Mertens 2003: vgl. S. 26] Auf diese schriftliche Quelle verweist er im Prolog. Es wird davon ausgegangen, dass der Perceval das letzte Werk Chrétiens ist. Es ist unvollendet und bricht mit Vers 9234, in der Mitte der zweiten Gauvain-Passage, abrupt ab. In den meisten der 15 überlieferten Handschriften folgt eine unmittelbare Fortführung der Geschichte. Gesicherte Belege, wie Chrétien seinen Perceval fortsetzen wollte, gibt es jedoch nicht und es können lediglich Vermutungen angestellt werden. Es finden sich zwei nachträglich verfasste Prologe sowie vier Fortsetzungsversionen. Auch Wolfram kannte vermutlich die Weiterführungen des Romans, wobei zwei als besonders wichtig gelten, da sie wahrscheinlich als Quelle für den Parzival dienten. Dies ist zum einen der Bliocadran-Prolog (800 Verse), der eigentlich weniger als Prolog zu verstehen ist, sondern vielmehr als Vorgeschichte der Parzivalhandlung zu betrachten ist. Er handelt vom Leben Bliocadrans, dem Vater des Protagonisten. Zum anderen ist die Gauvain-Fortsetzung, in welcher die Handlung des zweiten Romanhelden beendet wird, von Bedeutung. Es ist ungewiss, wie und über wen Wolfram vom Conte du Graal erfahren hat. Ebenso kann nicht mit Gewissheit gesagt werden, welche Handschriften Wolfram verwendet hat.[Bumke 2004: vgl. S. 237f.]

Die Hauptunterschiede

Inhaltliche Unterschiede

Figurenbehandlung

Bei Chrétien werden viele Figuren nur mit Appelativen, wie etwa „der reiche Fischer“ oder „das hässliche Fräulein“, umschrieben. Zudem benennt Chrétien die Eltern des Romanhelden nicht und so tritt Percevals Mutter lediglich als "verwitwete[...] Herrin" (74)[Chrétien 1991: S. 73] auf. Im Gegensatz dazu benennt Wolfram alle Figuren und stellt sie zudem in ein kompliziert ineinander verstricktes Netz aus Verwandtschaftsbeziehungen. [Mertens 2003: vgl. S. 53] Ferner hat Wolfram einige Figuren umbenannt, wie etwa Condwiramurs, die bei Chrétien Blancheflor heißt. Des Weiteren hat Wolfram mehrere Figuren neu eingeführt (Liaze, Bene, Liddamus,...) und verleiht darüber hinaus einigen Handlungsfiguren andere Charakterzüge als die, die er bei Chrétien vorfindet. Dies kann anhand der Figuren Orgeluse und Ither beobachtet werden.[Bumke 2004: vgl. S. 239]

Handlungsbeginn

Insbesondere am Anfang der zu vergleichenden Romane lassen sich starke Unterschiede erkennen. So ist der Protagonist in dem französischen Artusroman bei Handlungsbeginn bereits ein Jugendlicher. Die Erzählung setzt an dem Tag ein, als Perceval im Wald die Ritter erblickt. Wolframs Parzival folgt einer anderen Handlungsstruktur, denn die Erzählung beginnt mit einer ausführlichen Schilderung der Geschichte der Eltern. Anschließend an die Lebensgeschichte der Eltern berichtet Wolfram über Parzivals Geburt und über Erlebnisse aus dessen früher Kindheit. Die Szene, in der Parzival den Männern mit der schimmernden Rüstung begegnet, findet sich bei Wolfram erst im III. Buch. Informationen über Percevals Kindheit erhält der Leser erst im Laufe der Erzählung. Wolfram hat darüber hinaus die Begegnung mit den Rittern, die bei Chrétien „die komische Wirkung von Percevals Einfälltigkeit i[n] [...] [den] Vordergrund“ [Bumke 2004: S. 61] stellen soll, etwa um die Hälfte des Textes verringert. So hat er die Fragen nach den einzelnen Bestandteilen der Rüstung auf die Frage nach dem Kettenhemd reduziert, denn „bei Wolfram steht die Verwechslung der Ritter mit Gott im Mittelpunkt“.[Bumke 2004: ebd.] Das Motiv der Vorstellung, die Ritter seien Gott, taucht allerdings bereits bei Chrétien auf (125–182)[Chrétien 1991: S. 75–79] und ist keine Erfindung Wolframs. So stellt auch Perceval den Männern mit der schimmernden Rüstung die Frage:"[...]seid ihr Gott?" (174).[Chrétien 1991: S. 79]

Wesentliche Unterschiede innerhalb der Handlung

Bereits der Perceval weist eine zweigliedrige Struktur auf, die sich aus der Parzival- und der Gawanhandlung ergibt. Allerdings erscheinen die beiden Teilhandlungen bei Chrétien stark voneinander getrennt, da es keine inhaltlichen Verknüpfungen gibt. Folglich kann die Zusammengehörigkeit der beiden Teile und die einheitliche Form des Gralromans von Chrétien in Frage gestellt werden kann.[Heinzle 2011: Vgl. S. 412] Wolfram hingegen hat eine Verflechtung der beiden Romanteile geschaffen, indem er Gawan bereits in der Gahmuret-Handlung auftreten lässt. Denn auch Gawan ist bei dem Turnier von Kanvoleis anwesend, allerdings ist er noch ein Kind und nimmt an den Kämpfen nicht teil. Außerdem tritt Parzival im Verlauf der Gawan-Partie im Hintergrund auf und auch Gawan ist in der Parzival-Partie stellenweise anzutreffen. Darüber hinaus bereitet Wolfram den Leser, durch den der Gawan-Handlung vorgeschaltenen Prolog, auf den Wechsel des Protagonisten vor:

Der nie gewarp nâch schanden, Der, den seine Taten nie in Schande brachten,
ein wîl zuo sînen handen soll nun diese Geschichte für eine Weile in die Hand nehmen;
sol nu diese âventiure hân wir kennen ihn als Mann von Adel,
der werde erkande Gâwân. es ist Gâwân.

338,1–4[2].

Des Weiteren unterscheiden sich die Romane in Bezug auf die Abschiedsszene, in der Parzival fortreitet, um ein Ritter zu werden, und seine traurige Mutter zurücklässt. Bei Chrétien blickt Perceval noch einmal zurück und sieht, wie seine Mutter vor Abschiedsschmerz zusammengebrochen am Boden liegt (620–625)[Chrétien 1991: S. 101]. Perceval kümmert dies allerdings wenig – er reitet rasch davon (626–629)[Chrétien 1991: ebd.] In dem französischen Roman wird diese Episode als "Dreh- und Angelpunkt" [Heinzle 2011: S. 418] verstanden, denn sowohl Percevals Cousine als auch der Einsiedler werfen ihm später vor, dass er durch den Tod der Mutter eine große Sünde auf sich geladen habe und diese Sünde zur Folge hat, dass er es nicht vermag, die entscheidende Frage auf der Gralsburg zu stellen: "Wegen der Sünde an deiner Mutter ist dir das geschehen, dies sollst du wissen" (3593–3594) [Chrétien 1991: S. 253] Diese Verbindung kann bei Wolfram nicht ausgemacht werden, denn weder Sigune noch Trevrizent stellen einen Kausalnexus zwischen dem Verlassen der Mutter und deren darauf folgenden Tod und dem Frageversäumnis auf Munsalvaesche her.[Heinzle 2011: Vgl. S. 418] [Bumke 2004: vgl. S. 94] Darüber hinaus hat Wolfram die gefühlskalte Reaktion Percevals auf den Zusammenbruch der Mutter nicht übernommen, denn Herzeloyde fällt erst zu Boden und stirbt, als ihr Sohn außer Sichtweite ist (128,18–22). Die Tatsache, dass Wolfram darauf verzichtet, dass Parzival die am Boden liegende Mutter erblickt, lässt den Romanhelden Wolframs in einem anderen Licht erscheinen als Perceval. Denn Parzival erscheint weniger gefühlskalt und egoistisch als der Protagonist der französischen Vorlage.

Ein weiterer, wesentlicher Unterschied in Bezug auf den Handlungsverlauf findet sich in der Ither-Passage. Bei Chrétien hat der Sieg über den Roten Ritter "die Funktion, die Verbindung zum Artushof herzustellen" [Heinzle 2011: S. 418]. Bei Chrétien ist der Rote Ritter ein Gegner des Artushofes und stellt unberechtigte Forderungen in Bezug auf das Land des Königs und erscheint deshalb als Feind des Artushofs. Im Parzival hingegen erhält die Ither-Tötung eine andere Bedeutung, denn Ither wird gleich am Anfang, noch bevor dessen Namen genannt wird, als ein Verwandter von König Artûs, als "Artûses basen sun" ("der Sohn von des Artûs Vaterschwester" 145,11) vorgestellt. Ither wurde von Utepandragun, dem Vater Artûs', erzogen und erhebt nun Erbansprüche an Artûs (145,13f.). Es bleibt ferner unklar, ob diese Ansprüche berechtigt sind oder nicht. Eine weitere Differenz zu der französischen Vorlage ist, dass Parzival in der Ither-Episode im III. Buch durch die Mitverantwortung Artûs' und Keies ein Stück weit von der alleinigen Schuld an Ithers Tod befreit wird. So wird die Tötung des Roten Ritters bei Wolfram als "unglücklicher Zufall" [Heinzle 2011: S. 419] geschildert, wohingegen Perceval mit voller Absicht auf das Auge des Gegners zielt: "er zielt ihm aufs Auge so gut er kann" (1112).[Chrétien 1991: S. 127]

Große Unterschiede werden des Weiteren in der Einsiedler-Episode ersichtlich: In der französischen Vorlage erlebt der Protagonist hier seine Verwandlung von einem sündhaften zu einem bußhaften Mensch. Im Parzival wird diese Szene erheblich umgestaltet, was bereits der Umfang dieser Passage verdeutlicht: Bei Chrétien erstreckt sich die Szene lediglich auf 300 Verse, bei Wolfram sind es 2100 Verse. Die kirchlich konnotierten Motive, wie sie im Conte du Graal etwa durch den heiligen Ort, die Kapelle, den gerade stattfindenden Gottesdienst sowie die Beichte Percevals vor einem Priester zu finden sind, werden nicht alle von Wolfram übernommen. So verzichtet er sowohl auf den Priester als auch auf die formale und strenge Beichtprozedur. Trevrizent erscheint außerdem als ein Laie, wodurch auch dessen lehrhafte Ratschläge als "Ausdruck einer spezifischen Laienfrömmigkeit"[Bumke 2004: S. 94] gedeutet werden können. Zudem unterscheidet sich auch das Auftreten der Romanhelden vor dem Einsiedler. So wirft sich Perceval weinend vor die Knie des Einsiedlers, wohingegen Parzival "waffenklirrend"[Bumke 2004: S. 94] vor Trevrizent steht und nicht glauben möchte, dass er nur durch einen demütigen Weg Gottes Gnade zurückerlangt. Im Gegensatz zu dem Einsiedler bei Chrétien, der nur äußerst wenig über den Gral und die Gralsgesellschaft verlauten lässt, berichtet Trevrizent ausführlich "über den wunderbaren Stein, seine Kräfte und seine Verbindung zum Himmel, über die Gralsgesellschaft" sowie über die zahlreichen Heilungsversuche Anfortas' (468,1–483,18). Bei Chrétien erfährt der Leser an dieser Stelle lediglich, dass es sich bei dem Gral um einen Hostienbehälter handelt (6427)[Chrétien 1991: S. 397].

Außerdem kann auch anhand der Verwundung des Gralkönigs ein inhaltlicher Unterschied ausgemacht werden, denn bei Wolfram wird Anfortas' Verletzung als eine Bestrafung durch Gott, da er die Gralsgesetze missachtet hat, gedeutet, wohingegen bei Chrétien die Verwundung lediglich als Kampfverletzung erachtet wird: "[...] aber er wurde in einer Schlacht verwundet und verstümmelt, das ist sicher" (3509–3510) [Chrétien 1991: S. 249].

Ein weiterer bedeutender Unterschied kann in der Einbettung von Orientmotiven in das Handlungsgeschehen sowie in dem Einstreuen von Kenntnissen aus unterschiedlichen Wissensbereichen gesehen werden.

Erzähltechnische Unterschiede

Die epische Struktur der beiden Romane weist starke Differenzen auf: So können zwar einige erzähltechnische Verfahrensweisen bereits bei Chrétien beobachtet werden, jedoch werden diese „erst bei Wolfram zu charakteristischen Merkmalen des Erzählstils gemacht [...]“. [Bumke 2004: S. 229] Dazu zählen etwa das hakenschlagende Erzählen sowie das Verfahren, in welchem sich die Bedeutung des Erzählten erst an späterer Stelle erklärt. Hinzu kommt auch Wolframs ausgeklügelte Verknüpfungstechnik. Dies kann mit dem Begriff „parrieren“, welcher mit „vermischen“ oder auch „zusammensetzen“ übersetzt wird (vgl. 281,22) und der eigentlich in Bezug auf Stoffe und höfische Kleidung verwendet wird, beschrieben werden. Bei Wolfram wird der Ausdruck zu einem „poetologischen Begriff“ [Bumke 2004: S. 210] erweitert, denn er beschreibt eine Erzähltechnik, die in Wolframs Figurenbehandlung als auch in der Darstellung der Handlungsszenen zu beobachten ist: An mehreren Stellen wird Gegensätzliches, scheinbar Unzusammenpassendes, zusammengefügt. Dies hat häufig eine Irritation des Lesers zur Folge. Der sommerliche Schneefall in der Blutstropfenszene kann als ein Beispiel für diese Erzähltechnik angesehen werden. So kommentiert auch der Erzähler den Schnee zu dieser Jahreszeit als sonderbar und hebt die Zusammensetzung der Geschichte aus sehr verschiedenartigen Elementen hervor.

diz maere ist hie vast undersniten, Diese Geschichte aber ist hier einmal durchbrochen gearbeitet
ez parriert sich mit snêwes siten. und in Schneemanier unterlegt.

281,21–22

Auch in Bezug auf die Erzählerperspektive unterscheiden sich die beiden Romane stark: "Die Ausarbeitung einer durchgängigen Erzählerperspektive war eine der wichtigsten Errungenschaften der höfischen Erzählkunst".[Bumke 2004: S. 229] Die deutschen Autoren des Mittelalters konnten diese anhand des Roman d'Énéas sowie den Werken Chrétiens erlernen. Wolfram erweiterte die vorgefundene Technik, indem er daraus „seine eigene Kunstform“[Bumke 2004: Ebd.] machte. So maß er der Erzählerperspektive eine größere Bedeutung bei und löste sich davon, „die Autorität des Erzähler-Standpunktes zu befestigen“[Bumke 2004: Ebd.]. Indem der Erzähler seine eigene Autorität anzweifelt, wird der Leser verunsichert, da er nicht mehr weiß, wem er Glauben schenken soll. Hinzukommt, dass Wolfram den handlungstragenden Personen jeweils eigene „Sprecher-Perspektiven“[Bumke 2004: Ebd.] zuteilt, wobei sich diese teilweise widersprechen oder nicht mit der Perspektive des Erzählers in Einklang stehen. So entsteht ein komplexes Geflecht aus unterschiedlichen Perspektiven. In Chrétiens Perceval kann somit von monoperspektivischem Erzählen, in Wolframs Parzival von polyperspektivischem Erzählen gesprochen werden.

Forschungsperspektiven

Die zahlreiche Neuerungen und Erweiterungen des Erzählstoffes verdeutlichen, dass der Parzival nicht als eine reine Übersetzung des Chrétien-Textes gelten kann. Allerdings gibt es Passagen, in welchen der mittelhochdeutsche Text dem französischen Text stark gleicht. Nellmann setzt sich in seinem Aufsatz Produktive Missverständnisse mit diesen dem Perceval sehr nahe stehenden Partien auseinander, wobei er insbesondere die Stellen betrachtet, in welchen Wolfram Verse entweder nicht richtig verstanden hat oder ihm eventuell eine falsche Übersetzung vorlag.[3] Nellmann spricht den Missverständnissen, die er auch „Keimzellen für den Umbau und Ausbau des Romans“ [Nellmann 1996: S. 139] nennt, große Bedeutung zu, da selbst sehr kleine Übersetzungsfehler eine starke Veränderung des Handlungsverlaufs bewirken können. Eine Stelle, in welcher von einem solchem Missverständnis ausgegangen werden kann, ist das Abenteuer von Schastel marveile: In der von Clinschor erbauten Burg, hält der mit böser Magie vertraute Zauberer die weibliche Verwandtschaft von Gawan fest. Einzig Gawan gelingt es den Zauber zu entschlüsseln und die eingesperrten Frauen zu erlösen. Bei Chrétien wird diese Szene anders geschildert. Denn die Frauen sind nicht gefangen, sondern sind freiwillig auf der Zauberburg (7531–7535), da sie sich „aus der Welt, in der sie nicht genügend Schutz fanden, zurückgezogen [haben]“. [Nellmann 1996: S. 135f.] Außerdem handelt der weise Magier, der den Schutzzauber über die Burg gelegt hat, damit unwürdige Eindringlinge ferngehalten werden, hier nach den Befehlen der alten Königin. Die Damen suchen einen ritterlichen, tugendhaften Held, der sie beschützt. Die Veränderung, die Wolfram vornahm, ist, dass er statt von schutzsuchenden Frauen von Gefangenen spricht („[...] die Damen, die hier unerlöste Pfänder sind“ 558,18). In der Forschung wird vermutet, dass „ein einziger Buchstabe [...] möglicherweise zu der gravierenden Planänderung geführt [hat]“[Nellmann 1996: S. 136]. So lautet die Stelle bei Chrétien:

Uns clers sages d’astrenomie, ein Sternkundiger,
Que la roïne i amena, den die Königin dorthin mitbrachte,
[...] [...]
A fet unes si granz mervoilles hat ein so großes Wunderwerk (den Schutzzauber) geschaffen.

(7548–7551)[Chrétien 1991: S. 446]

Es kann vermutet werden, dass Wolfram lediglich qui statt que gelesen hat. So habe er nicht „[ein Sternkundiger], d e n die Königin mitbrachte gelesen, sondern „d e r die Königin mitbrachte“, womit „der Diener [...] zum Herr“ [Nellmann 1996: S. 136] erklärt wird. Es ist nicht geklärt, ob Wolfram ein Übersetzungsfehler unterlaufen ist oder ob bereits seine Vorlage das unkorrekte qui enthielt. Wolfram erschien die Vorstellung von einer weggeführten Königin einleuchtend, denn dies war ihm in ähnlicher Form bereits in Chrétiens Lancelot begegnet. Durch die Änderung des Relativpronomens, ändert sich die Aufgabe Gawans stark, denn es kann nun nicht von einer Tugendprobe gesprochen werden, wie es im Perceval der Fall ist, sondern der Held hat eine erlösende Aufgabe zu meistern. Hierbei entsteht eine Verknüpfung mit der Parzival-Handlung, da auch der Protagonist des ersten Romanteils eine erlösende Aufgabe zu bewältigen hatte. Wahrscheinlich ist die „gesamte Idee der Erlösungsaufgabe Wolframs Werk“[Nellmann 1996: S. 137], da bei dem französischen Roman dieser Erlösungsgedanke nicht zu finden ist. Folgt man Nellmanns Argumentation, dann ist ein einzelner, kleiner Übersetzungsfehler der Auslöser einer großen Veränderung. Denn Gawans Handlungsmotivation ändert sich stark, was weitreichende Folgen für den gesamten Roman hat.

Obgleich die zahlreichen Neuerungen und Erweiterungen Wolframs wie etwa das polyperspektivische Erzählen oder auch das kompliziert ineinander verflochtene Verwandtschaftsgefüge den Parzival zu einem vielschichtigeren und komplexeren Erzähltext machen, als es der Vorgängertext ist, gilt es auch die Qualitäten des Conte du Graal hervorzuheben. So konstatiert etwa Bumke, dass sich der Erzählstil Chrétiens durch "de[n] Zauber des Geheimnisvollen, der über weiten Teilen der Handlung liegt und die feine Ironie des Erzählers, der die Zuhörer auf Distanz hält",[Bumke 2004: S. 239] auszeichnet. Eigenschaften, die in Wolframs Parzival nicht zu finden seien.[Bumke 2004: vgl. ebd.] Auch Pérennec betont die bereits im Perceval vorhandenen Strukturen. Denn er geht davon aus, dass Wolframs Parzival "Vibrationen der Vorlage" [Pérennec 1993: S. 240] verstärkt und insofern die Auseinandersetzung mit dem Parzival auch für die Beschäftigung mit dem Perceval von Nutzen sein könnte. Somit löst sich Pérennec von einer stark auf Differenzen abzielenden Interpretation, hinzu einer Herangehensweise, die für beide Romane förderlich ist.[Pérennec 1993: vgl. ebd.]

Auch Schmid betont die große Bedeutung, die der Vorlagentext für Parzival hatte. Sie konstatiert, dass es, obwohl Wolfram im Epilog negative Äußerungen über Chrétiens Text verlauten lässt (827,1–4), ersichtlich sei, dass für ihn die "dichterische Auseinandersetzung mit seiner französischen Quelle eine ernste Angelegenheit ist und dass er feine Antennen für deren literarische Qualitäten besitzt"[Schmid 2002: S. 103] In den Passagen, in welchen sich eine "ästhetische Aneignung beobachten lässt, tritt eine Abhängigkeit zutage, die weder den Plot noch die Ideologie der Vorlage betrifft, sondern die literarische Produktivität"[Schmid 2002: ebd.] Chrétiens. Nach Schmid zeige sich darin eine Bedingtheit, die das stets betonte "so offensiv vorgetragen auktoriale Selbstbewusstsein" des Erzählers in Frage stelle. Demnach könne der kurze Kommentar Wolframs am Ende des Parzivals eventuell als eine "verleugnete Dankesschuld"[Schmid 2002: S. 104] gelesen werden. So entstehe eine Art Einflussangst des Dichters, da er nicht offensichtlich von einem anderen Dichter geformt werden möchte.[Schmid 2002: vgl. ebd.] Eventuell versuche Wolfram gerade deshalb an einigen Stellen alles daran zu setzen, um "durch seine Hintergrund- und Nebengeschichten den vorgegebenen Linien der Vorlage zu entrinnen".[Schmid 2002: S. 99] Zudem versuche er sich durch Elemente aus unterschiedlichen Wissensbereichen sowie erzähltechnischen Innovationen, wie etwa das "parrieren (Schwarz und Weiß, Schnee und Blut, Rost und Glanz)"[Schmid 2002: S. 111] von der Vorlage abzugrenzen. Dies führe dazu, dass von einer "Verwilderung des Romans"[Schmid 2002: vgl. S. 110] gesprochen werden kann.

Fazit

Wie gezeigt werden konnte, folgt Wolfram in vielen Passagen der Vorlage Chétiens. Jedoch wurde ebenso ersichtlich, dass Wolfram einige wichtige Änderungen vorgenommen hat, welche etwa in der Trevrizent-Passage sowie anhand des komplexen Netzes aus Verwandschaftsbezügen zu beobachten sind. Des Weiteren sind es insbesondere die erzähltechnischen Neuerungen, die den Parzivalroman von Chrétiens Conte du Graal abgrenzen. Insgesamt ergibt sich somit das Bild, dass sich Wolfram mit Chrétiens Conte du Graal sehr intensiv auseinandergesetzt hat und ausgewählte Partien für seinen Roman fruchtbar gemacht hat.

Anmerkungen

  1. Allerdings gilt es an dieser Stelle anzumerken, dass Wolfram die Vorbildfunktion des Perceval abweist, denn er sagt, Chrétien habe "disem maere [...] unreht getân" ("diese Geschichte mit Willkür behandelt", 827,2). Kyôt, der Provenzale, habe die wahre Geschichte des Gralmythos überliefert ("der uns diu rehten maere enbôt", 827,4). Es ist jedoch umstritten, ob es Kyôt tatsächlich gab und in der Forschungsliteratur überwiegt die Ansicht, dass der Perceval-Roman eine wichige Vorlagefunktion hat.[Mertens 2003: vgl. S. 51]
  2. Alle Textstellen-Angaben aus Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  3. Trotz der in der Forschung bestehenden Unklarheit über die Französischkenntnisse Wolframs, folgt Nellmann der Annahme, dass Wolfram sehr gute Französischkenntnisse hatte. Gelegentlich zu beobachtende Vokabelfehler begründet er damit, dass es zu dieser Zeit noch keine Wörterbücher gab, in denen nachgeschlagen werden konnte.

Quellennachweise

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler Bd. 36).

[*Chrétien 1991] Chrétien de Troyes: Der Percevalroman (Le Conte du Graal), übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer, München 1991.

[*Heinzle 2011] Heinzle, Joachim (Hrsg.): Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch, Berlin/New York 2011.

[*Mertens 2003] Mertens, Volker: Der Gral. Mythos und Literatur, Stuttgart 2003 (Reclams Universal-Bibliothek 18261).

[*Nellmann 1996] Nellmann, Eberhard: Produktive Missverständnisse. Wolfram als Übersetzer Chrétiens, in: Wolfram Studien XIV, Übersetzen im Mittelalter, Berlin 1996, S. 134–148.

[*Pérennec 1993] Pérennec, Réne: Wolfram von Eschenbach vor dem Conte du Graal, in: Chrétien de Troyes and the German Middle Ages, Papers from an international symposium, hg. von Martin H. Jones und Roy Wisbey, Suffolk 1993. S. 229–241.

[*Schmid 2002] Schmid, Elisabeth: Der maere wildenaere. Oder die Angst des Dichters vor der Vorlage, in: Wolfram Studien XVII (2002), hg. von Wolfgang Haubrichs u.a., Berlin 2002, S. 95–113.