Moral und Gewissen (Reinhart Fuchs)

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Dieser Artikel behandelt die Moral von "Reinhart Fuchs" im gleichnamigen Tierepos von Heinrich dem Glîchezâren bzw. jene übergeordnete Moral des gesamten Tierepos, welche Reinhart als Protagonist durch seine fragwürdigen Taten produziert. Betrachtete Dimensionen sind also, um zunächst die Moral von Reinhart zu klären, 1) inwiefern Reinhart einem Moralkodex unterworfen ist, wie es bei Menschen der Fall ist, und 2) in welcher Weise Reinhart vielleicht keiner Moral unterworfen ist, da es sich bei ihm um ein Tier handelt, welches versucht zu überleben. Weiterhin, um die Moral des gesamten Epos zu klären, ist die Frage, inwiefern Reinhart, 3) als ein Akteur des besseren Wohles der Gesellschaft handelt, indem er mit seinen Taten, gegen den unrechtmäßigen Herrscher, den König Vrevel arbeitet, oder 4) ob er nur für sich selbst agiert.


Mensch versus Tier

Reinhart als anthropomorpher Akteur (Mensch)

Die Aspekte nach denen sich ein Mensch von einem Tier unterscheidet, sind Vernunft, Sprachvermögen, zum Teil Moral und Werte des Christentums, die besagen, dass Tiere dem Menschen unterstellt seien und unter anderem als Ernährung zu dienen hätten [Kompatscher-Gufler 2017: 33]. Neben der Moral, kommt auch der Vernunft eine tiefere Bedeutung zu. Diese wird im Abschnitt der moralischen Überlegenheit Reinharts behandelt.

Nimmt man an, dass es sich bei Reinhart um einen anthropomorphen Akteur handelt, so geschieht die Trennung von der tierischen und das gleichzeitige Hervortreten der menschlichen Seite, immer dann, wenn Reinhart sich nicht mehr nur um seines Lebens willen verteidigt oder andere überlistet, um zu Nahrung zu kommen, sondern dann wenn die Moral in Form von Abwesenheit in Erscheinung tritt. Erst dann wenn Reinhart eine Heimtücke an den Tag legt die unschuldigen Tieren, welche sich lediglich paaren und fressen, fremd ist, offenbart sich, dass es sich hier nicht nur um ein armes Tier handelt, welches sich wehrt, sondern um eine Art Rachefeldzug [Huebner 2016:92]. Dies ist zum Beispiel in folgender Situation zu sehen als Isengrin durch Reinharts Tücke fast sein Leben verliert:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Isingrin pflac tumbir sinne, Isengrin war in seiner Dummheit blind,
ime gefror der zagil drinne. schon fror ihm sein Schwanz fest.
diu naht was kalt unde lieht, Es war eine klare und kalte Nacht,
sin burodir warnete sin niet. und sein Mitbruder dachte nicht daran ihn zu warnen.
Reinhartis drivwe warin laz, Von Treue konnte bei Reinhart keine Rede sein;
er gefror ie baz unde baz. immer mehr fror jener ein.
'Dirre eimir swerit', sprach Isengrin. "Der Eimer wird mir zu schwer", klagte Isengrin.
'da han ich gezellit drin "Ich habe schon dreißig Aale darin gezählt",
drizic ale', sprach Reinhart, antwortete Reinhart,
'diz wirt ein nuzze vart; "das Unternehmen wird sehr erfolgreich;
kunnint ir stille gestan, wenn ihr Euch nur ruhig verhaltet,
zehinzic wellint drin gan.' werden hundert hineingehen."

(RF,749-760) [1]

Isengrin friert im Eis fest und verliert, nachdem Reinhart ihn zurücklässt, durch Glück lediglich seinen Schwanz. Reinhart kann in dieser Situation ein "Persönlichkeitsrecht" zugeschrieben werden, wie es bei Menschen der Fall ist, da er sich einem Tier unüblich verhält [Kompatscher-Gufler 2017:44]. Zwar fällt diese Persönlichkeit durch unmoralisches Handeln auf, dennoch handelt es sich nicht um ein logisch-animalisches Verhalten. Reinhart gewinnt durch diese Handlung nichts hinzu, der einzige Mehrwert für Reinhart scheint die Rache an Isengrin zu sein.

Auch die Vergewaltigung (Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs) Hersants zeigt die Dreistigkeit Reinharts besonders deutlich. Reinhart empfindet keinerlei Reue für seine Tat und hat auch kein schlechtes Gewissen, sondern bittet obendrein Frau Hersant bei ihm zu bleiben, da sie nach den Gepflogenheiten zu seinem Haushalt gehöre [Heinrich der Glîchezâre 2005:V.1178]. Weiter sagt er noch, er habe nichts Böses getan [Heinrich der Glîchezâre 2005:V.1202]. Dies legt nahe, dass Reinhart keinen Sinn für Moral hat und er sich keiner Schuld bewusst ist.

Das amoralische Handeln, rückt Reinhart also eher in die menschliche Ecke. Er hintergeht andere Tiere bewusst, schadet ihnen, bzw. tötet diese sogar aufgrund von Handlungszielen wie Rache, Ehebruch oder Machtgewinn. Diese Ziele fallen nicht unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung. Sein Handeln lässt sich, gemessen an einem Tier, nicht legitimieren. Im Gegensatz zu den anderen Tieren, die instinktiv ihren natürlichen Bedürfnissen nachgehen, wie es für sie als Tiere typisch ist, agiert der Fuchs eher menschlich. Sein menschliches Handeln übertrifft das tierische an Bestialität. [Huebner 2016:79]

Reinhart als Sympathieträger (Tier)

Trotz allem kann Reinhart je nach Interpretation und Vorstellungen des Lesers auch zur Identifikationsfigur werden. Zur Vermeidung einer eventuellen Antipathie mit dem Fuchs dient seine Schlauheit, mit der auf das Laster der Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit seiner Co-Akteure reagiert. [Huebner 2016:81]

Am Anfang des Epos hingegen verliert Reinhart zunächst gegen den Hahn, die Meise, den Raben und den Kater. Diese Episoden sind ganz bewusst für den Anfang des Epos vorbehalten, da durch seine Rolle als "Opfer" Mitleid beim Leser hervorgerufen werden kann. Diese Sympathie ist laut Kurt Ruh wichtig, da seine zukünftigen Handlungen ausdrücklich hinterlistig und gemein sind. "Dem Erfolglosen mit reichen Gaben werden sie nie verwehrt." [Ruh 1980:18] Dies bedeutet, dass Reinhart so Sympathiepunkte sammelt, um nicht direkt am Anfang als Aggressor dazustehen. Somit ist die Möglichkeit gegeben, sich vom Verlierer zum Sieger zu entwickeln.


Ein Opfer von Ungerechtigkeiten darf auf positive Anteilnahme in Form von Unterstützung, Aufmerksamkeit und Status hoffen.[Ok 2020] Es ist nicht nur bemerkenswert, dass Reinhart, moralisch bewertet, durch diesen schlechten Start so manches Verbrechen verziehen wird und er sogar bis zum Schluss auf die Sympathie derjenigen hoffen kann, die in dem Schlaueren, auch jenen sehen der die Oberhand gewinnen sollte. Auch ist dieses Vorgehen, sofern es mit Absicht von Reinhart so herbei geführt wurde, so auch mit macchiavellistischen Charakterzügen in Verbindung zu bringen. [Ok 2020] In der Episode mit dem Raben, gibt Reinhart vor verletzt zu sein, um nah genug an den Raben zu kommen und ihn zu reißen. Dies ist möglicherweise ein Hinweis für die mit Absicht herbei geführte Rolle des Verlierers, der sich nicht an die gleichen moralischen Konventionen zu halten hat, wie ein Gewinner.

Des Weiteren ergibt sich so für Reinhart die Chance, ein Bündnis mit dem Wolf Isengrin einzugehen, dem er in den nächsten Episoden den größten Schaden und Schmerz zufügt. Ohne diese anfangs entwickelte Symphatie für Reinhart wäre wohl kein Pakt zustande gekommen.

Dass diese Symphatie im Laufe der Episodensammlung nicht vollends schwindet, erklärt sich mit dem Argument, dass es hier Tiere miteinander zu tun haben. Somit schwindet "die Entwertung moralischer Kategorien" [Mecklenburg 2017:81] Deshalb sind seine Taten noch eher "vertretbar", da die Figuren als Tiere nicht nach menschlichen Trieben, sondern eben nach tierischen Trieben handeln, wobei den "dem Fuchs zugeschriebenen menschengleichen Eigenschaften eben doch der appetitus des Raubtiers hindurchbricht." [Mecklenburg 2017:81]

Moralische Überlegenheit Reinharts

Zunächst wird die Textstelle heran gezogen, in der der Löwe durch Reinhart den Tod findet [Heinrich der Glîchezâre 2005:V.2168-2183]. Reinhart hat sich zuvor erfolgreich von allen Anklagepunkten befreit, indem er die Ankläger mit Hilfe des Königs ärztlicher Behandlung aus dem Weg räumte. Doch selbst seinen Helfern, dem Elefant, dem Kamel und dem Löwen, bleibt seine Hinterlistigkeit und Boshaftigkeit nicht erspart:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
er sprach: ,herre, ich will eu geben einen tranc, Er sagte: "Herr, hier ist ein Getränk,
so sit ir ze hant genesen.' das wird Euch sofort auf den Weg der Genesung bringen.
der kunic sprach: ,daz sol wesen.' Der König antwortete: "So soll es geschehen."

("RF" V. 2168–2170) [2]



Obwohl der Ameisenkönig schon einige Zeit zuvor von Reinhart aus dem Gehörgang des Königs entfernt worden war, wartet der König Vrevel weiterhin gutgläubig auf die verhießene Genesung. Der Löwe hat augenscheinlich seine Mündigkeit aufgegeben und überlässt sein Schicksal weiterhin seinem Arzt Reinhart. Die füchsische Schlauheit hat hier die löwenhafte Gewaltanwendung ad absurdum geführt. [Huebner 2016:78]

Mittelhochdeutsch Übersetzung
do brov er des kuniges tot. Da braute er des Königs Tod zusammen.
Reinhart was ubele unde rot, Reinhart war böse und blutrünstig,
daz tet er da vil wol schin: wie er jetzt gänzlich deutlich machte:
er vergab dem Herren sin. er vergiftete seinen Herrn.
daz sol niman clagen harte; Es soll sich aber niemand beklagen:
waz want er han an Reinharte? was dachte sich jener woran er an Reinhart ist?

("Reinhart Fuchs" V. 2171–2176) [3]



Die Frage wird aufgeworfen inwiefern der König durch Selbstverschulden in diese missliche Lage geraten ist.

Mittelhochdeutsch Übersetzung
iz ist noh schade, wizze krist, Gott weiß es ist sehr schade,
daz manic loser werder ist dass so mancher Betrüger bei Hof
ze hove, danne si ein man, geachteter ist, als ein Mann,
der nie valsches began. der nie etwas falsches getan hat.
swelch herre des volget ane not Alle Herren die freiwillig diesem Beispiel folgend
unde teten sie deme den tot, den Tod finden,
daz weren gute mere. wären gute Nachrichten.

("Reinhart Fuchs" V. 2177–2183) [4]



Eine moralische Überlegenheit Reinharts könnte sich einerseits daraus ergeben, dass er in der Lage ist alle Anderen in die Irre zu führen und somit sogar das Gewaltmonopol des Herrschers Vrevel infrage stellen kann. Andererseits ist diese moralische Überlegenheit, die sich daraus ergibt, im Wesen eine Tautologie, da erst durch das Brechen des Gewaltmonopols die Herrschaft Vrevels infrage gestellt werden kann und dessen willkürliche Gewaltanwendung Kritik auf sich ziehen mag. Hier ist die Gewalt, die von Reinhart ausgeht, um alle Feinde im Hofstaat aus dem Weg zu räumen, die mehr zielgerichtete und deshalb die erfolgreichere und so auch die moralisch besser vertretbare. [Huebner 2016:90] Der Eigennutz ist macchiavellistischen Sinn der Maßstab der Moral. Jedoch wird dies sehr schnell wieder durch die weitere Bestrafung des Kamels und des Elefanten negiert, wo die Gewalt durch Reinhart eher willkürlich erscheint. Die ordnungswahrende Gewalt von Vrevel, wandelt sich hingegen aus der Sicht des Hofstaates in eine ebenfalls willkürliche durch Reinharts einwirken. [Huebner 2016:79] Allerdings ist die Legitimität eines Herrschers fast immer eine Tautologie, die wahre Macht bezieht sich aus der Legitimierung der Untertanen.

Viel wichtiger ist jedoch die Betrachtung der Herrschaft Vrevels im tugendethischen Sinne. Da Reinhart in der Lage war, diese Herrschaft so zu beeinflussen, dass es ein weiterer wie Reinhart in Zukunft wieder tun könne, ergibt sich daraus eine Handlungsmoral, die erlaubt den Hofstaat und alle seine Unterstützer dem Untergang zu weihen und zu stürzen. Denn die langfristige Perspektive eines glückseligen Hofstaates, ist der kurzfristigen, schlechten Gewaltanwendung unterzuordnen und demnach legitim. [Huebner 2016: 90,91]

Fazit

Reinharts amoralisch schlaues Handeln ist in der amoralischen Welt erfolgreich, amoralisch unschlaues Handeln führt hingegen zum Misserfolg. [Huebner 2016:81] Daher gibt es - je nach Interpretation und persönlichen Vorstellungen des Lesers - zwei unterschiedliche Ansätze die Figur Reinharts zu bewerten: Aus einer moralischen Sichtweise kann Reinhart vom Leser einerseits verachtet werden, andererseits jedoch sogar zu einer Identifikationsfigur werden.

"Die tatsächliche herrschaftliche Machtausübung schließlich unterscheidet sich in ihrer Intention und ihrer Wirkung nicht von der hoheitlichen Gewalt. Allein der Blickwinkel ist ein anderer [...]", [Dietl 2010:54] über die Moral im Reinhart Fuchs. Macchiavellis Argumente aus "der Fürst" legen in diesem Kontext nahe, dass die Anwendung von Gewalt an sich moralisch nicht verwerflich ist, solange ohnehin Gewalt ausgeübt wird. Die Krux ist jedoch, aus seiner Sicht, diese zu verschleiern und die Perspektive zu seinem eigenen Vorteil zu verschieben. Denn solange der König Vrevel der kundikeite von Reinhart nichts entgegen zu setzen hat, läuft auch die königliche Macht voll und ganz ins Leere und setzt somit den gesamten Hofstaat der Willkür von einzelnen Akteuren aus.

Literatur

<HarvardReferences />

  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: Abenteuerliche Überkreuzungen, 2017.
  • [*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg, 2016.
  • [*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48.
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs, eine antihöfische Kontrafaktur. 1980.
  • [*Ok 2020] Ok, Erin, Qian, Y., Strejcek, B., & Aquino, K. 2020. Signaling virtuos victimhood as indicators of Dark Triad personalities. Journal of Personality and Social Psychology.

<HarvardReferences />

  • [*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005.
  1. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.
  2. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.
  3. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.
  4. Alle Versangaben beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre (1976): Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, Stuttgart: Reclam.