Hagen (Nibelungenlied)

Aus MediaeWiki
Version vom 7. Oktober 2020, 14:45 Uhr von Cenhinen (Diskussion | Beiträge) (Die Seite wurde neu angelegt: „Hagen ist ein entfernter Verwandter der drei Burgundenkönige Gunther, Gernot und Giselher. Als ihr wichtigster Berater und Besch…“)
(Unterschied) ← Nächstältere Version | Aktuelle Version (Unterschied) | Nächstjüngere Version → (Unterschied)
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Hagen ist ein entfernter Verwandter der drei Burgundenkönige Gunther, Gernot und Giselher. Als ihr wichtigster Berater und Beschützer übernimmt er im ersten Teil des Nibelungenlieds die Aufgabe, Siegfried zu töten. Als Siegfrieds Mörder avanciert er im zweiten Teil schließlich zu Kriemhilds gefährlichstem Gegenspieler, ihre Rachegesinnung richtet sich voll und ganz auf ihn. Am Ende wird Hagen von Kriemhild getötet, mit einer Hand zieht sie ihm am Haar den Kopf hoch, mit der anderen holt sie aus, sie köpft ihn mit dem Schwert (Str. 2370).[1]

Um Hagen als Figur zu verstehen, ist es wichtig, die Differenzierung zwischen der höfischen und heroischen Sphäre nachzuvollziehen. Der Hof zeichnet sich durch sein vorbildliches und edles Verhalten aus und ist das Zentrum zeremonieller Vielfalt, höfischer Feste, Turniere und der höfischen Sitten. Der Idealtypus der höfischen Gesellschaft findet sich in der edlen höfischen Dame oder dem edlen Ritter wieder. Weitere wichtige höfische Elemente sind beispielsweise die Brautwerbung und die dazugehörigen Hochzeiten oder höfische Empfänge mit der dazugehörigen Vorbildlichkeit an Benehmen, sowie je nach Anlass passender Kleidung. All dies findet einen ritualisierten Eingang in den höfischen Alltag. [Wenzel 1986: S.285ff.]. Demgegenüber stehen heroische Ideale und Elemente, die sich durch "êre, welche im Kampf mit einem Ritter erworben wird, einen Machtanspruch durch persönliche Leistung und Stärke und abenteuerhaften Episoden aus dem Leben einer Heldengestalt, wie das Erlegen eines Drachen durch Siegfried, auszeichnen". [Weddige 2001: S.230] [Classen 1998: S.673ff.]

Der folgende Artikel bezieht sich allein auf Fassung B des Nibelungenlieds – andere Handschriften werden nicht berücksichtigt.


1. Hagen als Vasall

Hagen von Tronje ist der erste Vasall, der im Lied erwähnt wird und in einem engen Treueverhältnis zu den drei Königen der Burgunden - Gernot, Gunther und Giselher - zur Königin Ute, sowie ferner ihrer Tochter Kriemhild (Str. 876 und 895) steht. Er wird wie die anderen Vasallen mit Attributen wie starc und vil küene, in scarpfen strîten unverzaget (Str. 8) beschrieben. Die Treue zu seinen Herren und Herrinnen ist für ihn die oberste Priorität und höchste Tugend seines Handelns. Sein Neffe Ortwin von Metz und sein Bruder Dankwart sind ebenfalls Bedienstete am Wormser Hof (Str. 9). Mit beispielsweise den Worten lieber vriunt Hagene (Str. 893) spricht ihn Gunther an, wodurch sein enges Verhältnis zum König und sein vorbildlicher Status am Hof erkennbar wird. Hagen dient Gunther als Ratgeber und erkennt direkt, dass Siegfried ein einflussreicher Mann von Welt ist (Str. 82). In dieser Strophe wird deutlich, dass er ein hohes Wissen auch vom Geschehen außerhalb des Hofes aufweisen kann. Er sieht in Siegfrieds nicht von Beginn an seinen Konkurrenten. Er erkennt in ihm einen Heros, was nur einem anderen Heros möglich ist. [Müller 1998: S.234f.] Durch seine ritterlichen Tugenden, wie Tapferkeit (der küene recke; Str. 151), Schnelligkeit (snelle Hagene; Str. 1180), Mut (der degen küene unde balt; Str. 468) und Treue (wir suln in langer dienen, den wir alher gevolget hân; Str. 699) zeichnet sich Hagen als edler höfischer Gefolgsmann aus. Hagen scheint mit seiner Position als Vasall am Hof zu verschmelzen und kaum eine Form von Individualisierung in Bezug auf seinen Charakter zuzulassen. Er nimmt sowohl heroische als auch höfische Züge an, jedoch fehlt ihm ein übergeordneter Blick auf die Dinge und die Figuren, welche ihm und seinem König zu nahe kommen, womit er letztlich Freund nicht mehr von Feind zu unterscheiden mag. Im ersten Teil zeigt sich Hagen Siegfried gegenüber loyal, jedoch ändert sich dies durch den Königinnenstreit. Hagen gelobt Brünhild Rache zu nehmen für die Verleumdung. Diese scheint Hagen seit der 9. Aventiure für seinen König, nachdem die Kleider der Brünhild zerrissen sind, beschützen zu wollen - belîben ûf der fluot will ich bî den frouwen, behüeten ir gewant (Str. 531f.). Hier beginnt Hagens Treue gegenüber Brünhild als Frau seines Königs. Erst durch den Königinnenstreit sieht Hagen seinen Status und seine Macht am Hof bedroht. Hagen soll Bedrohungen und Unheil vom Hof fernhalten und gleichzeitig einen Machtzuwachs generieren. Die Machtfrage bringt Hagen erst im Zusammenhang mit dem Hort und Siegfried ins Spiel. Hier kann das Verlangen Hagens nach Macht einerseits auf die Gier nach dem Gold oder andererseits der Erweiterung der Macht des Reiches gesehen werden. [Müller 1998: S. 145f.] Hagen redet auf Gunther ein, bis dieser seinem Plan zustimmt. Durch den Verrat an Siegfried würde laut Hagen das Reich der Burgunden weitere Länder dazu gewinnen, jedoch stürzt dies das Reich stattdessen später ins Unheil (Str. 870). Er zieht speziell in Bezug auf die Ermordung Siegfrieds eine zu eilige Konsequenz aufgrund des Königinnenstreits, wodurch er Gunther zu seinem Plan vorschnell überredet (Str. 874ff.). Er zieht seinen Plan Siegfried zu ermorden durch und nutzt die Information seiner Herrin Kriemhild, welche ihm sagt, an welcher Stelle Siegfried verwundbar ist, schamlos aus, nicht um den Helden zu schützen, sondern ihn von hinten zu töten (Str. 902 und 986). Auf der einen Seite kann Hagen im ersten Teil als Verräter und Mörder Siegfrieds gesehen werden, welcher durch untriuwe und übermuot einen eigentlichen Freund des Königs als Feind verkennt. Auf der anderen Seite ist er ein treuer und furchtloser Vasall, der dem Haus der Burgunden voller êre dient.

2. Hagen als Heros

Hagen von Tronje ist im zweiten Teil der Nibelungensage gemeinsam mit seiner Gegenspielerin Kriemhild die Hauptfigur. [Backenköhler 1961: S.58] Die Figur macht hierbei eine Wende um 360 Grad, denn während der Hagen des ersten Teils sich als treuloser Verräter zeigt, ist der Hagen des zweiten Teils ein unbeugsamer Held von wahrer Seelengröße, aber auch gleichzeitig weiterhin ein "Inbild der Vasallität" [Zimmermann 2020: S. 77], daher ist seine Handlungsmotivation stets das Wohlergehen der Königsfamilie und das des Burgundenvolks. Er hält den Königen den Rücken frei mit dem Erledigen unliebsamer Aufgaben und gilt im zweiten Teil als Hauptträger staatsmännischen Handelns. [Backenköhler 1961: S. 58] Kriemhild den Hort zu entziehen und ihn anschließend im Rhein zu versenken, geschieht allein auf Hagens Verantwortung, was den Königen die Möglichkeit gibt, die bröckelnde Familienehre zu wahren. Die Fortnahme des Horts ist nur das erste Glied einer Kette von Vorsichtsmaßnahmen (Rat gegen die Werbung Etzels, Weigerung den Schatz herauszugeben, Abraten von der Fahrt an den Etzelhof), die Hagen unternimmt, um die Burgunden vor ihrem Untergang zu wahren, mit denen er aber nicht durchdringen kann. [Backenköhler 1961: S.60] Bis dahin handelt Hagen weitestgehend als höfischer Vasall, der seinen Herren treu ergeben ist und akzeptiert, dass seine gut gemeinten Ratschläge nicht angenommen werden. Die Fahrt zu Etzels Hof bestreitet Hagen als Führer der Burgunden, was symbolisch für seine Rolle als Führer in den Untergang steht. [Backenköhler 1961: S. 62] Sie kennzeichnet auch den Beginn der Entwicklung Hagens zu einer Heldengestalt in der Erzählung. Hagen hat zudem Kenntnis über den Etzelhof und kennt den Weg dorthin von Kindesbeinen an.

Hagen auf der Überfahrt

Die Weissagung der drei Wasserfrauen und Hagens Reaktion darauf zeigen Hagens Entwicklung, denn er wird vom "vornherein Wissenden, der zuerst selbst das Verhängnis glaubte abwenden zu können, [...] zu dem, der bewusst das Schicksal auf sich nimmt und vollstreckt." [Backenköhler 1961: S. 62] Hagens Hinnahme der Weissagung lässt darauf schließen, dass sie lediglich sein eigenes Wissen bestätigt haben und deshalb ihre Vorhersage des Verderbens nicht zu ahnden braucht. [Backenköhler 1961: S.62f.] Die Überfahrt mit dem Fährkahn und der Kampf mit dem Fährmann bringen den heroischen Charakter Hagens zur Geltung. Er erschlägt den Fährmann aus Notwehr, da dieser versucht, ihn gewaltsam vom Schiff zu vertreiben. Hagen ist hier wie bei der Begegnung mit den Wasserfrauen 'veredelt', [Backenköhler 1961: S. 62] der Fährmann hat seinen eigenen Tod selbst verschuldet. [Backenköhler 1961: S. 64] Der Ruderbruch während der Fahrt steht für Hagens Stärke und ereignet sich, als Hagen das vom Strom abgetriebene Fahrzeug wenden muss. Auch die schnelle Ausbesserung mit dem Schildband bringt die geistesgegenwärtige Kraft und Geschicklichkeit Hagens hervor. Durch die Rettung des Kaplans und die anschließende Schiffszerstörung sind alle Gesten der Schicksalskenntnis und -bejahung auf Hagen übertragen worden. Er bleibt also seiner Rolle als heroischer Führer in den Untergang treu. Trotz seiner Führungsrolle ist er auf der Reise scheinbar weiterhin um das Wohl seiner Herren besorgt und übernimmt freiwillig die Nachhut, als es ins Land der Bayern geht, um die Könige mit der Nachricht von dem Kampfe zu verschonen. [Backenköhler 1961: S. 65]. Der Kampf mit Gelfrat hinterlässt jedoch einen Kratzer im bis dato makellosen Heldenbild. Hagen muss seinen Bruder Dankwart um Hilfe bitten, um ihn zu besiegen. Die Szene ist bei Weitem nicht die einzige, in der Hagens heroische Seite ambivalent wird.

Hagen am Etzelhof

Die Ankunft am Etzelhof macht deutlich, dass Hagen der Exponent des kommenden Geschehens sein soll. Schon beim Eintritt wird er als Ziel aller Blicke genannt und ihm als einzigen Helden eine ausführliche Beschreibung seines Äußeren gewidmet. In der Frage Etzels nach Hagen wird zudem auch die Gesetzlichkeit der heroischen Welt alter mæren markiert. [Zimmermann 2020: S. 91] Je länger Hagen am Etzelhof weilt, desto öfter beginnt er seine höfische Art abzulegen, frei nach dem Motto: Dem, der ihm feindlich ist, erweist er keine Ehre. [Backenköhler 1961: S. 69] Somit fühlt er sich auch gegenüber Kriemhild an keine Regel ritterlichen Anstands mehr gebunden, was die Handlung zu einem Wechsel von Aktion und Reaktion der beiden Gegenspieler Hagen und Kriemhild werden lässt. Auf Hagens Verletzung der Königinnenwürde folgt der nächtliche Überfall der Hunnen, den Hagens und Volkers Wacht vereitelt. Die Aufforderung an die Burgunden, gewappnet zur Kirche zu gehen, die Täuschung des arglosen Etzel über den Grund ihres Aufzugs, die Bestärkung Volkers in seinem Vorsatz, den hunnischen Stutzer beim Turnier hart anzurennen, alles zeigt Hagens Bestrebungen, auch nicht die geringste Feindseligkeit oder Missachtung hinzunehmen. [Backenköhler 1961: S. 69] Hagen ist nicht mehr bereit sich gegenüber irgendwem unterzuordnen, wie es im ersten Teil der Fall war. Als Heros weicht er nicht mehr von seiner Linie ab, auch oder gerade weil diese in den Untergang der Burgunden führen wird. Im Schlusskampf ist Hagen als der führende Streiter auf Seiten der Burgunden herausgestellt, der sich gemeinsam mit Volker und Dankwart fast in eine Art Mordrausch kämpft. [Backenköhler 1961: S. 74] Interessant ist hier, dass die eigentlichen Vasallen der Könige vorneweg gehen und die Rädelsführer im Kampf gegen die Hunnen darstellen, womit den Königen fast nichts anderes übrigbleibt, als ihnen zu folgen. Hagen ist omnipräsent im Kampfgeschehen. Er delegiert (schickt Volker seinem Bruder Dankwart zur Hilfe an die Saalpforte), kommentiert (lobt Volkers Kühnheit vor Gunther), kämpft selbst (bezwingt Iring in einem Schlüsselkampf). [Backenköhler 1961: S. 75] Dass Kriemhild aus Angst, Etzel könnte verlieren, ihren Mann nicht in den Zweikampf mit Hagen schickt, unterstreicht noch einmal Hagens Stärke. Dass Hagen während des Saalbrands den Burgunden rät, Blut zu trinken, um nicht zu verdursten, charakterisiert seine Entschlossenheit zum Äußersten zu gehen. Hildebrand nennt ihn sogar einen tiuvel als er verwundet von dem Kampf gegen ihn zurückkehrt, was Hagen nun sogar ins Dämonische steigert. [Backenköhler 1961: S. 76] Als von den Nibelungen nur noch Hagen und Gunther und von den Amelungen allein Dietrich und Hildebrand am Leben sind, unterbindet Hagen die von Dietrich ausgesprochene Unterwerfungsaufforderung mit dem Hinweis, dass es sich für zwei Helden nicht gezieme, kampflos aufzugeben. [Zimmermann 2020: S. 96] Im letzten Akt der Erzählung ist Hagen trotz seines Todes Triumphator, da der letzte Mitwisser Gunther vor ihm stirbt und Hagen mit der Verweigerung des Horts im Tod über Kriemhild triumphiert. [Backenköhler 1961: S. 77]

Es gibt jedoch einen weiteren negativen Aspekt, der Hagens Heldenstellung schmälert. Im heldenepischen Erzählen ist der Gewinn heroischer Trophäen elementarer Bestandteil der Erzählungen vom Held-Sein. [Zimmermann 2020: S. 86] Erst mit dem Moment von Siegfrieds Ermordung beginnt Hagen damit, heroische Dinge anzusammeln: Zuerst übernimmt er Siegfrieds Schwert Balmung, dann den Nibelungenschatz, den er obendrein im Rhein versenken lässt, und schließlich begehrt er während des Aufenthaltes in Bechelaren von Gotelind den Schild Nudungs als Gabe. Im Gegensatz zu Siegfried, der seine Trophäen im Kampf und durch heroische Taten in seinen Besitz bringen konnte, erreicht Hagen diese Dinge nur durch Mord, Raub und Dreistigkeit. [Zimmermann 2020: S. 87]

3. Hagen als Freund

Hagen und die Burgunden

Hagen kann sich uneingeschränkt auf die Loyalität seiner nahen Blutsverwandten verlassen: Dazu gehören sein jüngerer Bruder Dankwart und sein Neffe/Schwestersohn Ortwin von Metz. Dankwart rettet seinem Bruder im Kampf mit dem bayerischen Markgrafen Gelfrat das Leben, Ortwin solidarisiert sich in der Mordratszene mit seinem Onkel, auch er fordert Siegfrieds Tod. Theodore Andersson betont, dass diese Szenen nötig seien, um Hagens Reintegration in das burgundische Sozialgefüge deutlich zu machen. Im ersten Teil sei Hagen abseits seiner Vasallentreue noch isoliert, im zweiten Teil plötzlich in zahlreiche Freundschaften eingebunden:

"Hagen's social reintegration is therefore the dominant theme of the poet's original efforts. The warrior who was most isolated in Part I becomes the major focus of human companionship in Part II." [Andersson 1987: S. 133]

Mit den burgundischen Königen Gunther, Gernot und Giselher ist Hagen nur entfernt verwandt, jedoch besteht auch zwischen ihnen ein Band des gegenseitigen Vertrauens. Hagen ist ihr wichtigster Berater. Mehrfach wird er als vriunt Hagene bezeichnet, an einer Stelle sogar als trôst der Nibelunge (Str. 1723). Hagen ist für die Burgunden unentbehrlich. Gerade im zweiten Teil des Nibelungenlieds leistet er vielen 'Freundesdienste': Als die Kämpfe im Saal zu lange toben, fordert Hagen einige Männer auf, die Helme abzubinden, sie sollen sich auf die toten Körper setzen und ausruhen, Hagen werde mit seinen engsten Waffenbrüdern die Angreifer solange in Schach halten (Str. 2078). Als Kriemhild den Saal schließlich in Brand stecken lässt, spricht Hagen den Männern Mut zu, er rät, das Blut der Gefallenen zu trinken, um den quälenden Durst zu lindern (Str. 2111). Hagen spendet Trost und Zuversicht, er versucht den Kampfgeist der Männer aufrecht zu halten. Auch wird im zweiten Teil des Nibelungenliedes Hagens enge Freundschaft zu Volker von Alzey, Spielmann und Fiedler am burgundischen Hof, evident: Seit der Ankunft an Etzels Hof sind die beiden unzertrennlich, Hagen ist stets in Volkers Gesellschaft anzutreffen (Str. 1756). Volker sitzt mit Hagen auf der Bank vor Kriemhilds Saal, um sie bewusst zu kränken – Hagen hat Siegfrieds Schwert Balmung quer über den Knien liegen, beide weigern sich vor der Königin aufzustehen, um sie zu grüßen, beide sind bewaffnet und tragen volle Panzerung unter der höfischen Kleidung (Str. 1758). Das Hagens Wahl ausgerechnet auf diesen Gefährten fiel, hat seinen Grund: Kriemhild warnt die Hunnen vor Volker, er sei sogar noch stärker als Hagen, er sei ein sehr gefährlicher Mann (Str. 1765). Als das burgundische Gefolge später zu seinem Nachtquartier geleitet wird, weigern sich Hagen und Volker zu Bett zu gehen – gemeinsam halten sie Schildwacht, vereiteln den hunnischen Angriff und retten so den Burgunden vorerst das Leben.

Thelen relativiert Hagens herausragende Position unter Bezugnahme zur Figur Volkers nachdrücklich: Auf dem Weg ins Hunnenland wählen die Burgunden Volker, und nicht Hagen, zu ihrem Anführer (Str. 1583 + 1591). Hagen drängt sich ungefragt und unautorisiert in den Vordergrund. [Thelen 1997: S. 388] Zudem werde Volker mehrfach als der stärkere und hilfreichere Kämpfer identifiziert: Auf der Bank vor Kriemhilts Saal schützt er Hagen vor den lauernd-abwartenden Hunnenkriegern, im Saalkampf rettet er Dankwart das Leben, da Hagen nicht persönlich eingreifen kann (oder will), Hagen verlässt sich auf Volker, er ruft ihm zu, überträgt ihm den Auftrag, den Bruder zu retten. [Thelen 1997: S. 390]

Hagen und die Helden an Etzels Hof

Hagen ist mit Dietrich von Bern befreundet. Die beiden haben sich an Etzels Hof kennengelernt, dann aber für viele Jahre aus den Augen verloren. Ihr Wiedersehen verläuft so herzlich, dass Etzel auf die beiden Männer aufmerksam wird. Dietrich und Hagen geben sich die Hände, unterhalten sich vertraulich (Str. 1747-1748). Etzel schaut genauer hin und erkennt in Hagen den jungen Mann, der einst an seinem Hof als Geisel weilte. Er erinnert sich an ihn als guten Freund, der ihm tüchtigen Dienst erwies (Str. 1754). An Etzels Hof hat Hagen mit weiteren Männern freundlich gesinnte Bekanntschaft gemacht: Mit Walther von Spanien, der ebenfalls als politische Geisel im Kindesalter übergeben wurde. Gemeinsam haben sie zahlreiche Feldzüge im Namen Etzels erfolgreich bestritten (Str. 1794); mit dem treuen und wichtigsten Gefolgsmann Dietrichs, Hildebrand, der auch alter oder meister genannt wird. Hildebrand war Dietrichs Erzieher und Waffenmeister, fungiert nun als Vertrauter und Berater. Er zollt Hagen heroischen Tribut; und mit Rüdiger, Lehnsmann Etzels und Markgraf von Bechelaren. Rüdiger wird von Etzel als stellvertretender Brautwerber an den Wormser Hof geschickt, Etzel möchte Kriemhild zur Frau, Rüdiger soll die Interessen seines Herrn adäquat vertreten. Bei Ankunft der fremden Delegation in Worms wird Hagen herbeigerufen, er erkennt Rüdiger sofort, sorgt für einen herzlichen Empfang. Als sich die Burgunden ihrerseits ins Hunnenland begeben, ist Rüdiger ihr Gastgeber auf Zwischenstation in Bechelaren, er nimmt sie freundlich auf, besonders zuvorkommend und hocherfreut begrüßt er Hagen, Hagens Bruder Dankwart, und Volker (Str. 1654).

Beim Abschied der Burgunden erkennt Hagen Rüdigers schwelenden Konflikt: Verstrickt in nicht vereinbaren, konträren triuwe-Bindungen, die er eingegangen ist, muss Rüdiger eine Entscheidung treffen. Er kann nicht alle triuwe-Verpflichtungen gleichzeitig nachkommen, einige davon müssen gelöst werden. Mit seiner Schildbitte signalisiert Hagen, dass er die persönliche triuwe-Bindung guter Freundschaft dennoch nicht aufzugeben bereit ist, er will sie weiterhin aufrechterhalten, er will Rüdiger als Freund behalten, sollten sie sich später auf dem Schlachtfeld begegnen oder sogar töten müssen, dann von Angesicht zu Angesicht als Freund, nicht als Feind. Hagen erbittet an zweifacher Stelle einen Schild (in Bechelaren Nudungs Schild und vor Etzels Saal sogar Rüdigers eigenen Schild, da Nudungs Schild im Kampf zerbrochen wurde), um Rüdiger die Gelegenheit zu bieten, "ihm noch einmal eine Freundestat zu erweisen" [Wapnewski 1994: S. 57]. Hagen baut ihm die Bühne für einen letzten großen Auftritt: Rüdiger zeigt nochmals milte, Güte – im Akt des Schenkens, des reziproken Nehmens und Gebens spiegelt Rüdiger Hagens wahre "Seelengröße" [Wapnewski 1994: S. 57] genauso wie Hagen Rüdigers, eine Selbstlosigkeit, die seine eigentliche Natur ausmacht. Beide wissen, dass sie von nun an gegnerischen Lagern angehören. Hagen versteht und verzeiht. Ian Cambpell interpretiert dieselbe Szene weitaus verhaltener: Er meint, Hagen teste bewusst Rüdigers zur Schau getragene milte, Hagen wolle in aller Öffentlichkeit ausloten, ob Rüdiger in einer provozierten Krise dekompensiere oder nicht – das Ergebnis verläuft jedoch anders als erwartet:

"Hagen is first and foremost making a public test of Rüdiger’s moral integrity by challenging his renowned generosity in a situation of severe crisis, and moreover […] Hagen is not only gratified by the result but is as surprised as anyone else." [Cambpell 1996: S.24]

Auch über Hagens Tod hinaus werden die Freundschaften nochmals bekräftigt: Etzel beklagt Hagens Tod lautstark – und dass, obwohl Hagen kurz zuvor seinen kleinen Sohn und einzigen Erben Ortlieb köpfte (Str. 2371). Der alte Hildebrand rächt Hagen schließlich, er erträgt nicht, dass der Held von einer Frau erschlagen wurde, zornentbrannt haut er Kriemhild in Stücke (Str. 2373) – und dass, obwohl ihn Hagen zuvor stark an der Brust verletzte, sodass 'Herzblut' seine Brünne benetzte (Str. 2307). Er hätte beinahe sein eigenes Leben an Hagen verloren.


  1. Hagen wird gefesselt vor Kriemhild geführt. Um sein Leben zu retten, macht sie ihm folgendes Angebot: Er müsse nur das Versteck des Hortes verraten, dann könne er als einziger lebend ins Burgundenland zurückkehren. Kriemhilds Motiv der Gattenrache wandelt sich schlagartig in ein Motiv der Goldgier – die Szene reibt, sie funktioniert im bis dato gesponnenen Erzählgefüge nicht. Warum sollte Kriemhild sich plötzlich mit dem Gold zufriedengeben? Ihr größter Wunsch ist es, Siegfrieds Tod zu rächen. Laut Otfrid Ehrismann hat „die Einführung der Hortforderung […] zu einem erzähltechnischen Defekt geführt.“ [Ehrismann 2002: S. 108] Auch Joachim Heinzle nennt die Szene „unlogisch“ [Heinzle 1987: S. 259], der Nibelungendichter habe an dieser Stelle „seine Erzählung mit beträchtlichen Ungereimtheiten belastet“. [Heinzle 1987: S. 259]

Literaturverzeichnis

Textausgaben und Quellen

  • Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, nach der Handschrift B, hg. von Ursula Schulze, übersetzt und kommentiert von Siegfried Grosse, Stuttgart 2011.

Forschungsliteratur

<HarvardReferences />

  • [*Andersson 1987] Andersson, Theodore: A Preface to the Nibelungenlied, Stanford 1987.
  • [*Backenköhler 1961] Backenköhler, Gerd: Untersuchungen zur Gestalt Hagens von Tronje in den mittelalterlichen Nibelungendichtungen. Bonn 1961.
  • [*Cambpell 1996] Campbell, Ian R.: Hagen’s Shield Request – Das Nibelungenlied, 37th Aventiure, in: The Germanic Review 71 (1996), S. 23-34.
  • [*Classen 1998] Classen, Albrecht: Sing ich dien liuten mîniu liet. Das heroische Element im Nibelungenlied - Ideal oder Fluch? in: Tuczay C. u. A. (1998): Ir sult sprechen willlekomen: grenzenlose Mediävistik; Festschrift für Helmut Birkhan zum 60. Geburtstag. Bern 1998.
  • [*Ehrismann 2002] Ehrismann, Otfrid: Nibelungenlied. Epoche – Werk – Wirkung, 2. Auflage, München 2002.
  • [*Heinzle 1987] Heinzle, Joachim: Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten, in: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung, Heidelberg 1987, S. 257-276.
  • [*Müller 1998] Müller, Jan-Dirk: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998.
  • [*Thelen 1997] Thelen, Lynn: Hagen's Shields. The 37th ‘Âventiure’ Revisited, in: The Journal of English and Germanic Philology 96 (1997), S. 385-402.
  • [*Wapnewski 1994] Wapnewski, Peter: Rüdigers Schild. Zur 37. Aventiure des ‚Nibelungenliedes‘, in: Zuschreibungen, gesammelte Schriften, hg. von Peter Wapnewski und Fritz Wagner, Hildesheim 1994 (Spolia Berolinensia. Beiträge zur Literatur- und Kulturgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit 4), S. 41-71.
  • [*Weddige 2001] Weddige, Hilkert: Einführung in die germanistische Mediävistik, 4. Auflage, München 2001.
  • [*Wenzel 1986] Wenzel, Horst: Ze hove und ze holze - offenlîch und tougen. Zur Darstellung und Deutung des Unhöfischen in der höfischen Epik und im Nibelungenlied. In: Kaiser, G. & Müller, J.-D. (Hrsg.). Höfische Literatur, Hofgesellschaft, höfische Lebensformen um 1200. Düsseldorf 1986.
  • [*Zimmermann 2020] Zimmermann, Julia: Sagenwissen und Erinnerung an Hagen. Erzählen vom Helden im ›Nibelungenlied‹, in: Widersprüchliche Figuren in vormoderner Erzählliteratur, hg. von Elisabeth Lienert, Oldenburg 2020 (BmE Themenheft 6), S. 77-103 (online).