Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit (Reinhart Fuchs)
Dieser Artikel thematisiert die Aspekte der Gerechtigkeit sowie Ungerechtigkeit in dem von Heinrich dem Glîchezâren verfassten Tierepos Reinhart Fuchs [1]. Hierbei liegt der Fokus vor allem auf Reinharts tückischen Listen und das Handeln des Löwenkönig Vrevels am Hoftag, welche in Hinblick auf die Aspekte der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit im Folgenden genauer analysiert werden. Zudem wird herangezogen, ob Ungerechtigkeiten willentlich verübt werden oder Figuren durch eine List dazu verleitet wurden.
Definition
Bevor die Aspekte der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Reinhart Fuchs genauer analysiert werden können, müssen zuerst die Begriffe der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit definiert werden. Gerechtigkeit bedeutet – entsprechend der Bedeutung von "gerecht" – "das Gerechtsein" oder eine "gerechte Behandlung" [dwds]. Mit dem "Gerechtsein" kann dabei die "Gerechtigkeit eines Richters, Urteils [oder] einer Strafe" gemeint sein [dwds]. Eine "gerechte Behandlung" meint zum Beispiel, jemanden "Gerechtigkeit widerfahren lassen" [dwds]. Gerechtigkeit wird außerdem manchmal gleichbedeutend mit "Recht" und der "ausübenden Instanz der öffentlichen Rechtspflege" verwendet [dwds]. Ungerechtigkeit bedeutet – entsprechend der Bedeutung von "ungerecht" – "das Ungerechtsein" oder kann ein "Unrecht" bezeichnen [dwds2]. Der Begriff "Ungerechtigkeit" wird außerdem auch synonym zum Begriff der "ungerechten Tat / Handlung" verwendet [dwds2].
Die Ungerechtigkeit Reinharts
Die Ungerechtigkeit Reinharts an Isengrin
Die Erzählung ist durchweg von verschiedenen Listen der Hauptfigur – Reinhart Fuchs – geprägt, sodass diese sozusagen den Hauptkern der Erzählung darstellen. Zu Beginn der Erzählung scheitern Reinharts Listen ironischerweise gerade an ihm körperlich unterlegenen Tieren, wie z.B. bei der Meise (RF, V. 203-212), dem Raben Diezelin (RF, V. 276-292) oder dem Kater Diepreht (RF, V. 348-357). Doch mit dem Wolf Isengrin findet Reinhart ein ihm ebenbürtiges – wenn nicht sogar körperlich überlegenes – Tier und erst bei diesem gelingen ihm seine Listen und Isengrin erfährt großes Unrecht durch den Fuchs. Als Reinhart auf Isengrin trifft, fragt er den Wolf, ob sie Partner sein wollen (RF, V. 396) und Isengrin entscheidet mit seiner Familie den Fuchs als Vetter in die Familie aufzunehmen (RF, V. 404-405). Daraufhin beginnt eine Reihe von Listen Reinharts, auf die der als zu naiv bezeichnende Isengrin immer wieder hereinfällt. Das erste Unrecht, das Reinhart an Isengrin begeht, ist, als er Isengrins Frau Hersante umwirbt (RF, V. 420). Kurz darauf bringt Reinhart mit hinterhältigen Absichten Isengrin und seine ganze Familie zu einem Mönchshof, wo sich Isengrin betrinkt und die Familie anschließend von sechs Männern, die mit Knüppeln bewaffnet sind, verschlagen werden (RF, V. 504-533). Reinhart nutzt das Vertrauen Isengrins aus und führt die Familie, die ihn als Vetter aufgenommen hat und der er versprach ein treuer Partner zu sein, wissentlich ins Unglück. Hier kann Reinharts Unrecht zum Teil noch damit gerechtfertigt werden, dass sie als Rache dafür angesehen werden könnte, dass Isengrin und seine Familie ihn zuvor um seinen Anteil eines erbeuteten Schinken betrogen haben. Das rechtfertigt jedoch noch die grausame Art seiner Rache, die dazu führt, dass den Wölfen körperliches Leid hinzugefügt wird. Dieses ungerechte Verhalten Reinharts den Wölfen – und vor allem Isengrin gegenüber – bleibt kein Einzelfall. In einer nächsten List, bringt Reinhart Isengrin dazu seinen Kopf in Reinharts Tür zu strecken, woraufhin er ihm Kopf und Haare mit heißem Wasser verbrüht (RF, V. 690-696). In dieser Szene ist es also sogar Reinhart selbst, der Isengrin körperliches Leid zufügt und somit ist diese Tat als noch ungerechter zu bezeichnen als die vorige. Das wohl schlimmste körperliche Leid erfährt Isengrin in der folgenden Szene, in der Reinhart ihm einen Eimer an den Schwanz bindet, den er ins Wasser hängt, mit dem Vorwand, dass sie so Unmengen an Fische fangen werden (RF, V. 736-743). Es dauert nicht lange, bis Isengrins Schwanz festfror (RF, V. 749-750) und am nächsten Morgen lässt Reinhart den festgefrorenen Isengrin zurück (RF, V. 772-776). Ein Ritter mit Jagdhunden findet Isengrin, hetzt seine Hunde auf ihn und wollte ihm mit seinem Schwert den Rücken zerschlagen (RF, V. 787-807). Zu Isengrins Glück rutscht der Ritter auf dem glatten Eis aus und trifft nur seinen Schwanz, diesen schlägt er ihm jedoch ganz ab (RF, V. 808-815). Durch Reinhart widerfährt Isengrin also großes Unrecht, bei dem er körperlich entstellt wurde und sogar fast ums Leben gekommen wäre.
Bei all diesen Listen kann man eine Mitschuld Isengrins nicht abstreiten, da dessen außerordentliche Naivität zu seinem Unglück beiträgt und er auch nach mehrmaligem Betrug von Reinhart erneut auf die Listen des Fuchses hereinfällt und damit nicht nur sich, sondern auch seine Familie gefährdet (siehe Hersantes Vergewaltigung im Artikel Der Fuchs und die Wölfe (Reinhart Fuchs). Allerdings ist Reinharts Verhalten trotzdem eindeutig als ungerecht zu bezeichnen, da er trotz der Vetternschaft der Familie – insbesondere Isengrin – willentlich großes Leid bereitet. Dabei bringt er Isengrin zwar hauptsächlich nur in die missliche Lage, in welcher er Leid erfährt, und fügt ihm dieses nicht eigenhändig zu, aber dennoch trägt Reinhart ausschlaggebend zu diesem bei. Ebenso ist es als hinterlistig und ungerecht zu beschreiben, dass Reinhart die Naivität Isengrins wiederholt ausnutzt und dessen Vertrauen missbraucht. Isengrins Not wird bei Ruh in einem Strukturschema festgehalten, das aus einer "noch auf schwankhafte Ergötzlichkeit hin programmierten Szenenreihe", gefolgt von sieben Szenen von Isengrins Katastrophe besteht. [Ruh 1980]
Die Ungerechtigkeit Reinharts an Hersant (V. 1168-1183)
Die Wölfin Hersant – Isengrins Frau – ist indirekt bereits durch das oben beschriebene Leid ihres Mannes, das von Reinhart selbst verursacht wird oder als Folge seiner Listen resultiert, betroffen. Später in der Erzählung, erfährt Hersant jedoch am eigenen Leib Unrecht durch Reinhart, als dieser sie vergewaltigt.
Einordnung in den Kontext der Erzählung
Nachdem Isengrin als Folge von Reinharts List seinen Schwanz verliert, beklagt er dies bei seiner Familie (RF, V. 1039-1048) welche anfängt zu heulen (RF, V. 1050). Isengrin rennt darauf los, um Reinhart aufzulauern und so hört ein Luchs von dem Streit (RF, V. 1062-1070). Dieser sagt Isengrin, dass er ihm seine Klagepunkte nennen soll, damit ihm ein Gerichtstag gegeben werden kann und Reinhart für seine Taten büßen muss (RF, V. 1081-1084). Dieser Gerichtstag wird für drei Wochen später angesetzt, an welchem nicht nur Isengrin, seine Familie und Reinhart erschienen, sondern auch viele andere Tiere (RF, V. 1097-1114). An diesem Gerichtstag bezeugt Reinhart noch, dass er Isengrins Frau nie nachgestellt habe (RF, V. 1138-1145). Direkt danach flieht Reinhart aber vom Gerichtstag und sowohl Isengrin, als auch Hersant rennen dem Geflüchteten hinterher (RF, V. 1138-1156). Die Flucht des Angeklagten ist an dieser Stelle jedoch dadurch gerechtfertigt, dass ihn Isengrin überlisten wollte. Denn dieser bringt einen bissigen Hund zum Gerichtstag, auf dessen Zähne Reinhart sich von der Schuld lossagen solle (RF, V. 1121-1125). Reize – der Hund – soll sich dabei totstellen, um den Fuchs zu überlisten, dieser wird aber rechtzeitig vom Dachs Krimel gewarnt (RF, V. 1127-1136). Reinhart flüchtet in eine Dachshöhle, in die Hersant ihm folgt, aber dabei steckenbleibt (RF, V. 1164-1169). Anschließend folgt Hersants Vergewaltigung durch Reinhart.
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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ver Hersant lief nach im drin | Frau Hersant lief hinterdrein, |
mit alle wan uber den buc. | aber nur bis zum Vorderteil. |
do gewan si schire schande genuc: | Da erlitt sie bald genug Schande: |
sine mochte hin noch her, | sie konnte weder vor noch zurück, |
Reinhart nam des guten war, | Reinhart nutzte das, |
zu eime andern loche er uz spranc, | er sprang aus einem anderen Loch heraus, |
uf sine gevateren tet er einen wanc. | und machte einen Sprung auf seine Kusine. |
Isengrine ein herzen leit geschach: | Isengrin geschah ein Leid: |
er gebrutete si, daz erz an sach. | Er vergewaltigte sie, das bezeugte er. |
Reinhart sprach: ,vil libe vrundin, | Reinhart sagte: "Liebste Freundin, |
ir schult talent mit mir sin. | eure Schuld wird den ganzen Tag bei mir sein. |
izn weiz niman, ob got wil, | Es weiß niemand, ob Gott das will, |
durch ewer ere ich iz gerne verhil.' | doch für eure Ehre verheimliche ich es gerne." |
vern Hersante schande was niht cleine, | Frau Hersants Schande war nicht gering, |
si beiz vor zorne in die steine, | sie biss vor Zorn in die Steine, |
ir kraft konde ir nicht gefrumen. | ihre Kraft konnte ihr nicht nutzen. |
Nachfolgende Handlung
Im Anschluss an die Szene flüchtet Reinhart in die Höhle und sowohl Isengrin und dessen Söhne, als auch andere Tiere erreichen die vergewaltigte Hersant (RF, V. 1188-1190). Frau Hersant wird aus der Höhle herausgezogen und ihr Mann beweint das Leid, das ihr zugefügt wurde (RF, V. 1193-1195). Reinhart tritt aus der Höhle heraus und behauptet, dass er nichts Böses getan habe, sondern nur seine Gevatterin willkommen hieß, die ihn besuchen wollte (RF, V. 1202-1204). Isengrin klagt über die Entscheidung, Reinhart als Gevatter in seine Familie aufgenommen zu haben, da er ihnen nichts als Leid bereitet hat und Reinhart antwortet darauf, dass Isengrin gehen kann, wenn er möchte, aber seine Gevatterin (Hersant) bei ihm lassen soll, da diese von Rechts wegen bei ihm Hausfrau sei (RF, V. 1223-1237).
Bedeutung der Szene
Die Szene von Hersants Vergewaltigung ist besonders bedeutend, um die Ungerechtigkeit Reinharts zu analysieren, da sie die ungerechteste Tat ist, die von Reinhart aktiv selbst an einem anderen Tier verübt wird. In vielen anderen Fällen fungiert Reinhart eher als Strippenzieher, der durch seine Listen viele (oftmals naive) Tiere in missliche Situationen bringt, in denen ihnen Leid widerfährt. Hier ist es jedoch Reinhart selbst der Hersant Leid zufügt und damit – indirekt – auch Isengrin. Denn von allem Leid und Unrecht, das Reinhart an Isengrin verübt hat, scheint das Unrecht an seiner Frau Isengrin am meisten zu treffen (RF, V. 1196-1200). Reinharts Unverschämtheit, Hersant nach der Vergewaltigung zu versichern, er würde ihre Schuld für ihre Ehre gerne verheimlichen, fügt nur noch mehr zur Erniedrigung Hersants bei und lässt die Tat noch grausamer und ungerechter wirken. Generell trägt die Tatsache, dass Reinhart gegenüber Hersant und später Isengrin und den anderen Tieren vorgibt, Hersant habe Mitschuld, dazu bei, dass Reinhart als eine böswillige und ungerechte Figur gezeichnet wird. Dabei ist vor allem Reinharts Aussage, dass Hersant nun von Rechts wegen bei ihm Hausfrei sei, auffallend und ironisch, denn der Ausdruck "von Rechts wegen" ist hier absolut fehlplatziert und diese Aussage ist nur ein weiterer Versuch, Isengrin und Hersant noch mehr zu erniedrigen. Denn die "Schande der Wolfssippe ist ohnegleichen, der Triumph Reinharts, der seinen Feind außerdem mit Hohn und Spott übergießt, vollkommen". [Ruh 1980]
Die Ungerechtigkeit Vrevels
Die Ungerechtigkeit des Königs an den Ameisen (V. 1251-1264)
Einordnung in den Kontext der Erzählung
Als zum ersten Mal in der Erzählung genauer vom Löwenkönig Vrevel berichtet wird, wird bereits deutlich dass diese Figur ungerecht gehandelt hat und das trotz – oder gerade wegen – seiner hohen Machtposition. So wird – überraschenderweise – nach allen Ungerechtigkeiten Reinharts dem Leser eröffnet, dass all das während einem Landfrieden stattgefunden hat (RF, V. 1239). Der Löwenkönig ging jedoch zu einem Ameisenhaufen und verkündete ihnen, dass er ihr Herrscher sei (RF, V. 1251-1254). Als diese sich weigerten, sich ihm zu unterwerfen, tötete er tausend von ihnen, verwundete viele der Ameisen und zerstörte zusätzlich ihre Festung (RF, V. 1255-1264). Damit ist Reinhart also nicht der einzige, der während einem Landfrieden solch ungerechte Taten vollbringt. Denn sogar der König selbst verübt eine solche Ungerechtigkeit und bricht somit eigentlich den Landfrieden, den er angeordnet hatte.
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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zu einem ameizen hufen wold er gan, | Er wollte zu einem Ameisenhaufen. |
nu hiez er si alle stille stan | Dort gebot er allen stillzustehen |
unde sagte in vremde mere, | und verkündete ihnen die unerhörte Geschichte, |
daz er ir herre were. | dass er ihr Gebieter sei. |
des enwolden si niht volgen, | Dem wollten sich jene nicht unterwerfen, |
des wart sin mut erbolgen. | worüber er tief ergrimmt war. |
vor zorne er vf die burc spranc, | Zornig sprang er auf ihre Festung |
mit kranken tieren er do ranc, | und kämpfte mit den kleinen Tieren, |
in dvchte, daz iz im tete not. | weil er glaubte, dass er dazu verpflichtet sei. |
ir lagen da me danne tusent tot | Mehr als tausend von ihnen blieben auf der Strecke, |
unde vil mange sere wunt, | und sehr viele trugen Wunden davon, |
gnuc bleibe ir ouch gesunt. | einige von ihnen blieben jedoch am Leben. |
sinen zorn er vaste ane in rach, | Heftig rächte er sich an ihnen |
die burk er an den grunt brach. | und zerstörte ihre Festung bis an die Grundmauern. |
er hatte in geschadet ane maze, | Ohne Maß hatte er ihnen Schaden zugefügt, |
do hub er sich sine straze. | als er sich wieder auf den Weg machte. |
Nachfolgende Handlung
Als der Ameisenherr daraufhin zu seinem verwundeten Volk und der zerstörten Festung zurückkehrt, beschließt er sein Volk zu rächen und somit Gerechtigkeit für diese sicherzustellen (RF, V. 1296-1297). Der Ameisenherr springt in das Ohr des Königs – unter Reinharts Beobachtung – und verursacht so, dass der König glaubt schwerkrank zu sein (RF, V. 1300-1306). Damit ist der Ameisenherr zumindest teilweise mitverantwortlich für die ungerechten Ereignisse die auf die vermeintliche Erkrankung des Löwenkönigs folgen, allerdings bleiben die Hauptakteure der Ungerechtigkeit vom Hoftag in erster Linie der Löwenkönig Vrevel selbst, gefolgt von Reinhart Fuchs.
Bedeutung der Szene
Die Szene ist dahingehend bedeutend für eine Analyse der Ungerechtigkeit durch den Löwen, weil sie zeigt, dass der Löwenkönig nicht erst dann ungerecht – und ungemäß seiner Machtposition – handelt als er glaubt schwer erkrankt zu sein und daher versucht sich selbst zu retten (siehe Hoftag). Sein Handeln am Hoftag ist definitiv als ungerecht und egoistisch zu bezeichnen, allerdings lässt sich dieses – zumindest teilweise – noch durch einen Selbsterhaltungstrieb bzw. Überlebenswillen rechtfertigen. In der zuvor beschriebenen Szene wird jedoch deutlich, dass der Löwe nicht durch eine derartige Not in Bedrängnis gerät, aber trotzdem Ungerechtigkeit an den Ameisen ausübt. Immerhin könnte man mit kaum einem anderen Tier einen stärkeren Kontrast zu der mächtigen Figur eines Löwens schaffen als mit der Figur einer Ameise. Aber trotz seiner offensichtlichen körperlichen Überlegenheit und seiner Machtposition als König – oder gerade deshalb – verübt Vrevel eine solche grausame und ungerechte Tat und ebnet durch diese unbewusst auch den Weg für seine spätere vermeintliche Erkrankung, die ihn erneut dazu anregt, Ungerechtigkeit auszuüben. Da die Ungerechtigkeit durch den Löwenkönig also kein Einzelfall war und in dieser Szene auch nicht gerechtfertigt werden kann, wird deutlich dass Vrevel nicht als gerechter König agiert.
Die Ungerechtigkeit des Königs am Hoftag (V. 1930-1946)
Einordnung in den Kontext der Erzählung
Nach mehreren gescheiterten Versuchen, Reinhart zum Hoftag zu beordnen, erscheint der angeklagte Reinhart zum Hoftag. Dieser gibt sich jedoch beim Löwenkönig als Arzt aus, der um Vrevels Heilung bemüht ist. Damit will Reinhart die Wut des Königs mildern. Der Löwenkönig fällt auf diese List Reinharts herein und befolgt dessen Anweisungen, auch wenn er dadurch seinen Untertanen gegenüber ungerecht, zum Teil sogar grausam handelt. ”Damit ist die Gerichtsszene in die Verarztung Vrevel umfunktioniert. Diesen interessiert nur noch Reinhart der Arzt, der nunmehr neue Heilmittel anpreist. Der Angeklagte wird zum Richter und Schinder.” [Ruh 1980]
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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der kunic hiez si begrifen | Der König ließ sie |
vil mangen sinen starken kneht. | von vielen starken Dienern ergreifen. |
man schinte si, ouch wart Dipreht | Man zog ihnen das Fell ab, und auch Diepreht |
beschindet also harte. | erging es so. |
daz qvam von Reinharte. | Das alles hatte Reinhart ins Werk gesetzt. |
der sprach: ,ditz ist wol getan. | Er sagt: "So ist es in Ordnung. |
ein versoten hun sul wir han | Jetzt brauchen wir ein gekochtes Huhn |
mit gutem specke eberin.' | mit feinem Eberspeck." |
der kunic sprach: ,daz sol vor Pinte sin.' | Der König befahl: "Das muss Frau Pinte sein." |
der kunic hiez hervur stan | Er ließ Scantecler vortreten |
Scanteclern, er sprach: ,ich mvz han | und sagte: "Ich brauche |
zu einer arztie din wip.' | deine Gattin für eine Kur." |
,neina, herre, si ist mir als min lip | "Nein, Herr, sie bedeutet mir mein Leben. |
ezzet mich unde lazet si genesen!' | Verzehrt mich lieber selbst und lasst sie gesund!" |
Reinhart sprach: ,des mag niht wesen.' | Reinhart entgegnete: "Das geht nicht." |
der kunic hiez Pinten vahen, | Der König ließ Pinte fangen, |
Scantecler begonde dannen gahen. | Scantecler eilte weg. |
In dieser Textstelle wird beschrieben, wie dem Wolf Isengrin, dem Bär (Kaplan) Brun und dem Kater Diepreht das Fell abgezogen wird. Der Löwenkönig glaubt – wegen Reinhart – diese Felle für seine Heilung zu benötigen. Reinhart führt seine List fort indem er behauptet, dass der König außerdem noch ein gekochtes Huhn und Eberspeck braucht, woraufhin der König das Huhn Pinte einfangen lässt – entgegen Scanteclers Bitte, seine Frau zu verschonen.
Nachfolgende Handlung
All diese ungerechten Behandlungen waren aber noch nicht genug. Reinhart behauptet danach noch, dass für die Heilung des Königs ein Band aus Hirschleder vonnöten sei, sowie das Fell eines Bibers. So verlangt der Löwenkönig noch von dem Hirsch Randolt ein Lederband und von dem Biber sein Fell. Viele Tiere flüchten daraufhin aus Angst, dass auch ihnen noch das Fell abverlangt werden könnte. Die einzigen, die übrig blieben, waren der Krimel, das Kamel und der Elefant – also all jene, die ein günstigeres Urteil für Reinhart gefällt hatten. An allen anderen Tieren hatte sich Reinhart erfolgreich gerächt.
Bedeutung der Szene
Mit Hinblick auf eine Analyse der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit in Reinhart Fuchs, ist diese Szene von besonders großer Bedeutung, denn hier wird das größte Unrecht der Geschichte beschrieben. All diese Tiere erfahren Ungerechtigkeit durch ihren eigenen König – und das nur, weil ihm sein eigenes Wohl wichtiger ist als das seiner Untertanen. Reinhart fungiert in dieser Szene als eine Art 'Strippenzieher', der die missliche Lage des Königs ausnutzt und sich durch ihn an allen Tieren rächen will, die ihn angeklagt haben oder ihm ein hartes Urteil auferlegen wollten. Dennoch wird in dieser Szene die Ungerechtigkeit in erster Linie vom Löwenkönig ausgeübt, der alle Vorwürfe gegen Reinhart zu vergessen scheint und auf dessen List reinfällt, obwohl er von seiner Listigkeit wusste. Es ist immerhin Vrevel, der seine Machtposition als König und als Richter gänzlich missbraucht und daran scheitert, für Gerechtigkeit zu sorgen. Der Hoftag war dazu gedacht, ein Urteil über Reinharts Taten zu fällen und Gerechtigkeit für all jene zu bringen, die von Reinhart überlistet und somit oft schwer verwundet wurden. Stattdessen wird aber genau jenen Tiere noch mehr Leid zugefügt und sie erfahren nichts als Ungerechtigkeit.
Gerechtigkeit in Reinhart Fuchs
Neben zahlreichen Fälle von Ungerechtigkeit in der Erzählung, die oben genannt und genauer analysiert wurden, ist es wichtig zu erwähnen, dass auch Aspekte der Gerechtigkeit in Reinhart Fuchs zu finden sind. Das erste Mal ist ein Streben nach Gerechtigkeit zu erkennen, als der Luchs den Streit zwischen Isengrin und Reinhart schlichten möchte und daher Isengrin sagt, er solle ihm seine Klagepunkte eröffnen, damit ein Gerichtstag angeordnet werden kann und Reinhart für seine Taten büßen muss (RF, V. 1077-1084). Hier werden schon Begriffe wie ”Klagepunkte" und "Gerichtstag", sowie "Buße" verwendet, die thematisch zum Thema der Gerechtigkeit passen. Denn Isengrin soll seine Klagepunkte eröffnet, damit ein Gerichtstag stattfinden kann, in welchem Reinhart für seine Taten zur Rechenschaft gezogen wird. Dadurch das Reinhart für das Leid, das er Isengrin angetan hat, büßen würde, würde Isengrin endlich Gerechtigkeit widerfahren. Allerdings bringt der Gerichtstag nicht die erhoffte Gerechtigkeit, sondern endet in erneuter Ungerechtigkeit durch Hersants Vergewaltigung (siehe oben). Erst als der vermeintlich kranke Löwenkönig die Ursache seiner Erkrankung darin sieht, dass er noch kein Gericht gehalten hat (RF, V. 1319-1320), wird erneut ein Gerichtstag (der Hoftag) angeordnet (RF, V. 1319-1321). Der Löwenkönig Vrevel fungiert bei dieser Anhörung als Richter (RF, V. 1361) und Isengrin verlangt einen Fürsprecher, der ihm von Vrevel zugestanden wird. Der Bär Brun übernimmt diese Verantwortung und bittet bei schlechter Verteidigung aufgrund von Recht abgelöst zu werden (RF, V. 1369-1373). Daraus wird deutlich, dass hier zu Beginn ein gerechtes Vorgehen sehr ernst genommen und streng eingehalten wird. Die Gerechtigkeit soll durch einen förmlichen Gerichtsprozess zuteil werden. Isengrin beklagt vor dem Löwenkönig das Unrecht, das er und seiner Frau durch Reinhart widerfahren ist und Krimel verteidigt seinen Neffen (RF, V. 1375-1391). So bittet der König den Hirschen Randolt darum, unter Eid sein Urteil abzugeben, was nun rechtens sei (RF, V. 1413-1415). Auch hier werden also wieder Elemente eines Gerichtsverfahren deutlich, da Randolt bei seinem Urteil unter Eid steht. Damit soll sichergestellt werden, dass der Hirsch die Wahrheit sagt und somit der Hoftag tatsächlich Gerechtigkeit schaffen kann. Randolt ist der Meinung, dass Reinhart gefangen und aufgeknüpft werden muss und die anderen Tiere stimmen ihm zu, bis auf das Kamel (RF, V. 1428-1438). Dieses entgegnet, dass das gefällte Urteil ihm rechtswidrig erscheint, da ein Angeklagter dreimal vorgeladen werden muss (RF, 1443-1449). Das Kamel fungiert in der Erzählung also sozusagen als eine Instanz der Gerechtigkeit, die dafür sorgt, dass bei dem Hoftag wirklich gerecht vorgegangen und nicht vorschnell und ungerecht geurteilt wird. Der erste Bote, der von Vrevel zu Reinhart geschickt wird, ist der Bär Brun (RF, V. 1511-1512). Dieser fällt allerdings auf eine List des Fuchses herein und kehrt ohne Ohren und Kopfhaut zum Hof zurück (RF, V. 1607-1608). Das erzürnt den Löwenkönig, der dieses Mal den Biber fragt, was rechtens sei (RF, V. 1619-1623). Dadurch, dass Vrevel – obwohl er der Richter ist – immer wieder andere Tiere fragt, was rechtens sei, wird deutlich, dass er selbst nicht zu wissen scheint, was gerecht ist. Der Biber verurteilt ihn zum Verlust seines Lebens und Besitzes und auch hier schließen sich viele Tiere dem Urteil an (RF, V. 1627-1634). Dieses Mal ist es nicht das Kamel, sondern der Elefant der als Instanz der Gerechtigkeit fungiert und den Löwenkönig und die anderen Tiere daran erinnert, dass bereits beschlossen wurde, dass dreimal ein Bote geschickt werden muss (RF, V. 1635-1641). Zu Beginn zeigt der Hoftag daher sehr gerechte Züge, da er angeordnet wurde um Gerechtigkeit für Isengrin und andere durch Reinhart betroffene Tiere zu schaffen, und weil sich – vor allem durch das Kamel und der Elefant – bemüht wird, dass formale Kriterien des Hoftags eingehalten werden, die dessen Gerechtsein sicherstellen. Durch Reinharts List am König wird der Hoftag allerdings später zur Verarztung Vrevels umfunktioniert und die Schaffung von Gerechtigkeit rückt in den Hintergrund, während der Angeklagte Reinhart zum Richter und Schinder wird. [Ruh 1980] Somit bringt der Hoftag letzten Endes nur noch mehr Unheil über die Tiere und statt Gerechtigkeit zu schaffen, schafft er noch größere Ungerechtigkeit. Ähnliche Züge hat die Rache des Ameisenherren, denn dieser wollte sich am Löwenkönig rächen, um Gerechtigkeit für sein Volk zu schaffen (RF, V. 1297-1301). Da er aber die vermeintliche Erkrankung des Löwen auslöst und Reinhart davon weiß und dies ausnutzt, artet der Hoftag überhaupt erst so aus. Was also ursprünglich mit der Intention begann, Gerechtigkeit zu schaffen, schafft letztendlich nur noch mehr Ungerechtigkeit, da die Rache des Ameisenherr nicht nur Folgen für den König, sondern auch viele grausame Folgen für andere Tiere mit sich bringt.
Literaturverzeichnis
- ↑ Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, Hg. Karl-Heinz Göttert, Reclam, Stuttgart 1976.
<HarvardReferences />
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs. Eine antihöfische Kontrafaktur, 1980.
- [*dwds] "Gerechtigkeit" im Digitalem Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: https://www.dwds.de/wb/Gerechtigkeit (Abrufdatum: 10.02.2021)
- [*dwds2] "Ungerechtigkeit" im Digitalem Wörterbuch der deutschen Sprache. URL: https://www.dwds.de/wb/Ungerechtigkeit (Abrufdatum: 12.02.2021)