Gawan und die Minne (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
Gawan wird in der klassischen Artusepik oft als nobler Vorzeigeritter dargestellt, welcher sich am besten auf die Einhaltung der Regeln des Rittertums versteht, durch den Einsatz seines Verstandes besticht und den korrekten Umgang mit der Damenwelt beherrscht [Eikelmann 1996). In Wolframs Parzival kommt er diesem Ideal nicht immer nahe, sondern offenbart vor allem in der höfischen Minne allzu menschliche Schwächen. Genau diesem Minneverhalten, sein galantes Auftreten der Damenwelt gegenüber, wird im Parzival große Aufmerksamkeit gewidmet, wodurch Gawan vor allem auf diesem Gebiet ins Zentrum der Überlegungen gerät [Bumke 1970].
Gawan und Obilot
Gawan kommt zu Lyppaut auf die Burg und will sich in den eigentlichen Konflikt, der dort herrscht, nicht einmischen. Seine Tochter Obilot wählt ihn, trotz ihrer Jugend, als ihren Ritter aus und ist entschlossen seine Minnedame zu werden (369, 17sf.). Es ist offensichtlich, dass die junge Obilot sich Hals über Kopf in „ihren“ Ritter verliebt, denn sie offenbart dabei nicht nur ein bereits sehr ausgeprägtes und vor allem sehr weitgehendes Verständnis von höfischer Minne, sondern auch eine außerordentliche Frühreife, welche nicht nur Gawan bei ihr bemerkt (372, 5f.). Gawan selbst geht auf das außergewöhnliche Werben der jungen Obilot nicht ein, sondern spielt lediglich ein, aus seinen Augen, minnedienstartiges Spiel mit, welches er nach Ende des Konflikts auf Bearosche wieder beenden kann, dabei steckt er selbst die Fronten sehr früh ab, indem er entgegnet, dass sie noch zu jung sei um ihre Minne zu geben (370, 13-16).Innerhalb dieses Spiels nimmt Gawan Obilot aber sehr ernst. Er akzeptiert sie als seine Minnedame und kommt ihrem Wunsch nach und kämpft in der Schlacht mit, so als läge zwischen den beiden kein (zu) großer Altersunterschied, sondern als würde ein echtes Mächtegleichgewicht zwischen ihnen existieren [Emmerling 2003]. Der Ritter verzichtet dabei darauf seine Überlegenheit auszuspielen und spielt Obilot Spiel, ein „ausgesprochenes Dienstverhältnis“ [Boestfleisch 1930], mit. Dies schafft aber auch eine besondere Spannung zwischen den beiden Figuren, denn sie nährt die Liebe Obilots zu Gawan genauso wie das Bild von Gawan als selbstherrlicher Frauenheld, welcher rücksichtslos mit den Gefühlen des Mädchens spielt, denn es ist schwierig zu sagen, ob Obilot das Dienstverhältnis mit Gawan gleichermaßen als Spiel auffasst, oder ob es für sie ernst ist. Wobei Obilot bei Gawans Abschied bittere Tränen vergießt und von ihrer Mutter kaum zu beruhigen ist (397, 15-19).
Gawan und Antikonie
Gawan gelangt am Anfang von Buch VIII zur Burg Vergulahts, genannt Schanpfanzun, und bittet um Quartier. Da Vergulaht aufgrund eines Missgeschicks noch verhindert ist, wird Gawan von ihm vorgeschickt und auf der Burg von Vergulahts Schwester, Antikonie, empfangen. Doch schon der Begrüßungskuss gerät „ungastlîch“ (405, 21) und es ist sofort eine erotische Spannung zwischen den beiden zu spüren [Dallapiazza 2009, S. 56]. Gawan macht kein Hehl aus seinem Begehren für Antikonie und ihre Verteidigung bricht recht schnell zusammen. Hierbei kommt es ihm entgegen, dass er stets darauf bedacht ist seine Anonymität zu wahren und diese im richtigen Moment auszunützen [Mohr 1958]. Das Tête-à-tête endet im Bett von Antikonie, doch kommt es nicht zu mehr, da ein älterer Ritter Gawan zufällig erkennt und zu den Waffen ruft, da er glaubt die Schwester des Königs würde vom Artusritter vergewaltigt (407, 10-19). Daraufhin müssen sich die beiden in einem unkonventionellen Kampf der wütenden Meute stellen und sich mit Schachfiguren und anderen kampfesfernen Dingen verteidigen. In dem kurzen Tête-à-tête geht die Initiative klar von Gawan aus. Er eröffnet sogleich einen anzüglichen Flirt und macht sein körperliches Begehren unverhohlen deutlich. Antikonies Verteidigung erscheint halbherzig und formell, sodass es nicht lange dauert bis beide sich in das Liebesabenteuer stürzen [Bumke 2004]. Gerade die Zielstrebigkeit mit der Gawan zu Werke geht ist in dieser Szene auffällig, denn von Anfang an besteht kein Zweifel an seinen Interessen bei der Begegnung mit Antikonie. In seinen starken Begehren nach der schnellen Erfüllung körperlicher Gelüste entsteht ein deutlicher Kontrast zum sehr förmlichen und vor allem kunstvollen Minnedienstarrangement mit der jungen Obilot in Buch VII. Für Gawan und Antikonie benötigt keines formellen Arrangements im Rahmen ideeller höfischer Vorstellungen, sondern bei geben sich willentlich ihrem körperlichen Begehren hin. Bei der gegenseitigen sexuellen Übereinkunft, welche hier getroffen wird, wird Antikonie allenfalls leicht überrumpelt, aber keinesfalls vergewaltigt [Dallapiazza 2009, S.56], wie es der heimliche Beobachter, ein bereits ergrauter Ritter, vermutet. Der Erzähler hält sich während des Tête-à-têtes von Antikonie und Gawan mit kritischen Bemerkungen zurück und offenbart eine eher positive Einstellung zu den Vorgängen, zudem er bemüht ist, die charakterlichen Vorzüge Antikonies ein um das andere Mal deutlich hervorzuheben. Er verteidigt die körperliche Anziehung, derer die beiden erliegen, sieht sie sogar als Ausdruck von Freundschaft und Zärtlichkeit, welche einer Frau zu geben erlaubt sein sollte (409, 12f.).
Gawan und Orgeluse
Als Gawan Orgeluse erblickt, ist er von ihrer Erscheinung hingerissen und bietet ihr direkt seinen Minnedienst und seine ewige Liebe an. Es ist der Auftakt zu einer langen Reihe von, zuerst, erfolglosen Bemühungen sie für sich zu gewinnen und ihre Gegenliebe zu erhalten.
Quellenverzeichnis
Boestfleisch, Kurt: Studien zum Minnegedanken bei Wolfram von Eschenbach (Königsberg i. Pr. 1930)
Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Auflage (Stuttgart/Weimar 2004)
Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach-Forschung seit 1945 (München 1970)
Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival , Klassiker Lektüren 12 (Berlin 2009)
Eikelmann, Manfred: Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im Parzival Wolframs von Eschenbach, ZfdA 125 (1996), S. 245-263
Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des Parzival (Tübingen 2003)
Mohr, Wolfgang: Parzival und Gawan, Euphorion. Dritte Folge, Band 52, 1958, S. 1-22