Gawan und die Minne (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

Aus MediaeWiki
Zur Navigation springen Zur Suche springen

Gawan wird in der klassischen Artusepik oft als nobler Vorzeigeritter dargestellt, welcher sich am besten auf die Einhaltung der Regeln des Rittertums versteht, durch den Einsatz seines Verstandes besticht und den korrekten Umgang mit der Damenwelt beherrscht.[Eikelmann 1996: Vgl. S. 245] In Wolframs Parzival kommt er diesem Ideal nicht immer nahe, sondern offenbart vor allem in der höfischen Minne allzu menschliche Schwächen. Dieser Artikel befasst sich mit Gawans Minneverhalten, seinem galanten Auftreten der Damenwelt gegenüber und seinem Hang zur Leidenschaftlichkeit. Im Parzival gerät Gawan in mehrere liebesgeladene und erotische Situationen, welche nicht immer nur ein positives Licht auf ihn werfen, allerdings ist er in der Lage sich weiterzuentwickeln und aus seinen Fehlern zu lernen. Der Erzähler gibt Gawans Liebesabenteuern viel Raum und stellt sie ins Zentrum der Minnethematiken des Romans.[Bumke 1970: Vgl. S. 179]

Gawan und Obilot

Obilots Liebe

Gawan kommt zu Lyppaut auf die Burg und will sich in den eigentlichen Konflikt, der dort herrscht, nicht einmischen. Seine Tochter Obilot wählt ihn, trotz ihrer Jugend, als ihren Ritter aus und ist entschlossen seine Minnedame zu werden. (369,17f.) [1] Es ist offensichtlich, dass die junge Obilot sich Hals über Kopf in „ihren“ Ritter verliebt, denn sie offenbart dabei nicht nur ein bereits sehr ausgeprägtes und vor allem sehr weitgehendes Verständnis von höfischer Minne, sondern auch eine außerordentliche Frühreife, welche nicht nur Gawan bei ihr bemerkt. (372,5f.) [2]

Gawan in Obilots Minnedienst

Gawan selbst geht auf das außergewöhnliche Werben der jungen Obilot nicht ein, sondern spielt lediglich ein, aus seinen Augen, minnedienstartiges Spiel mit, welches er nach Ende des Konflikts auf Bearosche wieder beenden kann. Dabei steckt er selbst die Fronten sehr früh ab, indem er entgegnet, dass sie noch zu jung sei um ihre Minne zu geben. (370,13-16) Innerhalb dieses Spiels nimmt Gawan Obilot aber sehr ernst. Er akzeptiert sie als seine Minnedame und kommt ihrem Wunsch nach und kämpft in der Schlacht mit, so als läge zwischen den beiden kein (zu) großer Altersunterschied, sondern als würde ein echtes Mächtegleichgewicht zwischen ihnen existieren.[Emmerling 2003: Vgl. S. 27] Der Ritter verzichtet dabei darauf, seine Überlegenheit auszuspielen und spielt Obilots Spiel, ein „ausgesprochenes Dienstverhältnis“,[Boestfleisch 1930: S. 72] mit. Dies schafft aber auch eine besondere Spannung zwischen den beiden Figuren, denn sie nährt die Liebe Obilots zu Gawan genauso wie das Bild von Gawan als selbstherrlichem Frauenheld, welcher rücksichtslos mit den Gefühlen des Mädchens spielt. Es ist schwierig zu sagen, ob Obilot das Dienstverhältnis mit Gawan gleichermaßen als Spiel auffasst, oder ob es für sie ernst ist. Denn bei Gawans Abschied vergießt Obilot bittere Tränen und ist von ihrer Mutter kaum zu beruhigen. (397,15-19)

Gawan und Antikonie

Das impulsive Tête-à-tête

Gawan gelangt am Anfang von Buch VIII zur Burg Vergulahts, genannt Schanpfanzun, und bittet um Quartier. Da Vergulaht aufgrund eines Missgeschicks noch verhindert ist, wird Gawan von ihm vorgeschickt und auf der Burg von Vergulahts Schwester, Antikonie, empfangen. Doch schon der Begrüßungskuss gerät ungastlîch (von Höflichkeit nichts zu spüren) und es ist sofort eine erotische Spannung zwischen den beiden zu spüren.[Dallapiazza 2009: Vgl. S. 56] Gawan macht keinen Hehl aus seinem Begehren für Antikonie und ihre Verteidigung bricht recht schnell zusammen. Hierbei kommt es ihm entgegen, dass er stets darauf bedacht ist, seine Anonymität zu wahren und dies im richtigen Moment auszunützen.[Mohr 1958: Vgl. S. 293-294] Das Tête-à-tête endet im Bett von Antikonie, doch kommt es nicht zu mehr, da ein älterer Ritter Gawan zufällig erkennt und zu den Waffen ruft, da er glaubt die Schwester des Königs würde vom Artusritter vergewaltigt. (407, 10-19) Daraufhin müssen sich die beiden in einem unkonventionellen Kampf der wütenden Meute stellen und sich mit Schachfiguren und anderen kampfesfernen Dingen verteidigen.

Beidseitiges, körperliches Begehren

In dem kurzen Tête-à-tête geht die Initiative klar von Gawan aus. Er eröffnet sogleich einen anzüglichen Flirt und macht sein körperliches Begehren unverhohlen deutlich. Antikonies Verteidigung erscheint halbherzig und formell, sodass es nicht lange dauert bis beide sich in das Liebesabenteuer stürzen.[Bumke 2004: Vgl. S. 166] Gerade die Zielstrebigkeit, mit der Gawan zu Werke geht, ist in dieser Szene auffällig, denn von Anfang an besteht kein Zweifel an seinen Interessen bei der Begegnung mit Antikonie. In seinem starken Begehren nach der schnellen Erfüllung körperlicher Gelüste entsteht ein deutlicher Kontrast zum sehr förmlichen und vor allem kunstvollen Minnedienstarrangement mit der jungen Obilot in Buch VII. Gawan und Antikonie benötigen kein formelles Arrangement im Rahmen ideeller höfischer Vorstellungen, sondern beide geben sich willentlich ihrem körperlichen Begehren hin. Bei der gegenseitigen sexuellen Übereinkunft, welche hier getroffen wird, wird Antikonie allenfalls leicht überrumpelt, aber keinesfalls vergewaltigt, wie es der heimliche Beobachter, ein bereits ergrauter Ritter, vermutet.[Dallapiazza 2009: Vgl. S.56]

Die Haltung des Erzählers

Der Erzähler hält sich während des Tête-à-têtes von Antikonie und Gawan mit kritischen Bemerkungen zurück und offenbart eine eher positive Einstellung zu den Vorgängen, zudem er bemüht ist, die charakterlichen Vorzüge Antikonies ein um das andere Mal deutlich hervorzuheben. Er verteidigt die körperliche Anziehung, derer die beiden erliegen, sieht sie sogar als Ausdruck von Freundschaft und Zärtlichkeit, welche einer Frau zu geben erlaubt sein sollte. (409,12f.)

Gawan und Orgeluse

Gawans Liebe zu Orgeluse

Als Gawan Orgeluse erblickt, ist er von ihrer Erscheinung hingerissen und bietet ihr direkt seinen Minnedienst und seine ewige Liebe an. Es ist der Auftakt zu einer langen Reihe von, zuerst, erfolglosen Bemühungen sie für sich zu gewinnen und ihre Gegenliebe zu erhalten. Gegenüber Orgeluse präsentiert sich Gawan als idealer Minneritter, welcher vor keiner Aufgabe zurückschreckt, um die Liebe seiner Minnedame zu erhalten. Hierbei nimmt er klaglos Orgeluses hohen Anforderungen an einen Ritter in ihren Diensten an und erträgt darüber hinaus ihre ständigen Demütigungen und Sticheleien, ohne sich dagegen zu wehren. (511,20f.)

Gawan als Minneritter

Die Beziehung zu Orgeluse stellt einen neuen Aspekt von Gawans Minneverhalten dar. Hatte er mit der jungen Obilot ein minnedienstartiges Spiel betrieben und sich mit Antikonie seinem sexuellen Begehren hingegeben, ist er nun bereit, sich für Orgeluse in einen echten Dienst zu stellen und sich ihrer dadurch würdig zu erweisen. Hierbei erträgt er klaglos unzählige Spötteleien und Demütigungen teils durch die Aufgaben, welche er bestehen muss, teils durch Orgeluses loses Mundwerk. (515,11-16) Gawan lässt sich hier zwar schlecht behandeln, doch verarbeitet er dies auch mit auffälliger Souveränität,[Dallapiazza 2009: Vgl. S. 64] indem er sich niemals aus der Ruhe bringen lässt und stets auf den (für ihn) glücklichen Ausgang seines Minnedienstes, dessen er sich sicher zu sein scheint, verweist. (515,17-22) Mit seiner Einstellung entspricht Gawan nun dem vollendeten Minnedienstideal, sein Handeln ist geradezu beispielhaft für die ritterliche Minne.[Boestfleisch 1930: Vgl. S. 76/S. 79] Gawan bewahrt seine Ruhe und Geduld den gesamten Minnedienst für Orgeluse hindurch und dies scheint schon an ein Wunder zu grenzen, nachdem der Held selbst auf Schastel marveile erfolgreich gegen das Zauberbett Lit marveile besteht und Clinschors Fluch endlich bricht, doch dafür wieder nichts als Spott und Herablassung von der angehimmelten Orgeluse erhält. (598,16f.)

Gawans Absichten

Das tapfere Ausharren des Helden sollte allerdings keinesfalls als unterwürfige Schwäche interpretiert werden, denn Gawan ist keinesfalls rückgratloser Diener der unnachgiebigen Orgeluse, sondern auch er besitzt Prinzipien, an welche er sich im entscheidenden Moment auch zu halten pflegt. Als er, als letzte Aufgabe, den Kranz von Gramoflanz an Orgeluse übergibt und sich diese in tiefer Unterwürfigkeit ihm zu Füßen legt, (611,16f.) ist er nicht bereit, all ihre Demütigungen einfach zu vergessen, sondern hält ihr ihr charakterliches Fehlverhalten vor.[Boestfleisch 1930: Vgl. S. 78] Hier wird deutlich, dass Gawan keineswegs stumpfsinniger Minnediener seiner Dame ist, sondern sein deeskalatives Handeln Methode hat. Der Held präsentiert sich in diesem Moment gegenüber Orgeluse als vielschichtiger Liebeswerber, welcher nicht nur die Liebe der Angebeteten begehrt, sondern sich auch um ihren Charakter und ihre Persönlichkeit bemüht. Orgeluses offensichtliches Trauma nach dem Tod ihres Gatten und der Verletzung Anfortas‘ in ihrem Dienst scheint ihre spröde Art zu begründen und Gawan versucht die Feindseligkeit durch sein nachsichtiges Verhalten zu kurieren. Er ist also viel eher Herr der Lage als Orgeluse, von der man es zuerst Denken könnte, doch stattdessen wird klar, dass Gawan unter all den Demütigungen ein klares Ziel vor Augen hat und dieses nicht fallen lässt, sondern konsequent zu Ende bringt.[Mohr 1958: Vgl. S. 294-295] Er möchte seine Minnedame von ihrer Bosheit befreien und sie wieder in das Liebesleben integrieren, welches sie so lange verabscheut hat. So zeichnet er sich nicht nur durch sein erfolgreiches Werben um ihre Liebe, sondern durch seine aufrechten Bemühungen um ihre Seele aus.[Emmerling 2003: Vgl. S. 92]

Gawan und Bene

Das Angebot Plippalinots

Bene ist die Tochter Plippalinots, welcher Gawan vor seinem Abenteuer im Schastel marveile beherbergt. Plippalinot bietet seine Tochter dem Helden, im Rahmen einer alten angel-sächsischen Tradition,[Dallapiazza 2009: Vgl. S. 66] als nächtliche Liebesgefährtin an. Dieser Tradition nach wurden Ehefrau oder Tochter hohen Gästen als Bettgesellin bereitgestellt. Bei diesem Hintergrund scheint es normal, dass Gawan darum bittet, mit Bene zusammen am Tisch zu speisen und auch der Wirt ist mit einer gemeinsamen Nacht der beiden absolut einverstanden und bietet Gawan ein großes Bett, indem er mit Bene schlafen soll. (550,21f.) Gawan schlägt das Angebot allerdings aus, zwar lässt er sie in seinem Bett übernachten, allerdings kommt es nicht zum Liebesakt. (552,27-30)

Gawans Treue

Gawan scheint seinen Minnedienst unter Orgeluse sehr ernst zu nehmen, denn er schlägt das Stelldichein mit Bene, trotz traditioneller Legitimation, aus. Im Bewusstsein hier jemanden verletzen zu können und der Liebe zu Orgeluse ihre Reinheit zu nehmen, zeigt er seine menschliche und empathische Seite.[Dallapiazza 2009: Vgl. S. 66] Starker Gegensatz dazu ist am nächsten Morgen der Auftritt Plippalinots, welcher von einem sexuellen Kontakt während der vergangenen Nacht ausgeht und Benes Tränen als deren Ursache interpretiert. Er reagiert darauf leicht scherzhaft und keinesfalls sensibel. (555,27-30) Für den Helden markiert die Begegnung mit Bene aber sicher einen Wendepunkt, denn hat Gawan vorher noch Antikonie mit seinem körperlichen Begehren überfallen, so ist er in diesem Fall in der Lage sich zu beherrschen und seine triuwe gegenüber der Minnedame Orgeluse damit zu bekräftigen.

Gawans Entwicklung

So souverän Gawan von Anfang an im Umgang mit Frauen und Minneangelegenheiten wirkt, so kann man trotzdem feststellen, dass er eine nicht unerhebliche Entwicklung durchläuft. Diese Entwicklung begünstigt sicherlich der dramaturgische Aufbau des Romans, welcher ihm die große Liebe auf den ersten Blick relativ lange vorenthält, doch ist es vor allem die Art und Weise wie er die Minne am Ende begreift, welche für seine Entwicklung steht.
Die Beziehung zu Obilot stellt nichts weiter als ein harmloses Spiel für ihn dar, welches er dementsprechend wenig ernst nimmt. Die Übertriebenheit, mit der er diesen Minnedienst einem etwa neunjährigen Mädchen gegenüber zelebriert, lässt auf eine ironische Haltung seinerseits auf die Konvention schließen. Umso interessanter ist dann seine Darbietung als vollkommener Minneritter des Romans im Dienst von Orgeluse. Keine Peinlichkeit, keine Demütigung, kein noch so schwerer Kampf hält ihn von seinem Vorhaben ab, Orgeluse zu seiner Frau zu machen. Dieser Dienst ist allerdings nicht nur Minnedienst, sondern auch Dienst am Menschen. Gawan, welcher sich, oftmals im Gegensatz zu Parzival, stark durch seine Empathie hervortut, erkennt die kranke Seele der Orgeluse und entlarvt ihre abweisende Art. Gawans Minnedienst ist auch der erfolgreiche Versuch, seine Dame wieder in die Gesellschaft zu integrieren und ihr wieder Freude am Leben zu geben. Hier liegt Gawans besonderer Verdienst.
Seine Wandlung wird deutlich, wenn man die Episoden mit Antikonie und Bene vergleicht. Bei beiden handelt es sich um Situationen der körperlichen Reize, jedoch ist Gawan bei Antikonie unter hohem Risiko sofort bereit sich seiner Leidenschaft hinzugeben, während er mit Bene gemeinsam im Bett liegt und sich auf seine Aufgabe in Schastel marveile konzentriert, ohne auf Plipplalinots Angebot einzugehen. Nicht, dass die rein leidenschaftliche, körperliche Liebe im Roman unmoralisch dargestellt würde, doch hat Gawan, abgesehen von ihr, erkannt, dass nur aufrichtige Treue der Schlüssel zum wahren Liebesglück sein kann. Er steht somit symbolisch für den Minne-Exkurs, welchen Wolfram in den Roman eingebaut hat.

Quellennachweis

  1. Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
  2. Ein weiteres Beispiel in der mittelalterlichen Literatur für die frühreife Liebe eines jungen Mädchens zu einem erwachsenen Ritter ist die Erzählung "Der arme Heinrich" von Hartmann von Aue


Forschungsliteratur

[*Boestfleisch 1930] Boestfleisch, Kurt: Studien zum Minnegedanken bei Wolfram von Eschenbach, Königsberg i. Pr. 1930

[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Auflage, Stuttgart/Weimar 2004

[*Bumke 1970] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach-Forschung seit 1945, München 1970

[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival , Klassiker Lektüren 12, Berlin 2009

[*Eikelmann 1996] Eikelmann, Manfred: Schanpfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im Parzival Wolframs von Eschenbach, ZfdA 125, 1996, S. 245-263

[*Emmerling 2003] Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des Parzival, Tübingen 2003

[*Mohr 1958] Mohr, Wolfgang: Parzival und Gawan, Euphorion. Dritte Folge, Band 52, 1958, S. 1-22 [[Kategorie: