1098: Der anonyme Kreuzzugsbericht der Gesta Francorum zur muslimischen Mutter Kürbuġas als Ratgeberin, Gelehrte und Prophetin: Unterschied zwischen den Versionen

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{{Kapitel LAT-DE TAB-4|Theresa Rudolph|''Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum'', ed. Rosalind Hill, London: Nelson, 1962, lib. 9, cap. 22, S. 53-56, übers. Theresa Rudolph.|5=== Autor/in & Werk ==
{{Kapitel LAT-DE TAB-4|Theresa Rudolph|''Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum'', ed. Rosalind Hill, London: Nelson, 1962, lib. 9, cap. 22, S. 53-56, übers. Theresa Rudolph.|5=== Autor/in & Werk ==
Die ''Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum ''(„Die Taten der Franken und anderer Jerusalemfahrer“)'' ''haben in der internationalen Kreuzzugsforschung als einer der frühesten Berichte des ersten Kreuzzugs bis heute große Aufmerksamkeit erfahren.<ref name="ftn1">Als knappe Einführung zu den ''Gesta Francorum'' und ihrem Aussagewert für die christlich-muslimischen Beziehungen empfiehlt sich der Beitrag von Bull, ''Gesta''. </ref> Trotz intensiver Forschungsaktivität und guter editorischer Aufarbeitung werfen die konkreten Abfassungsumstände des Berichts Fragen auf, die sich nicht mit letzter Gewissheit beantworten lassen. In mittellateinischer Sprache von einem anonymen Augenzeugen verfasst, berichten die Gesten in zehn Büchern von den Ereignissen des ersten Kreuzzugs (1095-1099), angefangen vom Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. (sed. 1088-1099) auf dem (nicht namentlich erwähnten) Konzil von Clermont im November 1095 bis zur Belagerung und Einnahme Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Juli 1099. Sie enden mit dem Sieg der Kreuzfahrer über ein fatimidisches Heer in der Schlacht von Askalon (August 1099).<ref name="ftn2">Die Bucheinteilung geht auf das älteste erhaltene, in der Bibliotheca Apostolica Vaticana aufbewahrte Manuskript zurück (Codex Reginensis latinus 572, frühes 12. Jahrhundert; Digitalisat abrufbar unter: [https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.572 https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.572], Zugriff 12.03.2020), auf dem auch die jüngste kritische Edition von Rosalind Hill (1962) basiert. Die zusätzliche Einteilung in Kapitel, die sich in dieser und anderen Editionen findet, ist nicht zeitgenössisch.</ref> Anders als es die Ausrichtung des Kreuzzugs auf die Rückeroberung der Heiligen Stadt vermuten ließe, steht der Kampf um Jerusalem nicht im Zentrum der Darstellung. Stattdessen nehmen die krisenhaften Ereignisse um die Belagerung von Antiochia 1097/98 einen Großteil des Berichts ein (lib. 5-9).<ref name="ftn3">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xxxiv: „The Great Battle of Antioch may be regarded as the climax of the story of the crusade as set forth by the ''Gesta''.“ Zu den Gliederungsmitteln der ''Gesta Francorum'' vgl. Oehler, Studien, S. 76-81.</ref>
[§1] Die ''Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum ''(„Die Taten der Franken und anderer Jerusalemfahrer“)'' ''haben in der internationalen Kreuzzugsforschung als einer der frühesten Berichte des ersten Kreuzzugs bis heute große Aufmerksamkeit erfahren.<ref name="ftn1">Als knappe Einführung zu den ''Gesta Francorum'' und ihrem Aussagewert für die christlich-muslimischen Beziehungen empfiehlt sich der Beitrag von Bull, ''Gesta''. </ref> Trotz intensiver Forschungsaktivität und guter editorischer Aufarbeitung werfen die konkreten Abfassungsumstände des Berichts Fragen auf, die sich nicht mit letzter Gewissheit beantworten lassen. In mittellateinischer Sprache von einem anonymen Augenzeugen verfasst, berichten die Gesten in zehn Büchern von den Ereignissen des ersten Kreuzzugs (1095-1099), angefangen vom Kreuzzugsaufruf Papst Urbans II. (sed. 1088-1099) auf dem (nicht namentlich erwähnten) Konzil von Clermont im November 1095 bis zur Belagerung und Einnahme Jerusalems durch die Kreuzfahrer im Juli 1099. Sie enden mit dem Sieg der Kreuzfahrer über ein fatimidisches Heer in der Schlacht von Askalon (August 1099).<ref name="ftn2">Die Bucheinteilung geht auf das älteste erhaltene, in der Bibliotheca Apostolica Vaticana aufbewahrte Manuskript zurück (Codex Reginensis latinus 572, frühes 12. Jahrhundert; Digitalisat abrufbar unter: [https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.572 https://digi.vatlib.it/view/MSS_Reg.lat.572], Zugriff 12.03.2020), auf dem auch die jüngste kritische Edition von Rosalind Hill (1962) basiert. Die zusätzliche Einteilung in Kapitel, die sich in dieser und anderen Editionen findet, ist nicht zeitgenössisch.</ref> Anders als es die Ausrichtung des Kreuzzugs auf die Rückeroberung der Heiligen Stadt vermuten ließe, steht der Kampf um Jerusalem nicht im Zentrum der Darstellung. Stattdessen nehmen die krisenhaften Ereignisse um die Belagerung von Antiochia 1097/98 einen Großteil des Berichts ein (lib. 5-9).<ref name="ftn3">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xxxiv: „The Great Battle of Antioch may be regarded as the climax of the story of the crusade as set forth by the ''Gesta''.“ Zu den Gliederungsmitteln der ''Gesta Francorum'' vgl. Oehler, Studien, S. 76-81.</ref>


Der heute gebräuchliche und editorisch fixierte Titel beschreibt das Werk als Tatenbericht der fränkischen und anderer Kreuzfahrer.<ref name="ftn4">Niskanen, Origins, S. 297-299, hält die Bezeichnung ''Itinerarium Hierosolimitanorum'' für den authentischen Titel des Werkes.</ref> Die ''Gesta Francorum'' wurden in der älteren Forschung als nüchterner und sachlich zuverlässiger Bericht beschrieben und in ihrer Erzählweise mit den Einträgen eines Kriegstagebuchs verglichen.<ref name="ftn5">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hagenmeyer, S. 11-13; von Sybel, ''Geschichte'', S. 95.</ref> Doch finden sich in den Gesten neben einfachen erzählenden Passagen narrative und stilistische Gestaltungsmittel, die auf andere nicht-historiographische, literarische Gattungslinien verweisen. Da das Werk den Kreuzzug als Pilgerfahrt der ''milites Christi'' ins Heilige Land deutet und somit das Pilgerfahrtmotiv betont, rückt es in konzeptuelle Nähe zur christlichen Pilgerliteratur.<ref name="ftn6">Vgl. Wolf, Crusade.</ref> Ferner finden sich in ihm stellenweise hagiographisch oder biblisch-exegetisch geprägte Textschichten sowie Einflüsse volkssprachlicher Epik, sodass sich die ''Gesta Francorum'' am ehesten als hybrides Werk der hochmittelalterlichen Gegenwartsgeschichtsschreibung verstehen lassen.<ref name="ftn7">Zur Genrefrage der Kreuzzugsberichte allgemein: Lapina, Chronicles, bes. S. 13-14; Skottki, ''Christen'', S. 222-247. Speziell zu den ''Gesta Francorum'': Niskanen, Origins, S. 302-312.</ref> Mit der in diesem Text verwendeten Bezeichnung als ‚(Taten-)Bericht‘ ist daher nicht die Vorstellung fester Gattungsgrenzen oder -konventionen zu verbinden.<ref name="ftn8">So auch Niskanen, Origins, S. 312: „Modern scholarship has in some respects failed to define what the work that we call ''Gesta Francorum'' is. The work combines a variety of literary genres (something that was by no means extraordinary in medieval literature, in which rules defining the genres were not strict).“</ref>
[§2] Der heute gebräuchliche und editorisch fixierte Titel beschreibt das Werk als Tatenbericht der fränkischen und anderer Kreuzfahrer.<ref name="ftn4">Niskanen, Origins, S. 297-299, hält die Bezeichnung ''Itinerarium Hierosolimitanorum'' für den authentischen Titel des Werkes.</ref> Die ''Gesta Francorum'' wurden in der älteren Forschung als nüchterner und sachlich zuverlässiger Bericht beschrieben und in ihrer Erzählweise mit den Einträgen eines Kriegstagebuchs verglichen.<ref name="ftn5">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hagenmeyer, S. 11-13; von Sybel, ''Geschichte'', S. 95.</ref> Doch finden sich in den Gesten neben einfachen erzählenden Passagen narrative und stilistische Gestaltungsmittel, die auf andere nicht-historiographische, literarische Gattungslinien verweisen. Da das Werk den Kreuzzug als Pilgerfahrt der ''milites Christi'' ins Heilige Land deutet und somit das Pilgerfahrtmotiv betont, rückt es in konzeptuelle Nähe zur christlichen Pilgerliteratur.<ref name="ftn6">Vgl. Wolf, Crusade.</ref> Ferner finden sich in ihm stellenweise hagiographisch oder biblisch-exegetisch geprägte Textschichten sowie Einflüsse volkssprachlicher Epik, sodass sich die ''Gesta Francorum'' am ehesten als hybrides Werk der hochmittelalterlichen Gegenwartsgeschichtsschreibung verstehen lassen.<ref name="ftn7">Zur Genrefrage der Kreuzzugsberichte allgemein: Lapina, Chronicles, bes. S. 13-14; Skottki, ''Christen'', S. 222-247. Speziell zu den ''Gesta Francorum'': Niskanen, Origins, S. 302-312.</ref> Mit der in diesem Text verwendeten Bezeichnung als ‚(Taten-)Bericht‘ ist daher nicht die Vorstellung fester Gattungsgrenzen oder -konventionen zu verbinden.<ref name="ftn8">So auch Niskanen, Origins, S. 312: „Modern scholarship has in some respects failed to define what the work that we call ''Gesta Francorum'' is. The work combines a variety of literary genres (something that was by no means extraordinary in medieval literature, in which rules defining the genres were not strict).“</ref>


Über den nicht namentlich bekannten Verfasser der ''Gesta Francorum'', der diese wahrscheinlich in kurzem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen, möglicherweise noch im Heiligen Land, niedergeschrieben hat, sind keine externen Informationen überliefert.<ref name="ftn9">Möchte man hinter dem von Ekkehard von Aura, der wenig später ins Heilige Land reiste, als ''Iherosolimae'' ''libellus'' beschriebenen Werk die ''Gesta'' vermuten, ist 1101 als ''terminus ante quem'' für die Niederschrift anzusetzen (Ekkehardus Uraugiensis abbas,'' Hierosolymita'', ed. Heinrich Hagenmeyer, Tübingen: Franz Fues’sche Sortiments-Buchhandlung, 1877, cap. 13, S. 133-135).</ref> Entsprechend fußen die von Forschenden jahrzehntelang kontrovers diskutierten Annahmen zum Autor ausschließlich auf Interpretationen werkimmanenter Hinweise. Das Vorgehen wird dadurch erschwert, dass der Anonymus seinem Werk weder eine Vorrede vorangestellt noch selbstreferenzielle oder auktoriale Passagen eingearbeitet hat, anhand derer sich biographische Details ableiten ließen. Hinzu kommt, dass auch für mittelalterliche Texte nicht unreflektiert von einer Identität von Erzähler und Verfasser ausgegangen werden darf. Weitgehende Einigkeit konnte jedoch bezüglich der süditalienisch-normannischen Herkunft des Anonymus hergestellt werden. Diese Schlussfolgerung lässt sich freilich weniger durch den italisch geprägten Wortschatz als durch die vom Verfasser gewählte Erzählperspektive stützen.<ref name="ftn10">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xi-xiii.</ref> Der Anonymus erlebte den Kreuzzug bis zur Einnahme Antiochias höchstwahrscheinlich im Gefolge des normannischen Fürsten Bohemund von Tarent (regn. 1098-1111 als Fürst von Antiochia), über dessen Kontingent er die präzisesten Angaben macht und den er wie den Protagonisten eines Heldenepos mit schmückenden Beiworten (''epitheta ornantia'') versieht.<ref name="ftn11">Vgl. Morris, ''Gesta'', S. 62. Krey, Passage, S. 75-78, hat in den ''Gesta'' eine antibyzantinische Propagandaschrift erblickt. Diese habe Bohemund zu einer solchen umgestalten lassen, um Kämpfer im kapetingischen Frankreich 1105/06 für eine Militärkampagne gegen den byzantinischen Kaiser Alexios (regn. 1081-1118) anzuwerben. Kreys These stützt sich jedoch hauptsächlich auf die Annahme einer interpolierten Textstelle. Die Bedeutung schriftlicher Propagandamittel relativierend: Paul, Wisdom, S. 564-566.</ref> Nachdem Bohemund zur Sicherung seiner Herrschaftsansprüche im eroberten Antiochia geblieben war, scheint der Autor die Reise zum Heiligen Grab unter der Führerschaft des provenzalischen Grafen Raimund von Toulouse (regn. 1093-1105 als Graf von Toulouse, 1102-1105 als Graf von Tripolis) fortgesetzt zu haben. Während der Anonymus viele der erzählten Ereignisse unmittelbar selbst miterlebt oder aus erster Hand erfahren haben dürfte, hat er in seinen Tatenbericht weitere, fiktional ausgestaltete Episoden eingebaut, die aus dem muslimischen Lager berichten und für die er sicherlich keine Augenzeugenschaft beanspruchen konnte.<ref name="ftn12">Zur Problematik der Augenzeugenberichte vgl. Harari, Eyewitnessing, S. 85-91.</ref>
[§3] Über den nicht namentlich bekannten Verfasser der ''Gesta Francorum'', der diese wahrscheinlich in kurzem zeitlichen Abstand zu den Ereignissen, möglicherweise noch im Heiligen Land, niedergeschrieben hat, sind keine externen Informationen überliefert.<ref name="ftn9">Möchte man hinter dem von Ekkehard von Aura, der wenig später ins Heilige Land reiste, als ''Iherosolimae'' ''libellus'' beschriebenen Werk die ''Gesta'' vermuten, ist 1101 als ''terminus ante quem'' für die Niederschrift anzusetzen (Ekkehardus Uraugiensis abbas,'' Hierosolymita'', ed. Heinrich Hagenmeyer, Tübingen: Franz Fues’sche Sortiments-Buchhandlung, 1877, cap. 13, S. 133-135).</ref> Entsprechend fußen die von Forschenden jahrzehntelang kontrovers diskutierten Annahmen zum Autor ausschließlich auf Interpretationen werkimmanenter Hinweise. Das Vorgehen wird dadurch erschwert, dass der Anonymus seinem Werk weder eine Vorrede vorangestellt noch selbstreferenzielle oder auktoriale Passagen eingearbeitet hat, anhand derer sich biographische Details ableiten ließen. Hinzu kommt, dass auch für mittelalterliche Texte nicht unreflektiert von einer Identität von Erzähler und Verfasser ausgegangen werden darf. Weitgehende Einigkeit konnte jedoch bezüglich der süditalienisch-normannischen Herkunft des Anonymus hergestellt werden. Diese Schlussfolgerung lässt sich freilich weniger durch den italisch geprägten Wortschatz als durch die vom Verfasser gewählte Erzählperspektive stützen.<ref name="ftn10">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xi-xiii.</ref> Der Anonymus erlebte den Kreuzzug bis zur Einnahme Antiochias höchstwahrscheinlich im Gefolge des normannischen Fürsten Bohemund von Tarent (regn. 1098-1111 als Fürst von Antiochia), über dessen Kontingent er die präzisesten Angaben macht und den er wie den Protagonisten eines Heldenepos mit schmückenden Beiworten (''epitheta ornantia'') versieht.<ref name="ftn11">Vgl. Morris, ''Gesta'', S. 62. Krey, Passage, S. 75-78, hat in den ''Gesta'' eine antibyzantinische Propagandaschrift erblickt. Diese habe Bohemund zu einer solchen umgestalten lassen, um Kämpfer im kapetingischen Frankreich 1105/06 für eine Militärkampagne gegen den byzantinischen Kaiser Alexios (regn. 1081-1118) anzuwerben. Kreys These stützt sich jedoch hauptsächlich auf die Annahme einer interpolierten Textstelle. Die Bedeutung schriftlicher Propagandamittel relativierend: Paul, Wisdom, S. 564-566.</ref> Nachdem Bohemund zur Sicherung seiner Herrschaftsansprüche im eroberten Antiochia geblieben war, scheint der Autor die Reise zum Heiligen Grab unter der Führerschaft des provenzalischen Grafen Raimund von Toulouse (regn. 1093-1105 als Graf von Toulouse, 1102-1105 als Graf von Tripolis) fortgesetzt zu haben. Während der Anonymus viele der erzählten Ereignisse unmittelbar selbst miterlebt oder aus erster Hand erfahren haben dürfte, hat er in seinen Tatenbericht weitere, fiktional ausgestaltete Episoden eingebaut, die aus dem muslimischen Lager berichten und für die er sicherlich keine Augenzeugenschaft beanspruchen konnte.<ref name="ftn12">Zur Problematik der Augenzeugenberichte vgl. Harari, Eyewitnessing, S. 85-91.</ref>


Besonders kontrovers hat sich die Kreuzzugsforschung an der Frage abgearbeitet, ob der anonyme ''Gesta''-Verfasser als Kleriker oder als Ritter anzusehen sei:<ref name="ftn13">Für eine kritische Diskussion dieser Forschungstradition siehe Skottki, ''Christen'', S. 184-195, die von einer „Fetischisierung“ (S. 229) der ''Gesta Francorum'' spricht.</ref> Ein Laie als Autor würde eine große Ausnahme im ansonsten monastisch-klerikalen Umfeld der Kreuzzugschronisten darstellen. Mögen die in den Gesten formulierte theologische Deutung des Kreuzzugsunternehmens als Pilgerfahrt in ''imitatio Christi'' und die zu diesen Zweck eingefügten Bibelzitate und Doxologien am Ende der Bücher für einen klerikalen Autor sprechen, so verweisen die volkssprachlichen Einflüsse der ''Chansons de geste'' auf ein ritterlich-laienadeliges Entstehungsumfeld. Möchte man nicht ein kollaboratives Zusammenwirken zweier Autoren oder spätere interpolierende Eingriffe in den sprachlich einheitlichen Text annehmen,<ref name="ftn14">So etwa Louis Bréhier in seiner Edition der ''Gesta Francorum'' (''Histoire Anonyme'', ed. Bréhier, S. VI-VIII).</ref> lässt sich die Verfasserfrage allein auf werkimmanenter Grundlage kaum eindeutig entscheiden: So könnte es sich bei dem Anonymus sowohl um einen theologisch gebildeten Ritter handeln, der die klerikale Laufbahn frühzeitig abgebrochen hat, um am Kreuzzug teilzunehmen,<ref name="ftn15">Vgl. z. B. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xvi; Kostick, Discussion, S. 1-11.</ref> als auch um einen Kleriker, der sich in Stil und Sprache an einen höfischen Rezipientenkreis anpasste.<ref name="ftn16">Vgl. z. B. Morris, ''Gesta'', S. 66-67; Rubenstein, ''Gesta'', S. 187-188.</ref>
[§4] Besonders kontrovers hat sich die Kreuzzugsforschung an der Frage abgearbeitet, ob der anonyme ''Gesta''-Verfasser als Kleriker oder als Ritter anzusehen sei:<ref name="ftn13">Für eine kritische Diskussion dieser Forschungstradition siehe Skottki, ''Christen'', S. 184-195, die von einer „Fetischisierung“ (S. 229) der ''Gesta Francorum'' spricht.</ref> Ein Laie als Autor würde eine große Ausnahme im ansonsten monastisch-klerikalen Umfeld der Kreuzzugschronisten darstellen. Mögen die in den Gesten formulierte theologische Deutung des Kreuzzugsunternehmens als Pilgerfahrt in ''imitatio Christi'' und die zu diesen Zweck eingefügten Bibelzitate und Doxologien am Ende der Bücher für einen klerikalen Autor sprechen, so verweisen die volkssprachlichen Einflüsse der ''Chansons de geste'' auf ein ritterlich-laienadeliges Entstehungsumfeld. Möchte man nicht ein kollaboratives Zusammenwirken zweier Autoren oder spätere interpolierende Eingriffe in den sprachlich einheitlichen Text annehmen,<ref name="ftn14">So etwa Louis Bréhier in seiner Edition der ''Gesta Francorum'' (''Histoire Anonyme'', ed. Bréhier, S. VI-VIII).</ref> lässt sich die Verfasserfrage allein auf werkimmanenter Grundlage kaum eindeutig entscheiden: So könnte es sich bei dem Anonymus sowohl um einen theologisch gebildeten Ritter handeln, der die klerikale Laufbahn frühzeitig abgebrochen hat, um am Kreuzzug teilzunehmen,<ref name="ftn15">Vgl. z. B. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xvi; Kostick, Discussion, S. 1-11.</ref> als auch um einen Kleriker, der sich in Stil und Sprache an einen höfischen Rezipientenkreis anpasste.<ref name="ftn16">Vgl. z. B. Morris, ''Gesta'', S. 66-67; Rubenstein, ''Gesta'', S. 187-188.</ref>


Die ''Gesta Francorum'', deren älteste Handschriften aus dem frühen 12. Jahrhundert überliefert sind, hatten einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die nachfolgende Generation der Kreuzzugshistoriographen. Beinahe später schreibenden Chronisten haben sie als Vorlage für eine mehr oder weniger eigenständige Narration genutzt.<ref name="ftn17">Parallelstellen zur hier behandelten Episode finden sich bei: Petrus Tudebodus, ''Historia de Hierosolymitano Itinere'', ed. Hill und Hill, S. 93-96 (mit geringen Abweichungen zur ''Gesta''-Version) sowie in freierer Bearbeitung: Guibert de Nogent, ''Dei Gesta per Francos'', ed. Huygens, lib. 5, cap. 11-12, S. 212-216; Baldric of Bourgueil, ''Historia Ierosolimitana'', ed. Biddlecombe, lib. 3, S. 64-65, und Robert the Monk, ''Historia Iherosolimitana'', ed. Kempf und Bull, lib. 6, S. 61-65. Die Chronisten Raimund von Aguilers und Fulcher von Chartres, ebenfalls Teilnehmer des ersten Kreuzzugs, erwähnen die Gesprächsszene mit der Mutter nicht, sondern bieten eine alternative Erzählung (siehe FN 46). Für einen Versuch zur Rekonstruktion von Abhängigkeiten innerhalb der ‚''Gesta'' familiy‘ siehe France, Use, S. 42 (Stemma).</ref> Explizit Bezug auf die ''Gesta'' nehmen die Kreuzzugsberichte der nordfranzösischen Benediktinermönche Guibert von Nogent (gest. 1124), Balderich von Bourgueil (gest. 1130) und Robert von Reims (gest. ca. 1122). In ihnen wird vor allem die unbeholfene Ausdrucksweise der anonymen Vorlage bemängelt, die zu einer Neubearbeitung des Materials Anlass gegeben habe.<ref name="ftn18">Vgl. Guibert de Nogent, ''Dei Gesta per Francos'', ed. Huygens, S. 79 (''praefatio''); Baldric of Bourgueil, ''Historia Ierosolimitana'', ed. Biddlecombe, S. 4 (''prologus''); Robert the Monk, ''Historia Iherosolimitana'', ed. Kempf und Bull, S. 3 (''apologeticus sermo'').</ref> Für die ''Historia Iherosolimitana'' Roberts sind mehr als achtzig Überlieferungsträger bekannt geworden, sodass mindestens für diese Verarbeitung der ''Gesta'' eine große Verbreitung und Beliebtheit im christlichen Abendland als gesichert gelten darf.<ref name="ftn19">Vgl. die im Anhang der Arbeit von Skottki, ''Christen'', S. 502-503, abgedruckte tabellarische Übersicht.</ref>
[§5] Die ''Gesta Francorum'', deren älteste Handschriften aus dem frühen 12. Jahrhundert überliefert sind, hatten einen nicht unbeträchtlichen Einfluss auf die nachfolgende Generation der Kreuzzugshistoriographen. Beinahe später schreibenden Chronisten haben sie als Vorlage für eine mehr oder weniger eigenständige Narration genutzt.<ref name="ftn17">Parallelstellen zur hier behandelten Episode finden sich bei: Petrus Tudebodus, ''Historia de Hierosolymitano Itinere'', ed. Hill und Hill, S. 93-96 (mit geringen Abweichungen zur ''Gesta''-Version) sowie in freierer Bearbeitung: Guibert de Nogent, ''Dei Gesta per Francos'', ed. Huygens, lib. 5, cap. 11-12, S. 212-216; Baldric of Bourgueil, ''Historia Ierosolimitana'', ed. Biddlecombe, lib. 3, S. 64-65, und Robert the Monk, ''Historia Iherosolimitana'', ed. Kempf und Bull, lib. 6, S. 61-65. Die Chronisten Raimund von Aguilers und Fulcher von Chartres, ebenfalls Teilnehmer des ersten Kreuzzugs, erwähnen die Gesprächsszene mit der Mutter nicht, sondern bieten eine alternative Erzählung (siehe FN 46). Für einen Versuch zur Rekonstruktion von Abhängigkeiten innerhalb der ‚''Gesta'' familiy‘ siehe France, Use, S. 42 (Stemma).</ref> Explizit Bezug auf die ''Gesta'' nehmen die Kreuzzugsberichte der nordfranzösischen Benediktinermönche Guibert von Nogent (gest. 1124), Balderich von Bourgueil (gest. 1130) und Robert von Reims (gest. ca. 1122). In ihnen wird vor allem die unbeholfene Ausdrucksweise der anonymen Vorlage bemängelt, die zu einer Neubearbeitung des Materials Anlass gegeben habe.<ref name="ftn18">Vgl. Guibert de Nogent, ''Dei Gesta per Francos'', ed. Huygens, S. 79 (''praefatio''); Baldric of Bourgueil, ''Historia Ierosolimitana'', ed. Biddlecombe, S. 4 (''prologus''); Robert the Monk, ''Historia Iherosolimitana'', ed. Kempf und Bull, S. 3 (''apologeticus sermo'').</ref> Für die ''Historia Iherosolimitana'' Roberts sind mehr als achtzig Überlieferungsträger bekannt geworden, sodass mindestens für diese Verarbeitung der ''Gesta'' eine große Verbreitung und Beliebtheit im christlichen Abendland als gesichert gelten darf.<ref name="ftn19">Vgl. die im Anhang der Arbeit von Skottki, ''Christen'', S. 502-503, abgedruckte tabellarische Übersicht.</ref>


== Inhalt & Quellenkontext ==
== Inhalt & Quellenkontext ==
Die hier in gekürzter Form dargebotene Textpassage ist Teil eines fiktiv ausgestalteten Dialogs zwischen dem seldschukischen Emir und Atabeg von Mossul, Kürbuġa (gest. 492/1102; alternative Schreibweise: Kerbogha, lat.: ''Curbaram'')<ref name="ftn20">Zur historischen Person und Transkription des Namens siehe Zetterstéen, Kurbuḳa, S. 437.</ref>, und seiner besorgten Mutter<ref name="ftn21">Im ''Chanson d’Antioche'' heißt die Mutter Calabre (''Chanson d’Antioche'', ed. Duparc-Quioc, vol. 1, cap. 33, V. 766, S. 51; cap. 218, V. 5265, S. 269); zu ihrer Darstellung in der Kreuzzugsepik siehe Leclerq, ''Portraits'', S. 494-498. In der ''Historia'' Balderichs von Bourgueil wird sie als hochbetagte Wahrsagerin beschrieben: „Erat senex et plena dierum, utpote centenaria et presaga futurum“ (ed. Biddlecombe, lib. 3, S. 64).</ref> (lib. 9, cap. 22). Der Verfasser der ''Gesta'' lässt die nicht namentlich bezeichnete Frau ihren Sohn im Feldlager vor Antiochia aufsuchen, um ihn vor dem geplanten Angriff seines Entsatzheeres auf die im belagerten Antiochia eingeschlossenen Kreuzfahrer abzubringen. Am 5. Juni 1098 war es den Christen gelungen, die stark befestigte Stadt am Orontes einzunehmen. Wenige Tage darauf war Kürbuġa mit einem großen Heer aus verschiedenen regionalen Kontingenten eingetroffen; die Christen waren ihrerseits zu Belagerten geworden. Die Textstelle ist somit Teil der ausführlichen Erzählung von der Belagerung und Eroberung Antiochias, dem Herzstück der Gesten. Ihr gehen weitere fiktive Episoden aus dem muslimischen Heerlager voraus, etwa der Spott Kürbuġas über die schlechte Bewaffnung der Kreuzfahrer und ein von ihm diktierter Brief an den Kalifen von Bagdad und den Sultan von Persien, in dem der Atabeg seine Siegesgewissheit zum Ausdruck bringt.<ref name="ftn22">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 21, S. 51-53.</ref>
[§6] Die hier in gekürzter Form dargebotene Textpassage ist Teil eines fiktiv ausgestalteten Dialogs zwischen dem seldschukischen Emir und Atabeg von Mossul, Kürbuġa (gest. 492/1102; alternative Schreibweise: Kerbogha, lat.: ''Curbaram'')<ref name="ftn20">Zur historischen Person und Transkription des Namens siehe Zetterstéen, Kurbuḳa, S. 437.</ref>, und seiner besorgten Mutter<ref name="ftn21">Im ''Chanson d’Antioche'' heißt die Mutter Calabre (''Chanson d’Antioche'', ed. Duparc-Quioc, vol. 1, cap. 33, V. 766, S. 51; cap. 218, V. 5265, S. 269); zu ihrer Darstellung in der Kreuzzugsepik siehe Leclerq, ''Portraits'', S. 494-498. In der ''Historia'' Balderichs von Bourgueil wird sie als hochbetagte Wahrsagerin beschrieben: „Erat senex et plena dierum, utpote centenaria et presaga futurum“ (ed. Biddlecombe, lib. 3, S. 64).</ref> (lib. 9, cap. 22). Der Verfasser der ''Gesta'' lässt die nicht namentlich bezeichnete Frau ihren Sohn im Feldlager vor Antiochia aufsuchen, um ihn vor dem geplanten Angriff seines Entsatzheeres auf die im belagerten Antiochia eingeschlossenen Kreuzfahrer abzubringen. Am 5. Juni 1098 war es den Christen gelungen, die stark befestigte Stadt am Orontes einzunehmen. Wenige Tage darauf war Kürbuġa mit einem großen Heer aus verschiedenen regionalen Kontingenten eingetroffen; die Christen waren ihrerseits zu Belagerten geworden. Die Textstelle ist somit Teil der ausführlichen Erzählung von der Belagerung und Eroberung Antiochias, dem Herzstück der Gesten. Ihr gehen weitere fiktive Episoden aus dem muslimischen Heerlager voraus, etwa der Spott Kürbuġas über die schlechte Bewaffnung der Kreuzfahrer und ein von ihm diktierter Brief an den Kalifen von Bagdad und den Sultan von Persien, in dem der Atabeg seine Siegesgewissheit zum Ausdruck bringt.<ref name="ftn22">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 21, S. 51-53.</ref>


Beunruhigt durch die Gerüchte, ihr Sohn wolle sich auf eine Schlacht mit den Franken (''cum Francorum gente'') einlassen, versucht die Mutter Kürbuġas verzweifelt, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Um den männlichen Stolz ihres Sohnes nicht zu verletzen, verweist sie zunächst auf dessen militärische Überlegenheit und Tapferkeit, mit denen sich das christliche Kreuzfahrerheer nicht messen könne. Diese Tugenden vermögen aber im Kampf mit dem christlichen Gott, der als ''omnipotens et bellipotens'' charakterisiert wird, nichts auszurichten. Ihre Deutung, das christliche Kreuzzugsunternehmen stehe unter göttlichem Schutz und Beistand, lässt sie der Verfasser mit alttestamentlichen Bibelworten (Ex 20,11; Ps 68,31; 79,6) belegen, wie auch generell zahlreiche alttestamentarische Referenzen in ihrer Ansprache auftauchen.
[§7] Beunruhigt durch die Gerüchte, ihr Sohn wolle sich auf eine Schlacht mit den Franken (''cum Francorum gente'') einlassen, versucht die Mutter Kürbuġas verzweifelt, ihn von diesem Vorhaben abzubringen. Um den männlichen Stolz ihres Sohnes nicht zu verletzen, verweist sie zunächst auf dessen militärische Überlegenheit und Tapferkeit, mit denen sich das christliche Kreuzfahrerheer nicht messen könne. Diese Tugenden vermögen aber im Kampf mit dem christlichen Gott, der als ''omnipotens et bellipotens'' charakterisiert wird, nichts auszurichten. Ihre Deutung, das christliche Kreuzzugsunternehmen stehe unter göttlichem Schutz und Beistand, lässt sie der Verfasser mit alttestamentlichen Bibelworten (Ex 20,11; Ps 68,31; 79,6) belegen, wie auch generell zahlreiche alttestamentarische Referenzen in ihrer Ansprache auftauchen.


Für die geplante Schlacht prophezeit sie hohe Verluste auf Seiten der Türken; Kürbuġa selbst werde binnen eines Jahres den Tod finden.<ref name="ftn23">Tatsächlich starb Karbuġā erst im Jahre 492/1102; vgl. Zetterstéen, Kurbuḳa, S. 437. </ref> Diese Vorhersage habe man bereits vor mehr als hundert Jahren sowohl in der eigenen Schrift (''in nostra pagina'') als auch in anderen heidnischen Schriften (''in gentilium uoluminibus'') gefunden.<ref name="ftn24">Nach Hagenmeyer (''Gesta Francorum'', ed. Hagenmeyer, cap. 22, S. 328, FN 35) könnte der Autor hier die sibyllinischen Weissagungen als ‚heidnische‘ Schriften im Sinn gehabt haben.</ref> Lediglich über den Zeitpunkt ihres Eintreffens bestehe Unsicherheit. Mit der Vorstellung, Bohemund von Tarent und sein Neffe Tankred (gest. 1112), die Anführer des süditalienisch-normannischen Kreuzfahrerkontingents, seien die Götter der Franken, offenbart Kürbuġa seine Unwissenheit über die christliche Religion. Seine Mutter hingegen erweist sich als Verständige, indem sie ihn über die christlichen Schöpfungsvorstellungen belehrt. Darüber hinaus wird die Muslima selbst als Prophetin mit weitreichenden divinatorischen und astrologischen Kenntnissen inszeniert, die die Vorhersage von der christlichen Überlegenheit durch ihr Studium der Himmelskörper und eine Vielzahl weiterer Weissagungen bestätigt gesehen habe. Das Mutter-Sohn-Gespräch endet damit, dass Kürbuġa trotz allem den mütterlichen Rat ignoriert und Vorbereitungen für die bevorstehende Schlacht trifft.  
[§8] Für die geplante Schlacht prophezeit sie hohe Verluste auf Seiten der Türken; Kürbuġa selbst werde binnen eines Jahres den Tod finden.<ref name="ftn23">Tatsächlich starb Karbuġā erst im Jahre 492/1102; vgl. Zetterstéen, Kurbuḳa, S. 437. </ref> Diese Vorhersage habe man bereits vor mehr als hundert Jahren sowohl in der eigenen Schrift (''in nostra pagina'') als auch in anderen heidnischen Schriften (''in gentilium uoluminibus'') gefunden.<ref name="ftn24">Nach Hagenmeyer (''Gesta Francorum'', ed. Hagenmeyer, cap. 22, S. 328, FN 35) könnte der Autor hier die sibyllinischen Weissagungen als ‚heidnische‘ Schriften im Sinn gehabt haben.</ref> Lediglich über den Zeitpunkt ihres Eintreffens bestehe Unsicherheit. Mit der Vorstellung, Bohemund von Tarent und sein Neffe Tankred (gest. 1112), die Anführer des süditalienisch-normannischen Kreuzfahrerkontingents, seien die Götter der Franken, offenbart Kürbuġa seine Unwissenheit über die christliche Religion. Seine Mutter hingegen erweist sich als Verständige, indem sie ihn über die christlichen Schöpfungsvorstellungen belehrt. Darüber hinaus wird die Muslima selbst als Prophetin mit weitreichenden divinatorischen und astrologischen Kenntnissen inszeniert, die die Vorhersage von der christlichen Überlegenheit durch ihr Studium der Himmelskörper und eine Vielzahl weiterer Weissagungen bestätigt gesehen habe. Das Mutter-Sohn-Gespräch endet damit, dass Kürbuġa trotz allem den mütterlichen Rat ignoriert und Vorbereitungen für die bevorstehende Schlacht trifft.  


Der Dialog erfüllt zunächst die grundlegende narrative Funktion, den vollständigen Sieg der Kreuzfahrer über das muslimische Entsatzheer Kürbuġas (28. Juni 1098) inhaltlich vorzubereiten, der angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Gegner und der schlechten Versorgungssituation der Belagerten zweifellos als wunderhaft empfunden wurde.<ref name="ftn25">Vgl. Skottki, ''Christen'', S. 424. Die erwähnten Heiligen, mit denen Gott in die Schlacht ziehe („simul cum sanctis suis“), können als Antizipation einer vom Anonymus an späterer Stelle berichteten Vision gelten, in der der Hl. Georg, der Hl. Mercurius und der Hl. Demetrius mit einer Armee weißer Reiter den Kreuzfahrern zur Hilfe kommen; vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 29, S. 69.</ref> Obwohl sich der Anonymus öfter des Stilmittels der direkten Rede bedient, ist die Textstelle durch ihren Umfang und ihre rhetorische und intertextuelle Komposition, vor allem durch die gehäufte Verwendung biblischer Referenzen, aus dem üblichen Erzählstil des Gesamtwerks deutlich herausgehoben. Inhaltlich ist sie vor allem deswegen bedeutsam, weil in ihr – einmalig in den Kreuzzugsberichten – einer Frau, noch dazu einer den ''pagani'' angehörenden Nicht-Christin, derart elaborierte und umfangreiche Redeanteile zugestanden werden.<ref name="ftn26">Vgl. Hodgson, Role, S. 168. In der gesamten Passage überwiegen die Gesprächsanteile der Mutter (gemessen an der Wortanzahl) im Verhältnis 4:1. Einen konzisen Überblick zur Rolle von Frauen auf Kreuzzügen und in der Kreuzzugsliteratur bietet Nicholson, Crusades, S. 183-184.</ref>
[§9] Der Dialog erfüllt zunächst die grundlegende narrative Funktion, den vollständigen Sieg der Kreuzfahrer über das muslimische Entsatzheer Kürbuġas (28. Juni 1098) inhaltlich vorzubereiten, der angesichts der zahlenmäßigen Überlegenheit der Gegner und der schlechten Versorgungssituation der Belagerten zweifellos als wunderhaft empfunden wurde.<ref name="ftn25">Vgl. Skottki, ''Christen'', S. 424. Die erwähnten Heiligen, mit denen Gott in die Schlacht ziehe („simul cum sanctis suis“), können als Antizipation einer vom Anonymus an späterer Stelle berichteten Vision gelten, in der der Hl. Georg, der Hl. Mercurius und der Hl. Demetrius mit einer Armee weißer Reiter den Kreuzfahrern zur Hilfe kommen; vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 29, S. 69.</ref> Obwohl sich der Anonymus öfter des Stilmittels der direkten Rede bedient, ist die Textstelle durch ihren Umfang und ihre rhetorische und intertextuelle Komposition, vor allem durch die gehäufte Verwendung biblischer Referenzen, aus dem üblichen Erzählstil des Gesamtwerks deutlich herausgehoben. Inhaltlich ist sie vor allem deswegen bedeutsam, weil in ihr – einmalig in den Kreuzzugsberichten – einer Frau, noch dazu einer den ''pagani'' angehörenden Nicht-Christin, derart elaborierte und umfangreiche Redeanteile zugestanden werden.<ref name="ftn26">Vgl. Hodgson, Role, S. 168. In der gesamten Passage überwiegen die Gesprächsanteile der Mutter (gemessen an der Wortanzahl) im Verhältnis 4:1. Einen konzisen Überblick zur Rolle von Frauen auf Kreuzzügen und in der Kreuzzugsliteratur bietet Nicholson, Crusades, S. 183-184.</ref>


== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation ==
== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation ==
Die Episode ist in der historischen Forschung früh als „Phantasiestück“ und unbedeutendes „camp gossip“ abgetan und in der Folge allenfalls als Argument für mögliche interpolierende Eingriffe in den Urtext herangezogen worden.<ref name="ftn27">Vgl. ''Histoire Anonyme'', ed. Bréhier, S. VI-VII; ''Gesta Francorum'', ed. Hagenmeyer, S. 20; ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xvi; zuletzt France, ''Gesta'', S. 56.</ref> Ihre historische Bedeutsamkeit liegt allerdings nicht in der Rekonstruktion ereignisgeschichtlicher Zusammenhänge des ersten Kreuzzugs, sondern entfaltet sich vielmehr in der Analyse von Fremdwahrnehmungen und -deutungen der muslimischen Welt innerhalb des Kreuzfahrermilieus, insbesondere mit Blick auf (weibliche) Alteritätskonstruktionen.<ref name="ftn28">Vgl. Edgington, Romance, S. 37; Hodgson, Role, S. 168.</ref> Die Mutter Kürbuġas dient dem Anonymus als exzeptionelles Sprachrohr, als ‚Stimme der Anderen‘, um die eigene theologische Deutung des Kreuzzugsgeschehens zu artikulieren und in der Rahmung der Szene als mütterlicher Rat emotional-unterhaltsam zu inszenieren.<ref name="ftn29">Ní Chléirigh, ''Crusaders'', S. 71, zieht Parallelen zur Frau des Pontius Pilatus (gest. nach 36), die den römischen Statthalter vor der Verurteilung Jesu warnt (Mt 27,19). Als antikes Vorbild wäre Helena (gest. ca. 328), die Mutter des römischen Kaisers Konstantin (regn. 306/324-337), zu nennen, der im Zusammenhang der Kreuzauffindung in Jerusalem göttliche Visionen zuteilgeworden sein wollen, vgl. Drijvers, ''Helena'', S. 79-80. Daneben sind weitere mündlich tradierte Vorlagen denkbar, vgl. Loutchitsky, Réflexions, S. 106-113.</ref> Trotz des literarischen Charakters der Textpassage darf ihre narrative Gestaltung nicht als gänzlich fiktiv betrachtet werden. Der Verfasser musste sich an einem impliziten Plausibilitätsrahmen orientieren, der von den zeitgenössischen Lesern und Hörern seines Werkes gesetzt wurde.<ref name="ftn30">Vgl. die Ausführungen bei Skottki, ''Christen'', S. 212-222.</ref> Die folgende Analyse diskutiert den geschichtswissenschaftlich-literarischen Aussagewert der Szene hinsichtlich zeitgenössischer Alteritätswahrnehmungen seitens der christlichen Kreuzfahrer in Bezug auf ihr muslimisches Gegenüber. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die unterschiedliche Darstellung und Bewertung der beiden muslimischen Hauptfiguren der Szene, wobei von der Mutter Kürbuġas ein deutlich facettenreicheres Bild entworfen wird. Davon ausgehend lassen sich exemplarisch abendländisch-christliche Vorstellungen hinsichtlich Religion, sozialer Ordnung und divinatorischer Praktiken der Muslime skizzieren, in denen sich gleichwohl auch Selbstkonstruktionen der frühen Kreuzfahrer spiegeln.
[§10] Die Episode ist in der historischen Forschung früh als „Phantasiestück“ und unbedeutendes „camp gossip“ abgetan und in der Folge allenfalls als Argument für mögliche interpolierende Eingriffe in den Urtext herangezogen worden.<ref name="ftn27">Vgl. ''Histoire Anonyme'', ed. Bréhier, S. VI-VII; ''Gesta Francorum'', ed. Hagenmeyer, S. 20; ''Gesta Francorum'', ed. Hill, S. xvi; zuletzt France, ''Gesta'', S. 56.</ref> Ihre historische Bedeutsamkeit liegt allerdings nicht in der Rekonstruktion ereignisgeschichtlicher Zusammenhänge des ersten Kreuzzugs, sondern entfaltet sich vielmehr in der Analyse von Fremdwahrnehmungen und -deutungen der muslimischen Welt innerhalb des Kreuzfahrermilieus, insbesondere mit Blick auf (weibliche) Alteritätskonstruktionen.<ref name="ftn28">Vgl. Edgington, Romance, S. 37; Hodgson, Role, S. 168.</ref> Die Mutter Kürbuġas dient dem Anonymus als exzeptionelles Sprachrohr, als ‚Stimme der Anderen‘, um die eigene theologische Deutung des Kreuzzugsgeschehens zu artikulieren und in der Rahmung der Szene als mütterlicher Rat emotional-unterhaltsam zu inszenieren.<ref name="ftn29">Ní Chléirigh, ''Crusaders'', S. 71, zieht Parallelen zur Frau des Pontius Pilatus (gest. nach 36), die den römischen Statthalter vor der Verurteilung Jesu warnt (Mt 27,19). Als antikes Vorbild wäre Helena (gest. ca. 328), die Mutter des römischen Kaisers Konstantin (regn. 306/324-337), zu nennen, der im Zusammenhang der Kreuzauffindung in Jerusalem göttliche Visionen zuteilgeworden sein wollen, vgl. Drijvers, ''Helena'', S. 79-80. Daneben sind weitere mündlich tradierte Vorlagen denkbar, vgl. Loutchitsky, Réflexions, S. 106-113.</ref> Trotz des literarischen Charakters der Textpassage darf ihre narrative Gestaltung nicht als gänzlich fiktiv betrachtet werden. Der Verfasser musste sich an einem impliziten Plausibilitätsrahmen orientieren, der von den zeitgenössischen Lesern und Hörern seines Werkes gesetzt wurde.<ref name="ftn30">Vgl. die Ausführungen bei Skottki, ''Christen'', S. 212-222.</ref> Die folgende Analyse diskutiert den geschichtswissenschaftlich-literarischen Aussagewert der Szene hinsichtlich zeitgenössischer Alteritätswahrnehmungen seitens der christlichen Kreuzfahrer in Bezug auf ihr muslimisches Gegenüber. Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen die unterschiedliche Darstellung und Bewertung der beiden muslimischen Hauptfiguren der Szene, wobei von der Mutter Kürbuġas ein deutlich facettenreicheres Bild entworfen wird. Davon ausgehend lassen sich exemplarisch abendländisch-christliche Vorstellungen hinsichtlich Religion, sozialer Ordnung und divinatorischer Praktiken der Muslime skizzieren, in denen sich gleichwohl auch Selbstkonstruktionen der frühen Kreuzfahrer spiegeln.


So entspricht die Mutter in ihrem Auftreten weitgehend dem Ideal einer christlichen Mutter, die sich liebevoll und aufopfernd um das Wohlergehen und die religiöse Erziehung ihres Sohnes bemüht. Ihre Darstellung erschöpft sich jedoch nicht in der Rolle der besorgten Mutter: Der Anonymus beschreibt sie vielmehr als außerordentlich belesen in christlicher wie nicht-christlicher Literatur, vielseitig gebildet und prophetisch begabt. Möglicherweise ist es gerade ihre Markierung als Andersgläubige, die ihm den narrativen Raum eröffnet, eine Frau als derart gelehrt zu inszenieren.<ref name="ftn31">Vgl. Hodgson, Role, S. 168. Die Emotionalität der Mutter-Sohn-Beziehung drückt sich in der wechselseitigen Anrede als ''karissima''/''karissime'' aus.</ref> Darüber hinaus wird der Muslima als Herrschermutter eine beachtliche politische Autorität zugesprochen, indem sie ihre Ratschläge dem seldschukischen Atabeg in einem Zwiegespräch unterbreiten und – davon zeugen die Rückfragen Kürbuġas – zumindest zeitweise sein Gehör finden kann. Mit ihrer Überzeugung von der göttlichen Übermacht des Kreuzfahrerheeres bringt sie die Siegesgewissheit Kürbuġas, die auf rein militärisch-strategischen Parametern fußt, ins Wanken. Mit der Beteuerung, sie kenne den Zeitpunkt nicht, an dem sich diese Prophezeiungen erfüllen mögen, legt sie die Kontingenz der Zukunft auf dramatische Weise offen. Dass Kürbuġa die von seiner Mutter modellierte und präferierte Handlungsoption, nämlich die Schlacht gegen die Christen auszusetzen, letztlich nicht auswählt (nicht auswählen kann), passt zu seiner Charakterisierung als überheblicher, naiv-ungläubiger Barbar.<ref name="ftn32">In dieser Darstellung Karbuġās stimmen christliche und muslimische Quellen weitgehend überein, vgl. Brandt, ''Ritter'', S. 204-206.</ref> Diese schematische, negativ stereotypisierte Sichtweise auf den seldschukischen Heerführer, die vor allem auf dessen sündhaften Hochmut (''superbia'') abhebt, findet später in der vernichtenden Niederlage seines Heeres Bestätigung.<ref name="ftn33">Zur Konstruktion eines muslimischen Feindbildes in der Kreuzzugsära siehe Völkl, ''Muslime'', S. 167-214.</ref>
[§11] So entspricht die Mutter in ihrem Auftreten weitgehend dem Ideal einer christlichen Mutter, die sich liebevoll und aufopfernd um das Wohlergehen und die religiöse Erziehung ihres Sohnes bemüht. Ihre Darstellung erschöpft sich jedoch nicht in der Rolle der besorgten Mutter: Der Anonymus beschreibt sie vielmehr als außerordentlich belesen in christlicher wie nicht-christlicher Literatur, vielseitig gebildet und prophetisch begabt. Möglicherweise ist es gerade ihre Markierung als Andersgläubige, die ihm den narrativen Raum eröffnet, eine Frau als derart gelehrt zu inszenieren.<ref name="ftn31">Vgl. Hodgson, Role, S. 168. Die Emotionalität der Mutter-Sohn-Beziehung drückt sich in der wechselseitigen Anrede als ''karissima''/''karissime'' aus.</ref> Darüber hinaus wird der Muslima als Herrschermutter eine beachtliche politische Autorität zugesprochen, indem sie ihre Ratschläge dem seldschukischen Atabeg in einem Zwiegespräch unterbreiten und – davon zeugen die Rückfragen Kürbuġas – zumindest zeitweise sein Gehör finden kann. Mit ihrer Überzeugung von der göttlichen Übermacht des Kreuzfahrerheeres bringt sie die Siegesgewissheit Kürbuġas, die auf rein militärisch-strategischen Parametern fußt, ins Wanken. Mit der Beteuerung, sie kenne den Zeitpunkt nicht, an dem sich diese Prophezeiungen erfüllen mögen, legt sie die Kontingenz der Zukunft auf dramatische Weise offen. Dass Kürbuġa die von seiner Mutter modellierte und präferierte Handlungsoption, nämlich die Schlacht gegen die Christen auszusetzen, letztlich nicht auswählt (nicht auswählen kann), passt zu seiner Charakterisierung als überheblicher, naiv-ungläubiger Barbar.<ref name="ftn32">In dieser Darstellung Karbuġās stimmen christliche und muslimische Quellen weitgehend überein, vgl. Brandt, ''Ritter'', S. 204-206.</ref> Diese schematische, negativ stereotypisierte Sichtweise auf den seldschukischen Heerführer, die vor allem auf dessen sündhaften Hochmut (''superbia'') abhebt, findet später in der vernichtenden Niederlage seines Heeres Bestätigung.<ref name="ftn33">Zur Konstruktion eines muslimischen Feindbildes in der Kreuzzugsära siehe Völkl, ''Muslime'', S. 167-214.</ref>


In den Augen des zeitgenössischen Publikums muss die Figur der Mutter – deren ‚Heidentum‘ mitnichten verschleiert wird<ref name="ftn34">So schließt sie sich selbst in ihre Prophezeiungen ein, z. B. in der Formulierung „gens Christiana <u>nos</u> ubique est deuictura“ [Hervorh. TR].</ref> – zweifellos als positiv wahrgenommen worden sein, wenn sie in der „Position einer kryptochristlichen Mahnerin“<ref name="ftn35">Skottki, ''Christen'', S. 265.</ref> Einsichten in den göttlichen Heilsplan offenbart.<ref name="ftn36">Vgl. Morton, ''Islam'', S. 161. Unter anderem für die Dynastie der Umayyaden in al-Andalus konnten nicht-konvertierte christliche Frauen als Mütter und Konkubinen muslimischer Herrscher nachgewiesen werden, vgl. Ruggles, Mothers, S. 69-75.</ref> Um den christlichen Gott als Helfer der Kreuzfahrer und ihre muslimischen Gegner als dem Untergang geweiht darzustellen, bedient sie sich mehrerer Verweise auf die Vulgata. Insbesondere Psalm 79 (Vulgata: Psalm 78), in dem das Volk Israel Gott um Vergeltung für die Zerstörung Jerusalems bittet, ist in der Kreuzzugspropaganda seit dem Kreuzzugsaufruf Urbans II. zur Rechtfertigung von religiöser Gewalt gegen Andersgläubige herangezogen worden.<ref name="ftn37">Vgl. Crispin, Heilige, S. 74-75, mit Verweis auf Althoff, ''Verfolgung'', S. 121-146.</ref> Interessant ist zudem die Auswahl der christlichen Glaubensüberzeugungen, die die Muslima im Dialog ihrem Sohn ‚zumutet‘: So verweist sie zwar auf die Allmacht Gottes und die Schöpfung von Himmel und Erde, vermeidet aber Aussagen, die auf ein trinitarisches Gottesbild schließen lassen. Hat der Anonymus also für seine muslimische Sprecherin bewusst eine ihrem ‚heidnischen‘ Hintergrund angepasste Version der christlichen Dogmen formuliert? Nach dem Sieg der Kreuzfahrer in der Schlacht von Doryläum (1097) stellt er jedenfalls mit sichtlicher Bewunderung fest, die türkischen Seldschuken (''Turci'') wären den Franken in der Kriegskunst regelrecht überlegen, wenn sie sich nur zu dem einen, dreieinigen Gott bekennen würden.<ref name="ftn38">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 3, cap. 9, S. 21: „Certe si in fide Christi et Christianitate sancta semper firmi fuissent, et unum Deum in trinitate confiteri uoluissent (...), ipsis potentiores uel fortiores uel bellorum ingeniosissimos nullus inuenire potuisset.“ Zu diesem ‚Türkenlob‘ und der Konstruktion einer gemeinsamen Abstammung von Türken und Franken im Sinne einer ''origo'' ''gentis''-Erzählung vgl. Brandt, ''Ritter'', S. 142-163, sowie Skottki, ''Christen'', S. 467-479. Zum (Nicht-)Glauben an die Trinität als Unterscheidungsmerkmal von Christen und Muslimen siehe Goetz, ''Wahrnehmung'', S. 355-357 mit weiteren Quellenbelegen.</ref> In späteren Berichten, die auf die ''Gesta Francorum'' zurückgreifen, wird die Rede der Mutter gemäß dem theologischen Programm des jeweiligen Verfassers modifiziert und mittels alternativer Bibelzitate neu ausgedeutet.<ref name="ftn39">Vgl. Smith, War, S. 26-36.</ref>  
[§12] In den Augen des zeitgenössischen Publikums muss die Figur der Mutter – deren ‚Heidentum‘ mitnichten verschleiert wird<ref name="ftn34">So schließt sie sich selbst in ihre Prophezeiungen ein, z. B. in der Formulierung „gens Christiana <u>nos</u> ubique est deuictura“ [Hervorh. TR].</ref> – zweifellos als positiv wahrgenommen worden sein, wenn sie in der „Position einer kryptochristlichen Mahnerin“<ref name="ftn35">Skottki, ''Christen'', S. 265.</ref> Einsichten in den göttlichen Heilsplan offenbart.<ref name="ftn36">Vgl. Morton, ''Islam'', S. 161. Unter anderem für die Dynastie der Umayyaden in al-Andalus konnten nicht-konvertierte christliche Frauen als Mütter und Konkubinen muslimischer Herrscher nachgewiesen werden, vgl. Ruggles, Mothers, S. 69-75.</ref> Um den christlichen Gott als Helfer der Kreuzfahrer und ihre muslimischen Gegner als dem Untergang geweiht darzustellen, bedient sie sich mehrerer Verweise auf die Vulgata. Insbesondere Psalm 79 (Vulgata: Psalm 78), in dem das Volk Israel Gott um Vergeltung für die Zerstörung Jerusalems bittet, ist in der Kreuzzugspropaganda seit dem Kreuzzugsaufruf Urbans II. zur Rechtfertigung von religiöser Gewalt gegen Andersgläubige herangezogen worden.<ref name="ftn37">Vgl. Crispin, Heilige, S. 74-75, mit Verweis auf Althoff, ''Verfolgung'', S. 121-146.</ref> Interessant ist zudem die Auswahl der christlichen Glaubensüberzeugungen, die die Muslima im Dialog ihrem Sohn ‚zumutet‘: So verweist sie zwar auf die Allmacht Gottes und die Schöpfung von Himmel und Erde, vermeidet aber Aussagen, die auf ein trinitarisches Gottesbild schließen lassen. Hat der Anonymus also für seine muslimische Sprecherin bewusst eine ihrem ‚heidnischen‘ Hintergrund angepasste Version der christlichen Dogmen formuliert? Nach dem Sieg der Kreuzfahrer in der Schlacht von Doryläum (1097) stellt er jedenfalls mit sichtlicher Bewunderung fest, die türkischen Seldschuken (''Turci'') wären den Franken in der Kriegskunst regelrecht überlegen, wenn sie sich nur zu dem einen, dreieinigen Gott bekennen würden.<ref name="ftn38">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 3, cap. 9, S. 21: „Certe si in fide Christi et Christianitate sancta semper firmi fuissent, et unum Deum in trinitate confiteri uoluissent (...), ipsis potentiores uel fortiores uel bellorum ingeniosissimos nullus inuenire potuisset.“ Zu diesem ‚Türkenlob‘ und der Konstruktion einer gemeinsamen Abstammung von Türken und Franken im Sinne einer ''origo'' ''gentis''-Erzählung vgl. Brandt, ''Ritter'', S. 142-163, sowie Skottki, ''Christen'', S. 467-479. Zum (Nicht-)Glauben an die Trinität als Unterscheidungsmerkmal von Christen und Muslimen siehe Goetz, ''Wahrnehmung'', S. 355-357 mit weiteren Quellenbelegen.</ref> In späteren Berichten, die auf die ''Gesta Francorum'' zurückgreifen, wird die Rede der Mutter gemäß dem theologischen Programm des jeweiligen Verfassers modifiziert und mittels alternativer Bibelzitate neu ausgedeutet.<ref name="ftn39">Vgl. Smith, War, S. 26-36.</ref>  


Zur vermeintlichen Bestätigung der Prophezeiung von der Übermacht der Christen lässt der Verfasser der ''Gesta'' die Mutter zudem auf die ‚eigene‘ Schrift verweisen. Ob der Anonymus mit der Formulierung ''nostra pagina'' konkret den Koran im Sinn hatte, muss offenbleiben. An anderer Stelle des Werks findet sich die Bezugnahme auf eine muslimische ''lex''. Somit dürfte zumindest die rudimentäre Vorstellung eines kodifizierten religiösen Gesetzes der Muslime existiert haben, über dessen Inhalte der Anonymus jedoch offensichtlich keine genauen Kenntnisse hatte.<ref name="ftn40">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 10, cap. 34, S. 82: „et iurauerunt sua lege“.</ref> Unabhängig von den realen Grenzen religiösen Wissenserwerbs im Kontext des ersten Kreuzzugs, bedingt etwa durch die Kriegssituation und Kommunikationsbarrieren, scheint eine differenzierende Betrachtung der Muslime in narrativer Hinsicht nicht intendiert zu sein: In Aktualisierung der alttestamentlichen Heidenvölker erschöpft sich ihre Rolle vielmehr in der Feindschaft zu den Kreuzfahrern als dem auserwählten ‚Gottesvolk‘.<ref name="ftn41">Vgl. Tolan, Muslims, S. 105.</ref>  
[§13] Zur vermeintlichen Bestätigung der Prophezeiung von der Übermacht der Christen lässt der Verfasser der ''Gesta'' die Mutter zudem auf die ‚eigene‘ Schrift verweisen. Ob der Anonymus mit der Formulierung ''nostra pagina'' konkret den Koran im Sinn hatte, muss offenbleiben. An anderer Stelle des Werks findet sich die Bezugnahme auf eine muslimische ''lex''. Somit dürfte zumindest die rudimentäre Vorstellung eines kodifizierten religiösen Gesetzes der Muslime existiert haben, über dessen Inhalte der Anonymus jedoch offensichtlich keine genauen Kenntnisse hatte.<ref name="ftn40">Vgl. ''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 10, cap. 34, S. 82: „et iurauerunt sua lege“.</ref> Unabhängig von den realen Grenzen religiösen Wissenserwerbs im Kontext des ersten Kreuzzugs, bedingt etwa durch die Kriegssituation und Kommunikationsbarrieren, scheint eine differenzierende Betrachtung der Muslime in narrativer Hinsicht nicht intendiert zu sein: In Aktualisierung der alttestamentlichen Heidenvölker erschöpft sich ihre Rolle vielmehr in der Feindschaft zu den Kreuzfahrern als dem auserwählten ‚Gottesvolk‘.<ref name="ftn41">Vgl. Tolan, Muslims, S. 105.</ref>  


Als weiteren Beleg für ihre Überzeugung, dass der Sieg der christlichen Kämpfer gegen die Truppen Kürbuġas vorherbestimmt sei, führt die Mutter die von ihr eingeholten astronomisch-astrologischen Erkundigungen an. Ihre Porträtierung als Sterndeuterin mag einem exotisierenden Topos folgend der detailreichen Ausschmückung der Szene geschuldet sein. Doch lassen sich quellenbasierte Hinweise finden, die eine Konsultation von Astrologen im Rahmen der Entscheidungsfindung muslimischer Herrscher der Kreuzfahrerperiode plausibel machen.<ref name="ftn42">Belege für eine astrologische Praxis finden sich beispielsweise in den historiographischen Werken des Ibn al-Aṯīr (gest. 630/1233), vgl. ''The Annals of the Saljuq Turks. Selections from al-Kāmil fīʾl-Taʾrīkh of ʿIzz al-Dīn Ibn al-Athīr'', übers. Donald Sidney Richards, London: RoutledgeCurzon, 2002, S. 151-152. (456/1063-64), S. 287-288 (489/1096), S. 294 (490/1096-97), und des Ibn al-Qalānisī (gest. 555/1160), vgl. ''Damas de 1075 à 1154. Traduction annotée d’un fragment de l’Histoire de Damas d’Ibn Al-Qalansi'', übers. Roger Le Tourneau, Damascus: Presses de l''’''Institut français du Proche Orient, 1952, URL: https://books.openedition.org/ifpo/3386 (Zugriff 12.03.2020), cap. 41 (485/1092), 71 (490/1097), 112 (496/1103); ''The Damascus Chronicle of the Crusades''. Extracted and translated from the Chronicle of Ibn al-Qalānisī by Hamilton A. R. Gibb, London: Luzac, 1932, S. 58 (496/1103). Siehe auch Morton, Conversion, S. 113-114. Aus Sicht der Kreuzfahrer berichtet Raimund von Aguilers im Vorfeld der Schlacht von Askalon von „constellatores (...) et augures“ der Fatimiden, die zu einem einwöchigen Aufschub des Angriffs auf das Kreuzfahrerheer geraten hätten (''Le Liber de Raymond d’Aguilers'', ed. Hill und Hill, S. 158).</ref> Trotz der aus der Spätantike tradierten patristischen Astrologiekritik enthält die Beschreibung in den ''Gesta'' keine explizite Negativbewertung dieser Praxis als magisch-unchristlich.<ref name="ftn43">Zur mittelalterlichen Kritik und Rechtfertigungsstrategien der Astrologie vgl. Smoller, ''History'', S. 25-42. Bereits Isidor von Sevilla (gest. 636) hat die Janusköpfigkeit der Astrologie als ‚natürliche‘ und ‚abergläubische‘ Praktik herausgestellt und sie folglich sowohl unter den Wissenschaften als auch unter den magischen Künsten besprochen. Vgl. Isidorus Hispalensis episcopus,'' Etymologiarum sive originvm libri XX'', ed. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, Bd. 1, lib. 3, cap. 27, sowie lib. 8, cap. 9, hier: lib. 3, cap. 27,1 (ohne Seitenzahlen): „Astrologia vero partim naturalis, partim superstitiosa est.“</ref> Ein Gegenbeispiel bietet Raimund von Aguilers (gest. nach 1101): Er berichtet von zwei muslimischen ‚Hexen‘, die bei dem Versuch, eine Steinschleuder der Kreuzfahrer zu verzaubern, erschlagen werden.<ref name="ftn44">Vgl.'' Le Liber de Raymond d’Aguilers'', ed. Hill und Hill, S. 149: „Quod cum due mulieres petrariam unam de nostris fascinare vellent, lapis de eodem tormento viriliter excussus, mulieres carminantes cum tribus puellis parvulis allisit, atque animabus excussis incantationes avertit.“</ref> Die in der vorliegenden Textpassage verwendeten Adverbien (''ingeniose'', ''sagaciter'') signalisieren dagegen einen fachkundigen Einsatz divinatorischer Praktiken durch eine fremdländische Frau. Hinzu kommt, dass sich das von ihr präsentierte Zukunftswissen aus christlicher Sicht als zutreffend und heilsgeschichtlich bedeutsam erweist. Insofern steht die Mutter Kürbuġas dem biblischen Typus der heidnischen ''magi'' aus dem Orient näher, die dank ihrer Fähigkeiten als Sterndeuter von der Geburt Jesu erfahren und einem Stern folgend nach Bethlehem gelangen.<ref name="ftn45">Vgl. Mt 2,1-12. Hierzu auch: Isidorus Hispalensis,'' Etymologiarum libri'', ed. Lindsay, lib. 8, cap. 9.</ref> Bezeichnenderweise nahmen andere Verfasser von Kreuzzugsberichten an der Szene entscheidende Änderungen vor: So ersetzen etwa Raimund von Aguilers und Fulcher von Chartres (gest. ca. 1127) die weibliche Protagonistin in ihren Geschichtswerken durch einen fähigen, muslimischen Ritter, dessen Kenntnisse über das christliche Kreuzfahrerheer zudem nicht auf divinatorisch-magischen Praktiken, sondern empirisch-innerweltlichen Erfahrungen aus dem gegnerischen Lager gründen. Die prophetischen Worte einer ‚Heidin‘ in der ''Gesta''-Fassung mögen ihnen blasphemisch oder schlicht unplausibel erschienen sein.<ref name="ftn46">Vgl. ''Le Liber de Raymond d’Aguilers'', ed. Hill und Hill, S. 80-81; Fulcherus Carnotensis, ''Historia Hierosolymitana'', ed. Hagenmeyer, lib. 1, cap. 22, S. 253-254. Dazu Skottki, ''Christen'', S. 424-426.</ref>
[§14] Als weiteren Beleg für ihre Überzeugung, dass der Sieg der christlichen Kämpfer gegen die Truppen Kürbuġas vorherbestimmt sei, führt die Mutter die von ihr eingeholten astronomisch-astrologischen Erkundigungen an. Ihre Porträtierung als Sterndeuterin mag einem exotisierenden Topos folgend der detailreichen Ausschmückung der Szene geschuldet sein. Doch lassen sich quellenbasierte Hinweise finden, die eine Konsultation von Astrologen im Rahmen der Entscheidungsfindung muslimischer Herrscher der Kreuzfahrerperiode plausibel machen.<ref name="ftn42">Belege für eine astrologische Praxis finden sich beispielsweise in den historiographischen Werken des Ibn al-Aṯīr (gest. 630/1233), vgl. ''The Annals of the Saljuq Turks. Selections from al-Kāmil fīʾl-Taʾrīkh of ʿIzz al-Dīn Ibn al-Athīr'', übers. Donald Sidney Richards, London: RoutledgeCurzon, 2002, S. 151-152. (456/1063-64), S. 287-288 (489/1096), S. 294 (490/1096-97), und des Ibn al-Qalānisī (gest. 555/1160), vgl. ''Damas de 1075 à 1154. Traduction annotée d’un fragment de l’Histoire de Damas d’Ibn Al-Qalansi'', übers. Roger Le Tourneau, Damascus: Presses de l''’''Institut français du Proche Orient, 1952, URL: https://books.openedition.org/ifpo/3386 (Zugriff 12.03.2020), cap. 41 (485/1092), 71 (490/1097), 112 (496/1103); ''The Damascus Chronicle of the Crusades''. Extracted and translated from the Chronicle of Ibn al-Qalānisī by Hamilton A. R. Gibb, London: Luzac, 1932, S. 58 (496/1103). Siehe auch Morton, Conversion, S. 113-114. Aus Sicht der Kreuzfahrer berichtet Raimund von Aguilers im Vorfeld der Schlacht von Askalon von „constellatores (...) et augures“ der Fatimiden, die zu einem einwöchigen Aufschub des Angriffs auf das Kreuzfahrerheer geraten hätten (''Le Liber de Raymond d’Aguilers'', ed. Hill und Hill, S. 158).</ref> Trotz der aus der Spätantike tradierten patristischen Astrologiekritik enthält die Beschreibung in den ''Gesta'' keine explizite Negativbewertung dieser Praxis als magisch-unchristlich.<ref name="ftn43">Zur mittelalterlichen Kritik und Rechtfertigungsstrategien der Astrologie vgl. Smoller, ''History'', S. 25-42. Bereits Isidor von Sevilla (gest. 636) hat die Janusköpfigkeit der Astrologie als ‚natürliche‘ und ‚abergläubische‘ Praktik herausgestellt und sie folglich sowohl unter den Wissenschaften als auch unter den magischen Künsten besprochen. Vgl. Isidorus Hispalensis episcopus,'' Etymologiarum sive originvm libri XX'', ed. Wallace Martin Lindsay, Oxford 1911, Bd. 1, lib. 3, cap. 27, sowie lib. 8, cap. 9, hier: lib. 3, cap. 27,1 (ohne Seitenzahlen): „Astrologia vero partim naturalis, partim superstitiosa est.“</ref> Ein Gegenbeispiel bietet Raimund von Aguilers (gest. nach 1101): Er berichtet von zwei muslimischen ‚Hexen‘, die bei dem Versuch, eine Steinschleuder der Kreuzfahrer zu verzaubern, erschlagen werden.<ref name="ftn44">Vgl.'' Le Liber de Raymond d’Aguilers'', ed. Hill und Hill, S. 149: „Quod cum due mulieres petrariam unam de nostris fascinare vellent, lapis de eodem tormento viriliter excussus, mulieres carminantes cum tribus puellis parvulis allisit, atque animabus excussis incantationes avertit.“</ref> Die in der vorliegenden Textpassage verwendeten Adverbien (''ingeniose'', ''sagaciter'') signalisieren dagegen einen fachkundigen Einsatz divinatorischer Praktiken durch eine fremdländische Frau. Hinzu kommt, dass sich das von ihr präsentierte Zukunftswissen aus christlicher Sicht als zutreffend und heilsgeschichtlich bedeutsam erweist. Insofern steht die Mutter Kürbuġas dem biblischen Typus der heidnischen ''magi'' aus dem Orient näher, die dank ihrer Fähigkeiten als Sterndeuter von der Geburt Jesu erfahren und einem Stern folgend nach Bethlehem gelangen.<ref name="ftn45">Vgl. Mt 2,1-12. Hierzu auch: Isidorus Hispalensis,'' Etymologiarum libri'', ed. Lindsay, lib. 8, cap. 9.</ref> Bezeichnenderweise nahmen andere Verfasser von Kreuzzugsberichten an der Szene entscheidende Änderungen vor: So ersetzen etwa Raimund von Aguilers und Fulcher von Chartres (gest. ca. 1127) die weibliche Protagonistin in ihren Geschichtswerken durch einen fähigen, muslimischen Ritter, dessen Kenntnisse über das christliche Kreuzfahrerheer zudem nicht auf divinatorisch-magischen Praktiken, sondern empirisch-innerweltlichen Erfahrungen aus dem gegnerischen Lager gründen. Die prophetischen Worte einer ‚Heidin‘ in der ''Gesta''-Fassung mögen ihnen blasphemisch oder schlicht unplausibel erschienen sein.<ref name="ftn46">Vgl. ''Le Liber de Raymond d’Aguilers'', ed. Hill und Hill, S. 80-81; Fulcherus Carnotensis, ''Historia Hierosolymitana'', ed. Hagenmeyer, lib. 1, cap. 22, S. 253-254. Dazu Skottki, ''Christen'', S. 424-426.</ref>


Im Argumentationsverlauf des Mutter-Sohn-Gesprächs werden damit anhand einzelner Formulierungen weitere Vorstellungen über die soziale Ordnung und die Religion der Muslime erkennbar. Der Islam wird als polytheistische und heidnische Religion einer ''gens paganorum'' gefasst. Religiöse Alterität wird beispielhaft in der im Christentum verbotenen Praktik des Schwörens ausgedrückt, wenn die Mutter ihren Sohn zu Beginn des Gesprächs „bei den Namen aller Götter“ (''per omnium deorum nomina'') anfleht.<ref name="ftn47">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 22, S. 53; in ähnlicher Formulierung unter Nennung Muḥammads: „iuro uobis per Machomet et per omnia deorum nomina“ (ebd., lib. 9, cap. 21, S. 52). Vgl. Skottki, ''Christen'', S. 263-264. Zum Verbot des Schwörens siehe Mt 5,34-37.</ref> Die ''Gesta Francorum'' tradieren somit ein bereits vor den Kreuzzügen etabliertes Feindbild weiter, das den Islam in Verkennung seines Charakters als streng monotheistische Offenbarungsreligion mit dem Vorwurf des Polytheismus und der Idolatrie belegt.<ref name="ftn48">Vgl. Jaspert, Wahrnehmung, S. 313-317; Jubb, Perceptions, S. 228-233; Daniel, ''Islam'', S. 338-343.</ref> Neben dem Rekurs auf bekannte Stereotype bedient sich der Verfasser der Strategie, die abendländisch-feudalen Ordnungsstrukturen analogisierend auf das Fremde in der Levante zu übertragen: Den westlichen Kreuzzugsführern stellt er die Emire (''ammiralii'') Kürbuġas gegenüber, an anderer Stelle in dem Tatenbericht wird der Kalif von Bagdad als muslimischer Papst (''Caliphae nostro apostolico''), der Sultan als König (''nostri regi domino Soldano'') tituliert.<ref name="ftn49">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 21-22, S. 52-53.</ref> In der hier untersuchten Textstelle wird noch eine weitere narrative Ebene eingezogen, indem der abendländische Anonymus die Perspektive des seldschukischen Heerführers und seiner Mutter auf die Kreuzfahrer imaginiert und auf diese Weise eine Pseudo-Fremdsicht auf das Eigene konstruiert.  
[§15] Im Argumentationsverlauf des Mutter-Sohn-Gesprächs werden damit anhand einzelner Formulierungen weitere Vorstellungen über die soziale Ordnung und die Religion der Muslime erkennbar. Der Islam wird als polytheistische und heidnische Religion einer ''gens paganorum'' gefasst. Religiöse Alterität wird beispielhaft in der im Christentum verbotenen Praktik des Schwörens ausgedrückt, wenn die Mutter ihren Sohn zu Beginn des Gesprächs „bei den Namen aller Götter“ (''per omnium deorum nomina'') anfleht.<ref name="ftn47">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 22, S. 53; in ähnlicher Formulierung unter Nennung Muḥammads: „iuro uobis per Machomet et per omnia deorum nomina“ (ebd., lib. 9, cap. 21, S. 52). Vgl. Skottki, ''Christen'', S. 263-264. Zum Verbot des Schwörens siehe Mt 5,34-37.</ref> Die ''Gesta Francorum'' tradieren somit ein bereits vor den Kreuzzügen etabliertes Feindbild weiter, das den Islam in Verkennung seines Charakters als streng monotheistische Offenbarungsreligion mit dem Vorwurf des Polytheismus und der Idolatrie belegt.<ref name="ftn48">Vgl. Jaspert, Wahrnehmung, S. 313-317; Jubb, Perceptions, S. 228-233; Daniel, ''Islam'', S. 338-343.</ref> Neben dem Rekurs auf bekannte Stereotype bedient sich der Verfasser der Strategie, die abendländisch-feudalen Ordnungsstrukturen analogisierend auf das Fremde in der Levante zu übertragen: Den westlichen Kreuzzugsführern stellt er die Emire (''ammiralii'') Kürbuġas gegenüber, an anderer Stelle in dem Tatenbericht wird der Kalif von Bagdad als muslimischer Papst (''Caliphae nostro apostolico''), der Sultan als König (''nostri regi domino Soldano'') tituliert.<ref name="ftn49">''Gesta Francorum'', ed. Hill, lib. 9, cap. 21-22, S. 52-53.</ref> In der hier untersuchten Textstelle wird noch eine weitere narrative Ebene eingezogen, indem der abendländische Anonymus die Perspektive des seldschukischen Heerführers und seiner Mutter auf die Kreuzfahrer imaginiert und auf diese Weise eine Pseudo-Fremdsicht auf das Eigene konstruiert.  


Den anfänglich skizzierten, älteren Forschungsansätzen, die sich vornehmlich auf eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion anhand der historiographischen Zeugnisse konzentriert und die ''Gesta'' folglich auf ihre chronographische Funktion reduziert haben, blieb der Blick auf den Quellenwert derartiger Passagen verstellt. Werden fiktiv anmutende Episoden und Textschichten verschiedenster Gattungszugehörigkeit dagegen als integrale Bestandteile von narrativen Vergangenheitsverarbeitungen ernst genommen, können mitunter neue Einsichten, etwa zur christlich-muslimischen Wahrnehmungsgeschichte in der Kreuzzugsära, gewonnen werden. Als unterhaltsam inszeniertes literarisches Gedankenspiel wirft der Dialog zwischen Kürbuġa und seiner Mutter Schlaglichter auf die zeitspezifische Vorstellungswelt der frühen Kreuzfahrer und die ihren muslimischen Gegnern zugewiesene Rolle in der eschatologischen Deutung des Kreuzzugsunternehmens.|6=''Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum'', ed. Rosalind Hill, London: Nelson, 1962.
[§16] Den anfänglich skizzierten, älteren Forschungsansätzen, die sich vornehmlich auf eine ereignisgeschichtliche Rekonstruktion anhand der historiographischen Zeugnisse konzentriert und die ''Gesta'' folglich auf ihre chronographische Funktion reduziert haben, blieb der Blick auf den Quellenwert derartiger Passagen verstellt. Werden fiktiv anmutende Episoden und Textschichten verschiedenster Gattungszugehörigkeit dagegen als integrale Bestandteile von narrativen Vergangenheitsverarbeitungen ernst genommen, können mitunter neue Einsichten, etwa zur christlich-muslimischen Wahrnehmungsgeschichte in der Kreuzzugsära, gewonnen werden. Als unterhaltsam inszeniertes literarisches Gedankenspiel wirft der Dialog zwischen Kürbuġa und seiner Mutter Schlaglichter auf die zeitspezifische Vorstellungswelt der frühen Kreuzfahrer und die ihren muslimischen Gegnern zugewiesene Rolle in der eschatologischen Deutung des Kreuzzugsunternehmens.|6=''Gesta Francorum et aliorum Hierosolimitanorum'', ed. Rosalind Hill, London: Nelson, 1962.


''Gesta Francorum et aliorum Hierosolymitanorum seu Tudebodus abbreviatus'', ed. Philippe Le Bas (Recueil des Historiens des Croisades. Historiens occidentaux 3), Paris: Imprimerie Royale, 1866 (ND London: Gregg, 1967), S. 119-163.
''Gesta Francorum et aliorum Hierosolymitanorum seu Tudebodus abbreviatus'', ed. Philippe Le Bas (Recueil des Historiens des Croisades. Historiens occidentaux 3), Paris: Imprimerie Royale, 1866 (ND London: Gregg, 1967), S. 119-163.
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