711-745: Ibn al-Qūṭiyya zur Kooperation seiner westgotischen Vorfahren mit den muslimischen Eroberern: Unterschied zwischen den Versionen

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Dem Geschichtswerk zufolge ist ein Zwist zwischen Vertretern der westgotischen Elite zumindest teilweise für den Erfolg der muslimischen Invasion verantwortlich. Nach dem Tod des vorletzten Westgotenkönigs Witiza hatte dessen Frau für Witizas minderjährige Söhne Almund, Waqala und Arṭabāš die Herrschaft geführt, war aber vom Usurpator Roderich entmachtet worden. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die Söhne Witizas für eine Kollaboration mit dem muslimischen Eroberer Ṭāriq b. Ziyād und trugen damit zum Fall Roderichs wie auch der westgotischen Herrschaft insgesamt bei. Als Gegenleistung erwirkten sie von Seiten Ṭāriqs, seines Vorgesetzten Mūsā b. Nuṣayr und sogar des umayyadischen Kalifen al-Walīd (regn. 86-96/705-715) eine Bestätigung ihres als "Krongüter" bezeichneten Besitzes, die sie zu Neutralität nach innen und außen verpflichtete. Der Kalif in Damaskus, in diesem Fall Hišām b. ʿAbd al-Malik (regn. 105-25/724-43), griff nochmals in die Familienverhältnisse ein, als Witizas Sohn Arṭabāš sich nach dem Tod seines Bruders Almund bemühte, seine Nichte Sāra "die Gotin" (''al-Qūṭiyya'') zu enteignen. Bei einer Audienz in Damaskus erwirkte sie ein offizielles Schreiben, das den Gouverneur von al-Andalus, Abū l-Ḫaṭṭāb al-Kalbī (regn. 125-127/743-745) zur Restitution ihres entwendeten Besitzes veranlasste. Während ihres Aufenthaltes in Damaskus ging sie zudem die Ehe mit dem umayyadischen Klienten ʿĪsā b. Muzāḥim ein und lernte den Enkel des Kalifen Hišam, den späteren Emir von al-Andalus, ʿAbd al-Raḥmān b. Muʿāwiya b. Hišam (regn. 138-72/756-88) kennen. Sāra wurde damit Teil der umayyadisch geprägten muslimischen Herrschaftselite von al-Andalus. Anders als die Nachfahren ihrer Onkel, in deren Reihen das Geschichtswerk weiter Christen wie etwa den erwähnten Ḥafṣ b. Albar al-Qūṭī<ref name="ftn6">Vgl. die noch zu behandelnde arabisch Psalterübersetzung desselben.</ref> verzeichnet, gebar sie ihrem ersten sowie ihrem zweiten Mann eine Reihe muslimischer Kinder, von denen einer Vorfahr des hier zitierten Autors, Ibn al-Qūṭiyya, war. Dem Werk zufolge war Ibn al-Qūṭiyya somit direkter Nachfahre des Westgotenkönigs Witiza, wahrscheinlich in der sechsten Generation (Ġaytaša-Witiza > Almund > Sāra > Ibrāhīm > ʿAbd al-ʿAzīz > ʿUmar > Muḥammad b. ʿUmar).
Dem Geschichtswerk zufolge ist ein Zwist zwischen Vertretern der westgotischen Elite zumindest teilweise für den Erfolg der muslimischen Invasion verantwortlich. Nach dem Tod des vorletzten Westgotenkönigs Witiza hatte dessen Frau für Witizas minderjährige Söhne Almund, Waqala und Arṭabāš die Herrschaft geführt, war aber vom Usurpator Roderich entmachtet worden. Vor diesem Hintergrund entschieden sich die Söhne Witizas für eine Kollaboration mit dem muslimischen Eroberer Ṭāriq b. Ziyād und trugen damit zum Fall Roderichs wie auch der westgotischen Herrschaft insgesamt bei. Als Gegenleistung erwirkten sie von Seiten Ṭāriqs, seines Vorgesetzten Mūsā b. Nuṣayr und sogar des umayyadischen Kalifen al-Walīd (regn. 86-96/705-715) eine Bestätigung ihres als "Krongüter" bezeichneten Besitzes, die sie zu Neutralität nach innen und außen verpflichtete. Der Kalif in Damaskus, in diesem Fall Hišām b. ʿAbd al-Malik (regn. 105-25/724-43), griff nochmals in die Familienverhältnisse ein, als Witizas Sohn Arṭabāš sich nach dem Tod seines Bruders Almund bemühte, seine Nichte Sāra "die Gotin" (''al-Qūṭiyya'') zu enteignen. Bei einer Audienz in Damaskus erwirkte sie ein offizielles Schreiben, das den Gouverneur von al-Andalus, Abū l-Ḫaṭṭāb al-Kalbī (regn. 125-127/743-745) zur Restitution ihres entwendeten Besitzes veranlasste. Während ihres Aufenthaltes in Damaskus ging sie zudem die Ehe mit dem umayyadischen Klienten ʿĪsā b. Muzāḥim ein und lernte den Enkel des Kalifen Hišam, den späteren Emir von al-Andalus, ʿAbd al-Raḥmān b. Muʿāwiya b. Hišam (regn. 138-72/756-88) kennen. Sāra wurde damit Teil der umayyadisch geprägten muslimischen Herrschaftselite von al-Andalus. Anders als die Nachfahren ihrer Onkel, in deren Reihen das Geschichtswerk weiter Christen wie etwa den erwähnten Ḥafṣ b. Albar al-Qūṭī<ref name="ftn6">Vgl. die noch zu behandelnde arabisch Psalterübersetzung desselben.</ref> verzeichnet, gebar sie ihrem ersten sowie ihrem zweiten Mann eine Reihe muslimischer Kinder, von denen einer Vorfahr des hier zitierten Autors, Ibn al-Qūṭiyya, war. Dem Werk zufolge war Ibn al-Qūṭiyya somit direkter Nachfahre des Westgotenkönigs Witiza, wahrscheinlich in der sechsten Generation (Ġaytaša-Witiza > Almund > Sāra > Ibrāhīm > ʿAbd al-ʿAzīz > ʿUmar > Muḥammad b. ʿUmar).


Inwieweit es sich hierbei um eine authentische Genealogie handelt, ist in der Forschung umstritten, nicht zuletzt, weil die Geschichte einige Ungereimtheiten enthält. Zum einen ist nicht ersichtlich, wie die beim Tod Witizas (regn. ca. 701-710) minderjährigen Königssöhne im Jahr der muslimischen Invasion 711, also nur ein Jahr später, schon ausgewachsene Männer gewesen sein können.<ref name="ftn7">Manzano Moreno, ''Conquistadores'', S. 45.</ref> Nicht logisch erscheint ferner, dass Mūsā b. Nuṣayr, dessen Eifersucht auf Ṭāriq b. Ziyād in allen arabisch-islamischen Geschichtswerken erwähnt wird, einer Gruppe westgotischer Adliger erlaubt haben soll, nach Damaskus zu reisen, um dort den Kalifen über die Eroberungsleistungen seines Klienten zu informieren.<ref name="ftn8">Martinez-Gros, Adoption, S. 19; Chalmeta, ''Invasión'', S. 140-142.</ref> Angesichts anderer überlieferter Erklärungen für den Erfolg der muslimischen Invasion, darunter die Kollaboration der Nordafrikaner Julian, Urbanus sowie nordafrikanischer und westgotischer Juden<ref name="ftn9">Vgl. [[694: Der Vorwurf jüdischer Kollaboration in den Akten des 17. Konzils von Toledo]] sowie [[711: Ibn ʿAbd al-Ḥakam zur Kollaboration Julians bei der muslimischen Invasion der Iberischen Halbinsel]].</ref>, erscheint es verwunderlich, dass Ibn al-Qūṭiyya den Söhnen Witizas eine solch entscheidende Sonderrolle einräumt, zumal auch im so genannten „Pakt des Tudmir“ durch den frühen Gouverneur ʿAbd al-ʿAzīz b. Mūsā (regn. 95-97/714-16) vergleichbare Besitzbestätigungen gegeben wurden.<ref name="ftn10">Chalmeta, ''Invasión'', S. 140-142. Vgl. [[713: Vertrag von Tudmīr]].</ref> Auffällig ist auch, dass die bei Ibn al-Qūṭiyya verzeichneten Namen der Witiza-Söhne nicht mit denjenigen in anderen Quellen übereinstimmen. Die der Invasionsperiode zeitgenössische ''Chronik von 754'' kennt keinerlei Witiza-Söhne, sondern erwähnt nur einen Kollaborateur namens Oppa, der als Sohn des Westgotenkönigs Egica und damit als Bruder Witizas identifiziert wird und mit Mūsā b. Nuṣayr gegen einige ''seniores nobiles uiros'' des Westgotenreiches vorgegangen sein soll.<ref name="ftn11">''Continuatio hispana'', ed. Theodor Mommsen (MGH Auct. Ant., 11), Berlin: Weidmann, 1894, § 70, S. 353; bzw. ''Chronica muzarabica'', ed. Juan Gil (Corpus Scriptorum Muzarabicorum 1), Madrid: CSIC, 1973, § 45, S. 32: "per Oppam filium Egiche regis".</ref> Andere arabisch-islamische Quellen dagegen erwähnen zwar Söhne Witizas, nennen sie aber entweder Oppa (''Ubbah'') und Sisbert (''Šišbart'') oder Oppa (''Wabba''), Arṭabāš und Sīda.<ref name="ftn12">Vgl. König, Rückbindung, S. 130, mit Quellenangaben.</ref> Schließlich verwundert es, dass Ibn al-Qūṭiyya – anders als zahlreiche arabisch-islamische Geschichtswerke des 11. Jahrhunderts – nicht mehr über westgotische Geschichte weiß und sich sogar im Zusammenhang mit seiner Genealogie auf arabisch-islamische Autoritäten anstatt auf eine eigenständige Familientradition beruft.<ref name="ftn13">Vgl. Fierro, Obra historica, S. 501; König, Rückbindung, S. 130-131; König, ''Arabic-Islamic Views'', S. 160-169.</ref></div>
Inwieweit es sich hierbei um eine authentische Genealogie handelt, ist in der Forschung umstritten, nicht zuletzt, weil die Geschichte einige Ungereimtheiten enthält. Zum einen ist nicht ersichtlich, wie die beim Tod Witizas (regn. ca. 701-710) minderjährigen Königssöhne im Jahr der muslimischen Invasion 711, also nur ein Jahr später, schon ausgewachsene Männer gewesen sein können.<ref name="ftn7">Manzano Moreno, ''Conquistadores'', S. 45.</ref> Nicht logisch erscheint ferner, dass Mūsā b. Nuṣayr, dessen Eifersucht auf Ṭāriq b. Ziyād in allen arabisch-islamischen Geschichtswerken erwähnt wird, einer Gruppe westgotischer Adliger erlaubt haben soll, nach Damaskus zu reisen, um dort den Kalifen über die Eroberungsleistungen seines Klienten zu informieren.<ref name="ftn8">Martinez-Gros, Adoption, S. 19; Chalmeta, ''Invasión'', S. 140-142.</ref> Angesichts anderer überlieferter Erklärungen für den Erfolg der muslimischen Invasion, darunter die Kollaboration der Nordafrikaner Julian, Urbanus sowie nordafrikanischer und westgotischer Juden<ref name="ftn9">Vgl. [[694: Der Vorwurf jüdischer Kollaboration in den Akten des 17. Konzils von Toledo]] sowie [[711: Ibn ʿAbd al-Ḥakam zur Kollaboration Julians bei der muslimischen Invasion der Iberischen Halbinsel]].</ref>, erscheint es verwunderlich, dass Ibn al-Qūṭiyya den Söhnen Witizas eine solch entscheidende Sonderrolle einräumt, zumal auch im so genannten „Pakt des Tudmir“ durch den frühen Gouverneur ʿAbd al-ʿAzīz b. Mūsā (regn. 95-97/714-16) vergleichbare Besitzbestätigungen gegeben wurden.<ref name="ftn10">Chalmeta, ''Invasión'', S. 140-142. Vgl. [[713: Der Vertrag von Tudmīr als Zeugnis der muslimischen Unterwerfung der Iberischen Halbinsel]].</ref> Auffällig ist auch, dass die bei Ibn al-Qūṭiyya verzeichneten Namen der Witiza-Söhne nicht mit denjenigen in anderen Quellen übereinstimmen. Die der Invasionsperiode zeitgenössische ''Chronik von 754'' kennt keinerlei Witiza-Söhne, sondern erwähnt nur einen Kollaborateur namens Oppa, der als Sohn des Westgotenkönigs Egica und damit als Bruder Witizas identifiziert wird und mit Mūsā b. Nuṣayr gegen einige ''seniores nobiles uiros'' des Westgotenreiches vorgegangen sein soll.<ref name="ftn11">''Continuatio hispana'', ed. Theodor Mommsen (MGH Auct. Ant., 11), Berlin: Weidmann, 1894, § 70, S. 353; bzw. ''Chronica muzarabica'', ed. Juan Gil (Corpus Scriptorum Muzarabicorum 1), Madrid: CSIC, 1973, § 45, S. 32: "per Oppam filium Egiche regis".</ref> Andere arabisch-islamische Quellen dagegen erwähnen zwar Söhne Witizas, nennen sie aber entweder Oppa (''Ubbah'') und Sisbert (''Šišbart'') oder Oppa (''Wabba''), Arṭabāš und Sīda.<ref name="ftn12">Vgl. König, Rückbindung, S. 130, mit Quellenangaben.</ref> Schließlich verwundert es, dass Ibn al-Qūṭiyya – anders als zahlreiche arabisch-islamische Geschichtswerke des 11. Jahrhunderts – nicht mehr über westgotische Geschichte weiß und sich sogar im Zusammenhang mit seiner Genealogie auf arabisch-islamische Autoritäten anstatt auf eine eigenständige Familientradition beruft.<ref name="ftn13">Vgl. Fierro, Obra historica, S. 501; König, Rückbindung, S. 130-131; König, ''Arabic-Islamic Views'', S. 160-169.</ref></div>


Für die Authentizität der Genealogie gibt es allerdings auch einige Argumente: Der die genealogische Anbindung an die Westgoten implizierende Name "Sohn der Gotin" (''Ibn al-Qūṭiyya'') wird von allen späteren arabisch-islamischen Gelehrten akzeptiert, die königliche Genealogie des Autors teilweise auch reproduziert.<ref name="ftn14">Manzano Moreno, ''Conquistadores'', S. 46; Ibn al-Qūṭīya, ''History'', übers. James, S. 38; König, Rückbindung, S. 131.</ref> Die Genealogie ist durchaus originell, verweist dabei aber auf plausible Integrationsmechanismen in die neue Herrschaftselite. Ibn al-Qūṭiyyas mangelndes Wissen über die vorislamische Geschichte von al-Andalus wiederum könnte mit einem, in der sechsten Generation geschwundenen Familiengedächtnis, seine Zitierung arabisch-islamischer Gelehrten mit der Erwartungshaltung der von ihm vertretenen Gelehrtenkultur erklärt werden.<ref name="ftn15">König, Rückbindung, S. 132.</ref>
Für die Authentizität der Genealogie gibt es allerdings auch einige Argumente: Der die genealogische Anbindung an die Westgoten implizierende Name "Sohn der Gotin" (''Ibn al-Qūṭiyya'') wird von allen späteren arabisch-islamischen Gelehrten akzeptiert, die königliche Genealogie des Autors teilweise auch reproduziert.<ref name="ftn14">Manzano Moreno, ''Conquistadores'', S. 46; Ibn al-Qūṭīya, ''History'', übers. James, S. 38; König, Rückbindung, S. 131.</ref> Die Genealogie ist durchaus originell, verweist dabei aber auf plausible Integrationsmechanismen in die neue Herrschaftselite. Ibn al-Qūṭiyyas mangelndes Wissen über die vorislamische Geschichte von al-Andalus wiederum könnte mit einem, in der sechsten Generation geschwundenen Familiengedächtnis, seine Zitierung arabisch-islamischer Gelehrten mit der Erwartungshaltung der von ihm vertretenen Gelehrtenkultur erklärt werden.<ref name="ftn15">König, Rückbindung, S. 132.</ref>
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