827: Das Chronicon Salernitanum über die Eroberung Siziliens durch die Muslime: Unterschied zwischen den Versionen

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{{Kapitel_LAT-DE_TAB-4|Theresa Jäckh|''Chronicon Salernitanum. A Critical Edition with Studies on Literary and Historical Sources and on Language'', ed. Ulla Westerbergh (Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia latina Stockholmiensia 3), Stockholm: Almqvist & Wiksell International, 1956, cap. 60, S. 59, übers. Theresa Jäckh.|5=== Autor/in & Werk  ==
{{Kapitel_LAT-DE_TAB-4|Theresa Jäckh|''Chronicon Salernitanum. A Critical Edition with Studies on Literary and Historical Sources and on Language'', ed. Ulla Westerbergh (Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia latina Stockholmiensia 3), Stockholm: Almqvist & Wiksell International, 1956, cap. 60, S. 59, übers. Theresa Jäckh.|5=== Autor/in & Werk  ==
Das ''Chronicon Salernitanum'' behandelt die Geschichte der Langobarden vom späteren 6. bis ins spätere 10. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Dukats von Benevent und des Fürstentums von Salerno. Der anonyme Verfasser stellt seinem Werk drei Herrscherlisten voraus, die es politisch und chronologisch einordnen: Erstens werden die langobardischen Könige von Albuin (regn. 560/568-572/573) bis Desiderius (regn. 757-774) genannt; zweitens die fränkischen Könige, beginnend mit entweder Pippin dem Älteren oder Mittleren (regn. 615/625-640 bzw. 697-715) über Karl den Großen (regn. 768-814) und, ihm folgend, die sächsischen Herrscher bis zu Otto III. (regn. 983-1002); sowie drittens die langobardischen Herrscher Benevents von Zotto (regn. 571-591) bis zu Radelchis II. (regn. 881-900). Die eigentliche Erzählung setzt mit dem Pontifikat Papst Zaccharias’ (sed. 741-752) ein. Für die frühe Berichterstattung zur fränkisch-karolingischen Politik stützt sich der Autor stark auf den ''Liber Pontificalis''. Sein vorwiegendes Interesse gilt aber bald den internen Konflikten der Langobarden und der Abspaltung der Fürstentümer, zumal Salernos (851), und deren weiteren Entwicklungen im Mächtegeflecht der süditalienischen Halbinsel. Für mehrere Teile verwendet der Verfasser ausgiebig Passagen aus der ''Origo Gentis Langobardorum'', der ''Historia Langobardorum'' und der ''Chronica Sancti Benedicti Casinensis''. Der Quellenwert des ''Chronicon Salernitanum'' wurde nach seiner Erstedition daher zunächst geringgeschätzt. Mittlerweile herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass die – wenn auch in Teilen kompilative – Chronik von größter Bedeutung für die Geschichtsforschung zu Süditalien ist.<ref name="ftn1">Delogu, ''Mito'', S. 237-277. Pohl, ''Werkstätte'', S. 55-67, weist zurecht darauf hin, dass das ''Chronicon Salernitanum'' „mehr Aufmerksamkeit“ verdienen würde.</ref> Gerade für die Zeit ab etwa der Mitte des 9. Jahrhunderts erhält die Komposition des Anonymus selbstständigeren Charakter, und er berichtet in eigentümlicher Breite und Anschaulichkeit. Wurde dieser Stil bisweilen in den Bereich der „Volksmärchen“<ref name="ftn2">Manitius, ''Geschichte'', S. 199.</ref> verwiesen, zeigt die genaue Analyse aber eine argumentative Logik der Erzählweise. Die Quelle ist vor allem deswegen wertvoll, weil sie eine lateinische Perspektive auf die Aktivitäten der Muslime in Süditalien und deren kurzzeitige Herrschaftsetablierung in den Emiraten von Bari und Tarent bietet. Weiterhin gewährt das ''Chronicon Salernitanum'' besondere Einblicke in die Beziehungen der konkurrierenden Städte Salerno, Neapel und Amalfi. In diesem Kontext schließlich bricht die Chronik unvermittelt in derjenigen Phase ab, in der die Salernitaner Prinzenbrüder Gisulf I. (regn. 978-981) und Pandulf (regn. 981) mit den Amalfitanern ringen, die sich schließlich unter Manso (regn. 966-1004 als Herzog von Amalfi, regn. 966-983 als Prinz von Salerno) für einige Zeit Salernos bemächtigen sollten.  
[§1] Das ''Chronicon Salernitanum'' behandelt die Geschichte der Langobarden vom späteren 6. bis ins spätere 10. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Dukats von Benevent und des Fürstentums von Salerno. Der anonyme Verfasser stellt seinem Werk drei Herrscherlisten voraus, die es politisch und chronologisch einordnen: Erstens werden die langobardischen Könige von Albuin (regn. 560/568-572/573) bis Desiderius (regn. 757-774) genannt; zweitens die fränkischen Könige, beginnend mit entweder Pippin dem Älteren oder Mittleren (regn. 615/625-640 bzw. 697-715) über Karl den Großen (regn. 768-814) und, ihm folgend, die sächsischen Herrscher bis zu Otto III. (regn. 983-1002); sowie drittens die langobardischen Herrscher Benevents von Zotto (regn. 571-591) bis zu Radelchis II. (regn. 881-900). Die eigentliche Erzählung setzt mit dem Pontifikat Papst Zaccharias’ (sed. 741-752) ein. Für die frühe Berichterstattung zur fränkisch-karolingischen Politik stützt sich der Autor stark auf den ''Liber Pontificalis''. Sein vorwiegendes Interesse gilt aber bald den internen Konflikten der Langobarden und der Abspaltung der Fürstentümer, zumal Salernos (851), und deren weiteren Entwicklungen im Mächtegeflecht der süditalienischen Halbinsel. Für mehrere Teile verwendet der Verfasser ausgiebig Passagen aus der ''Origo Gentis Langobardorum'', der ''Historia Langobardorum'' und der ''Chronica Sancti Benedicti Casinensis''. Der Quellenwert des ''Chronicon Salernitanum'' wurde nach seiner Erstedition daher zunächst geringgeschätzt. Mittlerweile herrscht jedoch Einigkeit darüber, dass die – wenn auch in Teilen kompilative – Chronik von größter Bedeutung für die Geschichtsforschung zu Süditalien ist.<ref name="ftn1">Delogu, ''Mito'', S. 237-277. Pohl, ''Werkstätte'', S. 55-67, weist zurecht darauf hin, dass das ''Chronicon Salernitanum'' „mehr Aufmerksamkeit“ verdienen würde.</ref> Gerade für die Zeit ab etwa der Mitte des 9. Jahrhunderts erhält die Komposition des Anonymus selbstständigeren Charakter, und er berichtet in eigentümlicher Breite und Anschaulichkeit. Wurde dieser Stil bisweilen in den Bereich der „Volksmärchen“<ref name="ftn2">Manitius, ''Geschichte'', S. 199.</ref> verwiesen, zeigt die genaue Analyse aber eine argumentative Logik der Erzählweise. Die Quelle ist vor allem deswegen wertvoll, weil sie eine lateinische Perspektive auf die Aktivitäten der Muslime in Süditalien und deren kurzzeitige Herrschaftsetablierung in den Emiraten von Bari und Tarent bietet. Weiterhin gewährt das ''Chronicon Salernitanum'' besondere Einblicke in die Beziehungen der konkurrierenden Städte Salerno, Neapel und Amalfi. In diesem Kontext schließlich bricht die Chronik unvermittelt in derjenigen Phase ab, in der die Salernitaner Prinzenbrüder Gisulf I. (regn. 978-981) und Pandulf (regn. 981) mit den Amalfitanern ringen, die sich schließlich unter Manso (regn. 966-1004 als Herzog von Amalfi, regn. 966-983 als Prinz von Salerno) für einige Zeit Salernos bemächtigen sollten.  


Über den Autor selbst erfahren wir wenig. Als Ort seines Schreibens kann auf Grund mehrerer Indizien die Stadt Salerno ausgemacht werden, deren Archive er für sein Werk nutzte und deren Inschriften er kannte.<ref name="ftn3">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, S. 202-203 und S. 219-220.</ref> Er war offenbar Geistlicher und, da er mehrfach die Abtei von Montecassino lobend erwähnt, folgerte man, dass er selbst Benediktiner war. Die Abtei San Benedetto in Salerno wurde folglich als Lebensmittelpunkt des Verfassers plausibel gemacht.<ref name="ftn4">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, S. XIII.</ref> Spekuliert wurde weiter, ob und welche Beziehungen er zum langobardischen Hof von Salerno gehabt haben könnte.<ref name="ftn5">Kreutz, ''Normans'', S. 95.</ref> In diesem Kontext erwähnenswert ist, dass die einzige autobiographische Notiz in der Chronik daran erinnert, dass der Vorfahr des Verfassers, ein gewisser Radoald, wegen Spannungen mit Rofried, einem Getreuen des Herzogs Sicard von Benevent (regn. 832-839), von Benevent nach Neapel fliehen musste.<ref name="ftn6">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, cap. 68, S. 65-66.</ref> Während daraus geschlossen wurde, dass der Autor adliger Abstammung war,<ref name="ftn7">Manitius, ''Geschichte'', S. 198; ''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, S. XIII. </ref> ließe sich weiter vermuten, dass daraus auch eine gewisse Distanz gegenüber der beneventanischen Linie langobardischer Herrscher resultieren könnte. Taviani-Carozzi argumentierte für die Identifikation des unbekannten Autors mit dem Abt von San Benedetto in Salerno, der zwischen 986 und 990 nachweisbar ist und den gleichen Namen wie der genannte Vorfahr Radoald trug. Obwohl diese Deutung auch mit dem Verfassungszeitraum des ''Chronicon'' zwischen 973 (letztes erwähntes Ereignis) und 996 (Otto III. wird bereits als Kaiser bezeichnet) korrelieren würde, ist dieser Vorschlag in der italienischen (Lokal-)Forschung heftig zurückgewiesen worden.<ref name="ftn8">Taviani-Carozzi, ''Principauté'', S. 85-91; dagegen: Palmieri, Identità, S. 225, S. 232; Delogu, Conquista, S. 213f.</ref>  
[§2] Über den Autor selbst erfahren wir wenig. Als Ort seines Schreibens kann auf Grund mehrerer Indizien die Stadt Salerno ausgemacht werden, deren Archive er für sein Werk nutzte und deren Inschriften er kannte.<ref name="ftn3">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, S. 202-203 und S. 219-220.</ref> Er war offenbar Geistlicher und, da er mehrfach die Abtei von Montecassino lobend erwähnt, folgerte man, dass er selbst Benediktiner war. Die Abtei San Benedetto in Salerno wurde folglich als Lebensmittelpunkt des Verfassers plausibel gemacht.<ref name="ftn4">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, S. XIII.</ref> Spekuliert wurde weiter, ob und welche Beziehungen er zum langobardischen Hof von Salerno gehabt haben könnte.<ref name="ftn5">Kreutz, ''Normans'', S. 95.</ref> In diesem Kontext erwähnenswert ist, dass die einzige autobiographische Notiz in der Chronik daran erinnert, dass der Vorfahr des Verfassers, ein gewisser Radoald, wegen Spannungen mit Rofried, einem Getreuen des Herzogs Sicard von Benevent (regn. 832-839), von Benevent nach Neapel fliehen musste.<ref name="ftn6">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, cap. 68, S. 65-66.</ref> Während daraus geschlossen wurde, dass der Autor adliger Abstammung war,<ref name="ftn7">Manitius, ''Geschichte'', S. 198; ''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, S. XIII. </ref> ließe sich weiter vermuten, dass daraus auch eine gewisse Distanz gegenüber der beneventanischen Linie langobardischer Herrscher resultieren könnte. Taviani-Carozzi argumentierte für die Identifikation des unbekannten Autors mit dem Abt von San Benedetto in Salerno, der zwischen 986 und 990 nachweisbar ist und den gleichen Namen wie der genannte Vorfahr Radoald trug. Obwohl diese Deutung auch mit dem Verfassungszeitraum des ''Chronicon'' zwischen 973 (letztes erwähntes Ereignis) und 996 (Otto III. wird bereits als Kaiser bezeichnet) korrelieren würde, ist dieser Vorschlag in der italienischen (Lokal-)Forschung heftig zurückgewiesen worden.<ref name="ftn8">Taviani-Carozzi, ''Principauté'', S. 85-91; dagegen: Palmieri, Identità, S. 225, S. 232; Delogu, Conquista, S. 213f.</ref>  


== Inhalt & Quellenkontext  ==
== Inhalt & Quellenkontext  ==
In Kapitel 60 berichtet das ''Chronicon Salernitanum'' von der Eroberung Siziliens durch die Muslime. Der Autor erwähnt hier erstmals die zentrale Mittelmeerinsel ebenso wie die Griechen (d.h. die Byzantiner) und Muslime, die für die späteren Schilderungen der politischen Entwicklungen in Süditalien noch von großer Bedeutung werden. An dieser Stelle aber werden diese Gruppierungen und die politischen Entitäten, denen sie zugehören, nicht näher charakterisiert. Auch ihre bevorstehende Rolle innerhalb des Werkes bzw. der Geschichte wird nicht vorausgedeutet, sodass das Kapitel zunächst etwas isoliert wirken mag. Die gesamte Eroberung Siziliens durch die Muslime (827-902) und deren Herrschaftsetablierung wird innerhalb eines Abschnittes abgehandelt, sodass der Autor in wenigen Zeilen den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten abdeckt. Sein Hauptaugenmerk richtet er dabei nicht auf die militärischen Erfolge dieser politischen und religiösen Expansion, sondern auf einen Vorfall, welcher der Eroberung vorausging und das Geschehen somit erklären soll. Die zentrale Rolle bei diesen Ereignissen nimmt ein gewisser Euphemios ein, dessen Verlobte Homoniza von einem sogenannten „Griechlein“ gegen Geld für einen anderen Mann geraubt worden sein soll. Mit dem „Griechlein“, das als Vorsteher von Sizilien bezeichnet wird, scheint der Stratege (στρατηγός) der byzantinischen Verwaltungseinheit Sizilien gemeint zu sein. Euphemios habe folgend Rache geschworen, den „Barbarenkönig“ (''rex barbarus'') in Afrika um militärische Unterstützung gebeten und ihm im Gegenzug die Herrschaft über große Ländereien versprochen. Sie gingen folgend ein Bündnis ein, zogen gemeinsam gegen Sizilien und unterwarfen die Insel.
[§3] In Kapitel 60 berichtet das ''Chronicon Salernitanum'' von der Eroberung Siziliens durch die Muslime. Der Autor erwähnt hier erstmals die zentrale Mittelmeerinsel ebenso wie die Griechen (d.h. die Byzantiner) und Muslime, die für die späteren Schilderungen der politischen Entwicklungen in Süditalien noch von großer Bedeutung werden. An dieser Stelle aber werden diese Gruppierungen und die politischen Entitäten, denen sie zugehören, nicht näher charakterisiert. Auch ihre bevorstehende Rolle innerhalb des Werkes bzw. der Geschichte wird nicht vorausgedeutet, sodass das Kapitel zunächst etwas isoliert wirken mag. Die gesamte Eroberung Siziliens durch die Muslime (827-902) und deren Herrschaftsetablierung wird innerhalb eines Abschnittes abgehandelt, sodass der Autor in wenigen Zeilen den Zeitraum von mehreren Jahrzehnten abdeckt. Sein Hauptaugenmerk richtet er dabei nicht auf die militärischen Erfolge dieser politischen und religiösen Expansion, sondern auf einen Vorfall, welcher der Eroberung vorausging und das Geschehen somit erklären soll. Die zentrale Rolle bei diesen Ereignissen nimmt ein gewisser Euphemios ein, dessen Verlobte Homoniza von einem sogenannten „Griechlein“ gegen Geld für einen anderen Mann geraubt worden sein soll. Mit dem „Griechlein“, das als Vorsteher von Sizilien bezeichnet wird, scheint der Stratege (στρατηγός) der byzantinischen Verwaltungseinheit Sizilien gemeint zu sein. Euphemios habe folgend Rache geschworen, den „Barbarenkönig“ (''rex barbarus'') in Afrika um militärische Unterstützung gebeten und ihm im Gegenzug die Herrschaft über große Ländereien versprochen. Sie gingen folgend ein Bündnis ein, zogen gemeinsam gegen Sizilien und unterwarfen die Insel.


Über Euphemios berichten neben dem ''Chronicon Salernitanum'' auch die byzantinischen Geschichtswerke. Diesen zufolge fungierte Euphemios als Verwalter (''τουρμάρχος)'' des westlichen Sizilien und als Kommandeur der sizilisch-byzantinischen Flotte. Erstmals fassbar wird er auf einem Feldzug gegen Nordafrika im Jahr 826.<ref name="ftn9">Theophanes Continuatus, ''Chronographia libri I-IV'', ed. Michael Featherstone, Juan Signes Condoñer (Corpus fontium historiae Byzantinae 53), Berlin: De Gruyter, 2015, lib. 2, cap. 27, S. 121-122; Ioannis Scylitzes, ''Synopsis istoriarum'', ed. Johannes Thurn (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, ser. Berolinensis 5), Berlin: De Gruyter, 1973, cap. 46, §35-47, S. 68.</ref> Gegen die byzantinische Obrigkeit soll Euphemios aufbegehrt, den Strategen Siziliens namens Konstantinos getötet und sich selbst zum Herrscher in Syrakus ausgerufen haben – ein Siegel, das ihn als „König der Römer“ bezeichnet, liefert dabei eine Bestätigung für das Narrativ der byzantinischen Chroniken.<ref name="ftn10">Prigent, Pour en finir.</ref> Als Grund für die Rebellion des Euphemios führen der so genannte Theophanes Continuatus, Ioannes Skylitzes wie auch das ''Chronicon Salernitanum'' eine Frau an: In den griechischen Texten bleibt sie namenlos und wird als gottergebene Nonne beschrieben, die Euphemios gegen ihren Willen geraubt und geehelicht haben soll. Als Euphemios für dieses Vergehen bestraft werden sollte, habe er den Aufstand begonnen.<ref name="ftn11">Theophanus continuatus, ''Chronographia'', Bd. 2, cap. 27, §16-20, S. 81; Skylitzes, ''Synopsis'', cap. 20, S. 46f.</ref> Da an anderer Stelle bei Theophanes Continuatus die Rede davon ist, dass zusammen mit Euphemios auch andere Männer agierten, lässt sich vermuten, dass es im byzantinischen Sizilien zu einer umfassenderen Sezessionsbewegung gekommen war, als es die Fokussierung auf Euphemios und seine individuellen Handlungen in der hofnahen byzantinischen Geschichtsschreibung zunächst suggerieren mag.<ref name="ftn12">Prigent, Carrière.</ref>
[§4] Über Euphemios berichten neben dem ''Chronicon Salernitanum'' auch die byzantinischen Geschichtswerke. Diesen zufolge fungierte Euphemios als Verwalter (''τουρμάρχος)'' des westlichen Sizilien und als Kommandeur der sizilisch-byzantinischen Flotte. Erstmals fassbar wird er auf einem Feldzug gegen Nordafrika im Jahr 826.<ref name="ftn9">Theophanes Continuatus, ''Chronographia libri I-IV'', ed. Michael Featherstone, Juan Signes Condoñer (Corpus fontium historiae Byzantinae 53), Berlin: De Gruyter, 2015, lib. 2, cap. 27, S. 121-122; Ioannis Scylitzes, ''Synopsis istoriarum'', ed. Johannes Thurn (Corpus Fontium Historiae Byzantinae, ser. Berolinensis 5), Berlin: De Gruyter, 1973, cap. 46, §35-47, S. 68.</ref> Gegen die byzantinische Obrigkeit soll Euphemios aufbegehrt, den Strategen Siziliens namens Konstantinos getötet und sich selbst zum Herrscher in Syrakus ausgerufen haben – ein Siegel, das ihn als „König der Römer“ bezeichnet, liefert dabei eine Bestätigung für das Narrativ der byzantinischen Chroniken.<ref name="ftn10">Prigent, Pour en finir.</ref> Als Grund für die Rebellion des Euphemios führen der so genannte Theophanes Continuatus, Ioannes Skylitzes wie auch das ''Chronicon Salernitanum'' eine Frau an: In den griechischen Texten bleibt sie namenlos und wird als gottergebene Nonne beschrieben, die Euphemios gegen ihren Willen geraubt und geehelicht haben soll. Als Euphemios für dieses Vergehen bestraft werden sollte, habe er den Aufstand begonnen.<ref name="ftn11">Theophanus continuatus, ''Chronographia'', Bd. 2, cap. 27, §16-20, S. 81; Skylitzes, ''Synopsis'', cap. 20, S. 46f.</ref> Da an anderer Stelle bei Theophanes Continuatus die Rede davon ist, dass zusammen mit Euphemios auch andere Männer agierten, lässt sich vermuten, dass es im byzantinischen Sizilien zu einer umfassenderen Sezessionsbewegung gekommen war, als es die Fokussierung auf Euphemios und seine individuellen Handlungen in der hofnahen byzantinischen Geschichtsschreibung zunächst suggerieren mag.<ref name="ftn12">Prigent, Carrière.</ref>


Zur Unterstützung seines Vorhabens und auf Grund der Tatsache, dass Konstantinopel offenbar gegen ihn vorzugehen begann, scheint Euphemios dann die Hilfe des aġlabidischen Emirs Ziyādat Allāh (regn. 201-223/817-838) in Ifrīqiya gesucht zu haben. In diesem Kontext wird Euphemios unter dem Namen „Fīmī“ auch in arabisch-islamischen Narrativen fassbar.<ref name="ftn13">Nef, Reinterpreting; siehe außerdem 827: Al-Nuwayrī (gest. 733/1333) über den Beginn der muslimischen Eroberung Siziliens.</ref> Ein gemeinsamer Angriff wurde vereinbart, und 827 landete unter der Führung des Asad b. al-Furāt (gest. 213/828) die aġlabidische Flotte gemeinsam mit Euphemios in Mazara. Dieser Zeitpunkt gilt als Beginn der islamischen Eroberung Siziliens, die sich bis ins frühe 10. Jahrhundert hinzog.<ref name="ftn14">Metcalfe, ''Muslims'', S. 4-43.</ref>
[§5] Zur Unterstützung seines Vorhabens und auf Grund der Tatsache, dass Konstantinopel offenbar gegen ihn vorzugehen begann, scheint Euphemios dann die Hilfe des aġlabidischen Emirs Ziyādat Allāh (regn. 201-223/817-838) in Ifrīqiya gesucht zu haben. In diesem Kontext wird Euphemios unter dem Namen „Fīmī“ auch in arabisch-islamischen Narrativen fassbar.<ref name="ftn13">Nef, Reinterpreting; siehe außerdem 827: Al-Nuwayrī (gest. 733/1333) über den Beginn der muslimischen Eroberung Siziliens.</ref> Ein gemeinsamer Angriff wurde vereinbart, und 827 landete unter der Führung des Asad b. al-Furāt (gest. 213/828) die aġlabidische Flotte gemeinsam mit Euphemios in Mazara. Dieser Zeitpunkt gilt als Beginn der islamischen Eroberung Siziliens, die sich bis ins frühe 10. Jahrhundert hinzog.<ref name="ftn14">Metcalfe, ''Muslims'', S. 4-43.</ref>


== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation  ==
== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation  ==
Die Darstellung der Eroberung Siziliens durch die Muslime im ''Chronicon Salernitanum'' scheint zunächst unverbunden mit den vorigen und nachfolgenden Schilderungen des Salernitaner Anonymus. Die Erzählung von Sizilien folgt dem Bericht, wie Herzog Sico von Benevent (regn. 817-832) die Stadt Neapel belagert, die Reliquien des Heiligen Januarius nach Benevent überführt und außerdem eine Dynastie von Gastalden in Capua etabliert hat.<ref name="ftn15">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, cap. 57-58, S. 57-58.</ref> Auch die auf Kapitel 60 folgenden Abschnitte beschäftigen sich wieder ganz mit Entwicklungen innerhalb der langobardischen Eliten. Die Konsequenzen und der weitere Verlauf der islamischen Herrschaftsetablierung in Sizilien werden nicht reflektiert: Erst zwölf Kapitel später wird wieder von den Eroberern Siziliens berichtet, nämlich als sich diese auf das Festland ausbreiteten.<ref name="ftn16">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, cap. 72, S. 70-71.</ref> Erwähnenswert ist nun, dass die neutral und ohne Wertung beschriebenen Muslime (''gens Agarenorum''), die in Kapitel 60 Sizilien erobern, im Augenblick, da sie zur unmittelbaren Bedrohung auf dem süditalienischen Festland werden, bisweilen als schändlich (''astutissima Agarenorum gens'') bezeichnet werden. Doch ist der Autor auch in dieser Zuschreibung keineswegs festgefahren. Dies zeigt sich wieder, wenn er die Muslime, mit denen Salerno in vielseitigem Austausch stand und Handelsbeziehungen unterhielt, in anderen Zusammenhängen beschreibt.<ref name="ftn17">Kreutz, ''Normans'', S. 18-101; Cicco, Langobardi, S. 78-84. </ref> Wahrnehmungen und Beschreibungen des religiösen Anderen sind im ''Chronicon Salernitanum'' damit prinzipiell kontextabhängig und in ihren Wertungen flexibel.<ref name="ftn18">Kreutz, ''Normans'', S. 49-54.</ref>  
[§6] Die Darstellung der Eroberung Siziliens durch die Muslime im ''Chronicon Salernitanum'' scheint zunächst unverbunden mit den vorigen und nachfolgenden Schilderungen des Salernitaner Anonymus. Die Erzählung von Sizilien folgt dem Bericht, wie Herzog Sico von Benevent (regn. 817-832) die Stadt Neapel belagert, die Reliquien des Heiligen Januarius nach Benevent überführt und außerdem eine Dynastie von Gastalden in Capua etabliert hat.<ref name="ftn15">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, cap. 57-58, S. 57-58.</ref> Auch die auf Kapitel 60 folgenden Abschnitte beschäftigen sich wieder ganz mit Entwicklungen innerhalb der langobardischen Eliten. Die Konsequenzen und der weitere Verlauf der islamischen Herrschaftsetablierung in Sizilien werden nicht reflektiert: Erst zwölf Kapitel später wird wieder von den Eroberern Siziliens berichtet, nämlich als sich diese auf das Festland ausbreiteten.<ref name="ftn16">''Chronicon Salernitanum'', ed. Westerbergh, cap. 72, S. 70-71.</ref> Erwähnenswert ist nun, dass die neutral und ohne Wertung beschriebenen Muslime (''gens Agarenorum''), die in Kapitel 60 Sizilien erobern, im Augenblick, da sie zur unmittelbaren Bedrohung auf dem süditalienischen Festland werden, bisweilen als schändlich (''astutissima Agarenorum gens'') bezeichnet werden. Doch ist der Autor auch in dieser Zuschreibung keineswegs festgefahren. Dies zeigt sich wieder, wenn er die Muslime, mit denen Salerno in vielseitigem Austausch stand und Handelsbeziehungen unterhielt, in anderen Zusammenhängen beschreibt.<ref name="ftn17">Kreutz, ''Normans'', S. 18-101; Cicco, Langobardi, S. 78-84. </ref> Wahrnehmungen und Beschreibungen des religiösen Anderen sind im ''Chronicon Salernitanum'' damit prinzipiell kontextabhängig und in ihren Wertungen flexibel.<ref name="ftn18">Kreutz, ''Normans'', S. 49-54.</ref>  


Dass Euphemios bei dem anonymen Autor zunächst als Beschädigter erscheint, der erst nach erfahrenem Unrecht auf Rache sinnt und daher mit dem König in ''Africa'' paktiert, unterscheidet sich von den byzantinischen und arabisch-islamischen Darstellungen, in denen er als Krimineller und Verräter bzw. als Überläufer charakterisiert wird. Im ''Chronicon Salernitanum'' werden „der andere Mann“ und zumal das „Griechlein“ als Übeltäter bewertet, die mit ihrer Gier – nach einer Frau einerseits und nach Geld andererseits – Krieg ausgelöst und so der Bevölkerung Leid zugefügt haben. Die abfällige Verwendung des Diminutivs ''Greculus'' für den Repräsentanten der Byzantiner unterstreicht die negative Wahrnehmung, ja Verachtung ihrer politischen Führung seitens des Salernitaner Autors. Der „Barbarenkönig“ erscheint als außenstehende dritte Partei, die von den inner-sizilischen Konflikten profitierte und das Bündnis mit Euphemios als willkommene Möglichkeit ansah, sein Territorium zu vergrößern. Dabei betont der Anonymus, die Bevölkerung Siziliens habe mit Widerstand auf die Eroberer reagiert. Der Hinweis darauf, sie hätten sich überdies neuerdings in Burgen und Festungen zurückgezogen, kann archäologisch nachgewiesen werden und wird in der Sizilienforschung unter dem Begriff des ''incastellamento'' gefasst.<ref name="ftn19">Maurici, ''Castelli''.</ref> Vor allem im Osten der Insel blieb das griechische Christentum in diesen Befestigungen bis über die islamische Herrschaft hinweg bestehen.
[§7] Dass Euphemios bei dem anonymen Autor zunächst als Beschädigter erscheint, der erst nach erfahrenem Unrecht auf Rache sinnt und daher mit dem König in ''Africa'' paktiert, unterscheidet sich von den byzantinischen und arabisch-islamischen Darstellungen, in denen er als Krimineller und Verräter bzw. als Überläufer charakterisiert wird. Im ''Chronicon Salernitanum'' werden „der andere Mann“ und zumal das „Griechlein“ als Übeltäter bewertet, die mit ihrer Gier – nach einer Frau einerseits und nach Geld andererseits – Krieg ausgelöst und so der Bevölkerung Leid zugefügt haben. Die abfällige Verwendung des Diminutivs ''Greculus'' für den Repräsentanten der Byzantiner unterstreicht die negative Wahrnehmung, ja Verachtung ihrer politischen Führung seitens des Salernitaner Autors. Der „Barbarenkönig“ erscheint als außenstehende dritte Partei, die von den inner-sizilischen Konflikten profitierte und das Bündnis mit Euphemios als willkommene Möglichkeit ansah, sein Territorium zu vergrößern. Dabei betont der Anonymus, die Bevölkerung Siziliens habe mit Widerstand auf die Eroberer reagiert. Der Hinweis darauf, sie hätten sich überdies neuerdings in Burgen und Festungen zurückgezogen, kann archäologisch nachgewiesen werden und wird in der Sizilienforschung unter dem Begriff des ''incastellamento'' gefasst.<ref name="ftn19">Maurici, ''Castelli''.</ref> Vor allem im Osten der Insel blieb das griechische Christentum in diesen Befestigungen bis über die islamische Herrschaft hinweg bestehen.


Die Eroberung Siziliens im ''Chronicon Salernitanum'' endet mit einer Schuldzuweisung: Ein einziger Bösewicht, das „Griechlein“, habe zahlreiche Tränen und eine Spaltung verursacht, wo vormalig Einheit geherrscht habe. Diese zusammenfassende Bewertung der Ereignisse legt der Verfasser dem Herzog Sico von Benevent (regn. 817-832) in den Mund, der unmittelbar daran anschließend vorausgesagt habe, dass bald auch die Langobarden durch das Schwert getrennt würden. Der Anonymus scheint mit dieser Vorausdeutung nicht etwa auf das Erstarken der Muslime und die daraus resultierenden militärischen Konfrontationen anzuspielen. Vielmehr verweist er auf die bevorstehenden Revolten unter Sicos Sohn Siculf, die in den folgenden Kapiteln ausführlich geschildert werden und in der Abspaltung des Fürstentums Salerno mündeten. So leitet der Autor aus der islamischen Eroberung Siziliens eine moralische Lehre ab und projiziert diese auf die politischen Entwicklungen seiner Heimat. Dass zu Beginn der Geschichte der Kampf um eine Frau als Kriegsbegründung angeführt wird, ist dabei ein Motiv, dass sich auch in anderen Eroberungserzählungen finden lässt.<ref name="ftn20">[[711: Ibn ʿAbd al-Ḥakam zur Kollaboration Julians bei der muslimischen Invasion der Iberischen Halbinsel]].</ref>|6=''Chronicon Salernitanum. A Critical Edition with Studies on Literary and Historical Sources and on Language'', ed. Ulla Westerbergh (Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia latina Stockholmiensia 3), Stockholm: Almqvist & Wiksell International, 1956.
[§8] Die Eroberung Siziliens im ''Chronicon Salernitanum'' endet mit einer Schuldzuweisung: Ein einziger Bösewicht, das „Griechlein“, habe zahlreiche Tränen und eine Spaltung verursacht, wo vormalig Einheit geherrscht habe. Diese zusammenfassende Bewertung der Ereignisse legt der Verfasser dem Herzog Sico von Benevent (regn. 817-832) in den Mund, der unmittelbar daran anschließend vorausgesagt habe, dass bald auch die Langobarden durch das Schwert getrennt würden. Der Anonymus scheint mit dieser Vorausdeutung nicht etwa auf das Erstarken der Muslime und die daraus resultierenden militärischen Konfrontationen anzuspielen. Vielmehr verweist er auf die bevorstehenden Revolten unter Sicos Sohn Siculf, die in den folgenden Kapiteln ausführlich geschildert werden und in der Abspaltung des Fürstentums Salerno mündeten. So leitet der Autor aus der islamischen Eroberung Siziliens eine moralische Lehre ab und projiziert diese auf die politischen Entwicklungen seiner Heimat. Dass zu Beginn der Geschichte der Kampf um eine Frau als Kriegsbegründung angeführt wird, ist dabei ein Motiv, dass sich auch in anderen Eroberungserzählungen finden lässt.<ref name="ftn20">[[711: Ibn ʿAbd al-Ḥakam zur Kollaboration Julians bei der muslimischen Invasion der Iberischen Halbinsel]].</ref>|6=''Chronicon Salernitanum. A Critical Edition with Studies on Literary and Historical Sources and on Language'', ed. Ulla Westerbergh (Acta Universitatis Stockholmiensis. Studia latina Stockholmiensia 3), Stockholm: Almqvist & Wiksell International, 1956.


''Chronicon Salernitanum ''(sec. X), ed. Arturo Carucci, Salerno: Edizioni Salernum, 1988.
''Chronicon Salernitanum ''(sec. X), ed. Arturo Carucci, Salerno: Edizioni Salernum, 1988.
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