973: Ibn Ḥawqal über christlich-muslimische Ehen auf Sizilien: Unterschied zwischen den Versionen

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== Inhalt & Quellenkontext  ==
== Inhalt & Quellenkontext  ==
Ibn Ḥawqals ''Ṣūrat al-arḍ'' folgt im Aufbau nicht seinem Reiseitinerar, sondern ist nach geographischen Regionen und Provinzen angeordnet.<ref name="ftn2">Zur Italien- bzw. Sizilienberichterstattung Ibn Ḥawqal’s siehe König, ''Views'', S. 207 und Ducène, ''L’''Europe, S. 290 sowie S. 61-64, S. 79, S. 95-96, S. 150-151, S. 160-161.</ref> So findet sich der Abschnitt zu Sizilien nach der Beschreibung von al-Andalus (der ersten ausführlichen geographischen Darstellung der Iberischen Halbinsel unter islamischer Herrschaft) und geht dem Bericht über Ägypten voraus. Der eigentlichen geographischen Analyse der zentralen Mittelmeerinsel widmet der Autor nur einen kurzen Paragraphen, beschreibt dann aber relativ ausführlich die topographischen Begebenheiten der Hauptstadt Palermo, deren Mauern und Tore, Viertel und Märkte er benennt und verortet, wobei er besonderes detailliert über die Wasserversorgung der Stadt durch Flüsse, Quellen und Brunnen spricht. Der umfangreichere Teil seines Berichtes speist sich ganz aus den persönlichen Beobachtungen Ibn Ḥawqals hinsichtlich der Sizilianer und ihren spezifischen Charakteristika. Diese scheinen ihn so fasziniert zu haben, dass er nach eigener Aussage ein ganzes Buch über sie verfasst habe,<ref name="ftn3">Ibn Ḥawqal, ''Ṣūrat al-arḍ'', S. 129.</ref> das allerdings nicht erhalten ist. Immer wieder bemüht sich Ibn Ḥawqal, durch Anekdoten herauszustellen, wie dumm und unrein die Sizilianer seien, wie verdorben ihre Sitten, wie pervertiert ihre religiösen Praktiken. In diesen Zusammenhang ist auch die Darstellung und Verurteilung interreligiöser Eheschließungen der sizilischen Landbevölkerung einzuordnen. Muslime würden dort Christinnen heiraten, und aus der Verbindung gingen Christinnen einerseits und sogenannte ''al-mušaʿmiḏūn'' andererseits hervor. Die ''mušaʿmiḏūn'' scheinen Ibn Ḥawqal nicht als Muslime zu gelten, weil sie den religiösen Pflichten des Islam – genannt werden ''ṣalāt'' (Pflichtgebet), ''zakāt'' (Almosengabe), ''ḥağğ'' (Pilgerfahrt) – nicht zu Genüge nachkämen. So lebten sie in ritueller Unreinheit (''ğanāba''), von der sich nur einige durch Fasten im Ramaḍān reinigen würden (''ġusl al-ğanāba'').<ref name="ftn4">Juynboll, Art. Djanāba, S. 44-45.; Bousquet, Art. Ghusl, S. 1104.</ref>  
Ibn Ḥawqals ''Ṣūrat al-arḍ'' folgt im Aufbau nicht seinem Reiseitinerar, sondern ist nach geographischen Regionen und Provinzen angeordnet.<ref name="ftn2">Zur Italien- bzw. Sizilienberichterstattung Ibn Ḥawqal’s siehe König, ''Views'', S. 207 und Ducène, ''L’Europe'', S. 290 sowie S. 61-64, S. 79, S. 95-96, S. 150-151, S. 160-161.</ref> So findet sich der Abschnitt zu Sizilien nach der Beschreibung von al-Andalus (der ersten ausführlichen geographischen Darstellung der Iberischen Halbinsel unter islamischer Herrschaft) und geht dem Bericht über Ägypten voraus. Der eigentlichen geographischen Analyse der zentralen Mittelmeerinsel widmet der Autor nur einen kurzen Paragraphen, beschreibt dann aber relativ ausführlich die topographischen Begebenheiten der Hauptstadt Palermo, deren Mauern und Tore, Viertel und Märkte er benennt und verortet, wobei er besonderes detailliert über die Wasserversorgung der Stadt durch Flüsse, Quellen und Brunnen spricht. Der umfangreichere Teil seines Berichtes speist sich ganz aus den persönlichen Beobachtungen Ibn Ḥawqals hinsichtlich der Sizilianer und ihren spezifischen Charakteristika. Diese scheinen ihn so fasziniert zu haben, dass er nach eigener Aussage ein ganzes Buch über sie verfasst habe,<ref name="ftn3">Ibn Ḥawqal, ''Ṣūrat al-arḍ'', S. 129.</ref> das allerdings nicht erhalten ist. Immer wieder bemüht sich Ibn Ḥawqal, durch Anekdoten herauszustellen, wie dumm und unrein die Sizilianer seien, wie verdorben ihre Sitten, wie pervertiert ihre religiösen Praktiken. In diesen Zusammenhang ist auch die Darstellung und Verurteilung interreligiöser Eheschließungen der sizilischen Landbevölkerung einzuordnen. Muslime würden dort Christinnen heiraten, und aus der Verbindung gingen Christinnen einerseits und sogenannte ''al-mušaʿmiḏūn'' andererseits hervor. Die ''mušaʿmiḏūn'' scheinen Ibn Ḥawqal nicht als Muslime zu gelten, weil sie den religiösen Pflichten des Islam – genannt werden ''ṣalāt'' (Pflichtgebet), ''zakāt'' (Almosengabe), ''ḥağğ'' (Pilgerfahrt) – nicht zu Genüge nachkämen. So lebten sie in ritueller Unreinheit (''ğanāba''), von der sich nur einige durch Fasten im Ramaḍān reinigen würden (''ġusl al-ğanāba'').<ref name="ftn4">Juynboll, Art. Djanāba, S. 44-45; Bousquet, Art. Ghusl, S. 1104.</ref>  


== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation:  ==
== Kontextualisierung, Analyse & Interpretation:  ==
Aus Ibn Ḥawqals Beschreibung der Sizilianer lässt sich herauslesen, dass er die Bevölkerung in Palermitaner und Nicht-Palermitaner unterteilt und damit zwischen Stadt- und Landbewohnern unterscheidet. So handele es sich bei den ''mušaʿmiḏūn ''um die Bevölkerung in den abgelegenen Gebieten Siziliens, den Festungen und Dörfern. Palermo stellte Ibn Ḥawqal zufolge die einzige richtige Stadt Siziliens dar, deren städtisches Leben gewissermaßen eine kulturelle Leitfunktion übernahm. Zu erinnern ist in diesem Kontext, dass Palermo seit der Eroberung durch die Aġlabiden (215-216/831) innerhalb Siziliens den höchsten Grad an Islamisierung und auch an Arabisierung erfahren hatte. Das unwegsame sizilische Hinterland wurde hingegen nur langsam und mühsam unterworfen und blieb in weiten Teilen – zumal im Osten – tiefgreifend christlich bzw. griechisch-byzantinisch geprägt. Über die Palermitaner sagt Ibn Ḥawqal im Kontext seiner topographischen Beschreibung, dass viele von ihnen Händler seien, führt später aber aus, dass Palermo mit Moscheen und Schulen überfüllt gewesen sei, was er nicht etwa auf eine hohe Religiosität zurückführt, sondern darauf, dass die Palermitaner Muslime nicht einmal das Gebet gemeinsam mit ihren Brüdern verrichten und außerdem durch die Lehrtätigkeit an Schulen ihre Pflichten des ''ğihād'' sowie gewisse Steuerabgaben umgehen wollten.<ref name="ftn5">Ibn Ḥawqal, ''Ṣūrat al-arḍ'', S. 126-127.</ref> Zu kontextualisieren sind diese Aussagen vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen der Provinz Sizilien und dem fatimidischen Kernland von Ifrīqiya: Immer wieder kam es auf Sizilien zu blutigen Auflehnungen gegen die Statthalter der Fatimiden, sodass die Kalifen dauerhaft ein Kontingent von Kutāma-Garden – einer berberischen Militäreinheit, die sich durch besondere Treue ausgezeichnet hatte – in Palermo stationieren mussten. Die fatimidische Verwaltung zog sich dabei in die eigens gegründete Zwingburg von al-Ḫāliṣa am Stadtrand Palermos zurück.  
Aus Ibn Ḥawqals Beschreibung der Sizilianer lässt sich herauslesen, dass er die Bevölkerung in Palermitaner und Nicht-Palermitaner unterteilt und damit zwischen Stadt- und Landbewohnern unterscheidet. So handele es sich bei den ''mušaʿmiḏūn ''um die Bevölkerung in den abgelegenen Gebieten Siziliens, den Festungen und Dörfern. Palermo stellte Ibn Ḥawqal zufolge die einzige richtige Stadt Siziliens dar, deren städtisches Leben gewissermaßen eine kulturelle Leitfunktion übernahm. Zu erinnern ist in diesem Kontext, dass Palermo seit der Eroberung durch die Aġlabiden (215-216/831) innerhalb Siziliens den höchsten Grad an Islamisierung und auch an Arabisierung erfahren hatte. Das unwegsame sizilische Hinterland wurde hingegen nur langsam und mühsam unterworfen und blieb in weiten Teilen – zumal im Osten – tiefgreifend christlich bzw. griechisch-byzantinisch geprägt. Über die Palermitaner sagt Ibn Ḥawqal im Kontext seiner topographischen Beschreibung, dass viele von ihnen Händler seien, führt später aber aus, dass Palermo mit Moscheen und Schulen überfüllt gewesen sei, was er nicht etwa auf eine hohe Religiosität zurückführt, sondern darauf, dass die Palermitaner Muslime nicht einmal das Gebet gemeinsam mit ihren Brüdern verrichten und außerdem durch die Lehrtätigkeit an Schulen ihre Pflichten des ''ğihād'' sowie gewisse Steuerabgaben umgehen wollten.<ref name="ftn5">Ibn Ḥawqal, ''Ṣūrat al-arḍ'', S. 126-127.</ref> Zu kontextualisieren sind diese Aussagen vor dem Hintergrund der Konflikte zwischen der Provinz Sizilien und dem fatimidischen Kernland von Ifrīqiya: Immer wieder kam es auf Sizilien zu blutigen Auflehnungen gegen die Statthalter der Fatimiden, sodass die Kalifen dauerhaft ein Kontingent von Kutāma-Garden – einer berberischen Militäreinheit, die sich durch besondere Treue ausgezeichnet hatte – in Palermo stationieren mussten. Die fatimidische Verwaltung zog sich dabei in die eigens gegründete Zwingburg von al-Ḫāliṣa am Stadtrand Palermos zurück.  


Neben all der ideologischen Färbung und der daraus resultierenden Verzerrung der Darstellung ist es durchaus wahrscheinlich, dass es im islamischen Sizilien zu komplexen und zumal lokal differierenden Formen religiöser und sozialer Assimilation oder „Transkulturalität“ gekommen war, die nicht mit eindeutigen Kategorien zu erfassen sind<ref name="ftn6">Epstein, Hybridity.</ref> und von Ibn Ḥawqal im Kontext interreligiöser Eheschließung mit dem Begriff ''al-mušaʿmiḏūn'' beschrieben wurden. Dieser Begriff, der auf keine arabische Wurzel zurückzuführen ist und standardmäßig bisher als „Bastarde“ übersetzt wurde,<ref name="ftn7">Erstmals als „bastardi“ übersetzt von Gabrieli, Ibn Ḥawqal, S. 249; ähnlich die französische Übersetzung: Kramers / Wiet, ''Configuration'', S. 128 „bâtards“; Metcalfe, ''Arabic speakers'', S. 16 übersetzt „bastardised Muslim“ und fügt in der dazugehörigen Fußnote 51 aber hinzu, [t]he translation in English seems to lie somewhere between mongrels, half-castes, buffoons and imposters“; die Auffassung der Vortäuschung findet sich als „trickster“ auch bei Lewis, Ibn Hauqal, S. 99.</ref> bedarf einer ausführlicheren Kontextualisierung. Alex Metcalfe hat als erster darauf hingewiesen, dass sich ''al-mušaʿmiḏūn'' vom Hebräischen ''meshumadim'' ableitet; Giuseppe Mandalà referenzierte diese Aussage mit einigen Belegen und folgerte, dass der Terminus Apostaten bezeichnen würde.<ref name="ftn8">Metcalfe, Wandel, S. 72 und ders., Normans, S.108-109; Mandalà, Minoranze, S. 107-109.</ref> Aus der Perspektive des jüdischen Rechts ist die Sache jedoch etwas komplizierter:<ref name="ftn9">Vgl. die Forschungsdebatten bei Zeitlin, Mumar; Teppler, ''Birkat''; Langer, ''Cursing.''</ref> Die auf hebräischen und aramäischen Ursprung zurückzuführende Wurzel ''sh''-''m''-''d'' (verderben, zu Grunde gehen) taucht an mehreren Stellen im Tanach, der Hebräischen Bibel auf, wenn Yahweh Ungläubige oder Aufrührer mit Zerstörung bestraft (חשמיד/ ''hishmīd'', er hat zerstört).<ref name="ftn10">2 Kön 21, 9; Deut 2, 22; 1 Chron 5, 25; die Grundbedeutung der Wurzel heißt hingegen „verderben“.</ref> Im Babylonischen Talmud bezeichnet der Begriff ''meshumad'' (Pl. ''meshumadim'') Juden, die die religionsrechtlichen Grenzen – wissentlich, teilweise aus Zwang, bisweilen sogar freiwillig – überschreiten.<ref name="ftn11">Talmud Bavli Chullin 5a:10, 11, 13, 14; Chullin 5b:1; Avodah Zarah 26b:1-3, Horayot 2a:15; Horayot 11a:12.</ref> Die ''meshumadim'' sind talmudisch gesehen dabei aber keine Apostaten im Sinne einer ''apostasia a fide'' (Glaubensabfall), sondern in Teilen ihrer religiösen Praxis korrumpierte Juden, die noch als Teil der jüdischen Gemeinschaft anzusehen sind. Die der Wurzel innewohnende Bedeutung der Verdorbenheit oder Zerstörung bleibt dabei gewissermaßen als moralisches Urteil bestehen.  
Neben all der ideologischen Färbung und der daraus resultierenden Verzerrung der Darstellung ist es durchaus wahrscheinlich, dass es im islamischen Sizilien zu komplexen und zumal lokal differierenden Formen religiöser und sozialer Assimilation oder „Transkulturalität“ gekommen war, die nicht mit eindeutigen Kategorien zu erfassen sind<ref name="ftn6">Epstein, Hybridity.</ref> und von Ibn Ḥawqal im Kontext interreligiöser Eheschließung mit dem Begriff ''al-mušaʿmiḏūn'' beschrieben wurden. Dieser Begriff, der auf keine arabische Wurzel zurückzuführen ist und standardmäßig bisher als „Bastarde“ übersetzt wurde,<ref name="ftn7">Erstmals als „bastardi“ übersetzt von Gabrieli, Ibn Ḥawqal, S. 249; ähnlich die französische Übersetzung: Kramers / Wiet, ''Configuration'', S. 128 „bâtards“; Metcalfe, ''Arabic speakers'', S. 16 übersetzt „bastardised Muslim“ und fügt in der dazugehörigen Fußnote 51 hinzu, [t]he translation in English seems to lie somewhere between mongrels, half-castes, buffoons and imposters“; die Auffassung der Vortäuschung findet sich in der Übersetzung „trickster“ auch bei Lewis, Ibn Hauqal, S. 99.</ref> bedarf einer ausführlicheren Kontextualisierung. Alex Metcalfe hat als erster darauf hingewiesen, dass sich ''al-mušaʿmiḏūn'' vom Hebräischen ''meshumadim'' ableitet; Giuseppe Mandalà referenzierte diese Aussage mit einigen Belegen und folgerte, dass der Terminus Apostaten bezeichnen würde.<ref name="ftn8">Metcalfe, Wandel, S. 72 und ders., Normans, S. 108-109; Mandalà, Minoranze, S. 107-109.</ref> Aus der Perspektive des jüdischen Rechts ist die Sache jedoch etwas komplizierter:<ref name="ftn9">Vgl. die Forschungsdebatten bei Zeitlin, Mumar; Teppler, ''Birkat''; Langer, ''Cursing.''</ref> Die auf hebräischen und aramäischen Ursprung zurückzuführende Wurzel ''sh''-''m''-''d'' (verderben, zu Grunde gehen) taucht an mehreren Stellen im Tanach, der Hebräischen Bibel auf, wenn Yahweh Ungläubige oder Aufrührer mit Zerstörung bestraft (חשמיד/ ''hishmīd'', er hat zerstört).<ref name="ftn10">2 Kön 21, 9; Deut 2, 22; 1 Chron 5, 25; die Grundbedeutung der Wurzel heißt hingegen „verderben“.</ref> Im Babylonischen Talmud bezeichnet der Begriff ''meshumad'' (Pl. ''meshumadim'') Juden, die die religionsrechtlichen Grenzen – wissentlich, teilweise aus Zwang, bisweilen sogar freiwillig – überschreiten.<ref name="ftn11">Talmud Bavli, Chullin 5a:10, 11, 13, 14; Chullin 5b:1; Avodah Zarah 26b:1-3, Horayot 2a:15; Horayot 11a:12.</ref> Die ''meshumadim'' sind talmudisch gesehen dabei aber keine Apostaten im Sinne einer ''apostasia a fide'' (Glaubensabfall), sondern in Teilen ihrer religiösen Praxis korrumpierte Juden, die noch als Teil der jüdischen Gemeinschaft anzusehen sind. Die der Wurzel innewohnende Bedeutung der Verdorbenheit oder Zerstörung bleibt dabei gewissermaßen als moralisches Urteil bestehen.  


In der rabbinischen Literatur wurden Derivate der Wurzel ''sh-m-d'' außerdem verwendet, um jene Juden zu bezeichnen, die tatsächlich vom Judentum abfielen, und zwar durch äußeren Druck oder Verfolgung. Ein Beleg dafür findet sich im Jerusalemer Talmud, wo die Herrschaftszeit Kaiser Hadrians (regn. 117-138) als „Die Zeit der Unterdrückung” bezeichnet wird, auf Hebräisch ''she’at ha-shemad''.<ref name="ftn12">Talmud Yerushalmi, Yevamot VIII: 9d; laut keine zeitgenössische Bezeichnung Grossberg, ''Heresy'', S. 120f. </ref> Wenn ''ha-shemad'' als Unterdrückung oder Verfolgung gilt, wären die ''meshumadim'' zunächst als solche zu verstehen, die wegen repressiver politischer Maßnahmen vom Judentum abließen.<ref name="ftn13">Teppler, ''Birkat'' S. 67. </ref> In ähnlicher Weise tauchen die ''shemad'' und ''meshumadim'' auch bei Maimonides (gest. 601/1204) auf, namentlich in seinem „Brief zur Unterdrückung“ (''Iggeret ha-shemad''), mit dem er sich nach 1161 an die unter almohadischer Herrschaft lebenden Juden wandte.<ref name="ftn14">Kraemer, ''Maimonides'', S. 104-111.</ref> Eine besondere und für die oben zitierte Quellenstelle womöglich nicht unbedeutende Rolle nehmen die ''meshumadim'' in den Gebeten arabischsprachiger Juden im östlichen und zentralen Mittelmeerraum ein. Dies zeigen Fragmente des 10. bis 13. Jahrhunderts aus der Geniza der Ben Ezra Synagoge in Kairo. Einer der achtzehn Segenssprüche (''brachot'') der Amida (das zentrale Gebet im Judentum), verdammt Konvertiten. Der unter dem Namen ''Birkat ha-minim'' („Gebet für die Konvertiten“) bekannte Segen war ursprünglich wohl gegen Juden gerichtet, die sich dem Christentum angeschlossen hatten (sogenannte Judenchristen).<ref name="ftn15">Vgl. die grundlegenden Studien zu diesem Gebet von Langer, ''Cursing''; Teppler, ''Birkat''.</ref> In den Gebeten der babylonischen Kongregation Ben Ezra ist das für Konvertiten üblicherweise verwendete Wort ''minim'' durch ''meshumadim'' ersetzt worden. Einige judäoarabische Gelehrte des 11. und 12. Jahrhunderts erklärten dies damit, dass ''meshumad'' durch eine Lautverschiebung von ʿ''ayn'' zu ''šīn'' etymologisch mit dem Arabischen ''al-maʿmūdīya'' verwandt sei, was Taufe heißt.<ref name="ftn16">Langer, ''Cursing'', S. 48. Die Lautverschiebung von ''ʿayn'' zu ''šīn'' sei im Judäoarabischen dabei nicht unüblich. </ref> Obwohl die Forschung diese Schlussfolgerung als Fehlinterpretation ansieht, würde sie darauf hindeuten, dass die ''meshumadim'' von den in der arabisch-islamischen Sphäre lebenden Juden dezidiert als zum Christentum abgefallene Glaubensbrüder verstanden worden sind.<ref name="ftn17">Langer, ebd.</ref>  
In der rabbinischen Literatur wurden Derivate der Wurzel ''sh-m-d'' außerdem verwendet, um jene Juden zu bezeichnen, die tatsächlich vom Judentum abfielen, und zwar durch äußeren Druck oder Verfolgung. Ein Beleg dafür findet sich im Jerusalemer Talmud, wo die Herrschaftszeit Kaiser Hadrians (regn. 117-138) als „Die Zeit der Unterdrückung” bezeichnet wird, auf Hebräisch ''she’at ha-shemad''.<ref name="ftn12">Talmud Yerushalmi, Yevamot VIII: 9d; laut keine zeitgenössische Bezeichnung Grossberg, ''Heresy'', S. 120f. </ref> Wenn ''ha-shemad'' als Unterdrückung oder Verfolgung gilt, wären die ''meshumadim'' zunächst als solche zu verstehen, die wegen repressiver politischer Maßnahmen vom Judentum abließen.<ref name="ftn13">Teppler, ''Birkat'' S. 67. </ref> In ähnlicher Weise tauchen die ''shemad'' und ''meshumadim'' auch bei Maimonides (gest. 601/1204) auf, namentlich in seinem „Brief zur Unterdrückung“ (''Iggeret ha-shemad''), mit dem er sich nach 1161 an die unter almohadischer Herrschaft lebenden Juden wandte.<ref name="ftn14">Kraemer, ''Maimonides'', S. 104-111.</ref> Eine besondere und für die oben zitierte Quellenstelle womöglich nicht unbedeutende Rolle nehmen die ''meshumadim'' in den Gebeten arabischsprachiger Juden im östlichen und zentralen Mittelmeerraum ein. Dies zeigen Fragmente des 10. bis 13. Jahrhunderts aus der Geniza der Ben Ezra Synagoge in Kairo. Einer der achtzehn Segenssprüche (''brachot'') der Amida (das zentrale Gebet im Judentum), verdammt Konvertiten. Der unter dem Namen ''Birkat ha-minim'' („Gebet für die Konvertiten“) bekannte Segen war ursprünglich wohl gegen Juden gerichtet, die sich dem Christentum angeschlossen hatten (sogenannte Judenchristen).<ref name="ftn15">Vgl. die grundlegenden Studien zu diesem Gebet von Langer, ''Cursing''; Teppler, ''Birkat''.</ref> In den Gebeten der babylonischen Kongregation Ben Ezra ist das für Konvertiten üblicherweise verwendete Wort ''minim'' durch ''meshumadim'' ersetzt worden. Einige judäoarabische Gelehrte des 11. und 12. Jahrhunderts erklärten dies damit, dass ''meshumad'' durch eine Lautverschiebung von ʿ''ayn'' zu ''šīn'' etymologisch mit dem Arabischen ''al-maʿmūdīya'' verwandt sei, was Taufe heißt.<ref name="ftn16">So Langer, ''Cursing'', S. 48, mit dem Hinweis, dass die Lautverschiebung von ''ʿayn'' zu ''šīn'' im Judäoarabischen nicht unüblich sei. </ref> Obwohl die Forschung diese Schlussfolgerung als Fehlinterpretation ansieht, würde sie darauf hindeuten, dass die ''meshumadim'' von den in der arabisch-islamischen Sphäre lebenden Juden dezidiert als zum Christentum abgefallene Glaubensbrüder verstanden worden sind.<ref name="ftn17">Langer, ebd.</ref>  


Die Übersetzung „Bastarde“ für ''al-mušaʿmiḏūn'' ist damit sprachgeschichtlich gesehen nicht haltbar und trifft letztlich auch nicht die Implikation Ibn Ḥawqals Aussage, da als „Bastard“ eigentlich ein Kind aus einer nicht legitim geschlossenen Verbindung bezeichnet wird. Koranisch ist die Ehe zwischen Muslimen und Christinnen aber als unverwerflich einzustufen,<ref name="ftn18">Gemäß Q 5:5; zum Verbot für muslimische Frauen nicht-muslimische Männer zu ehelichen, siehe Q 2:221; 60:10; 4:141.</ref> nicht zuletzt weil nach islamischem Recht die Kinder solcher Ehen ausnahmslos der Religion des Vaters angehören. Als Normverstoß wäre in der Perspektive Ibn Ḥawqals demnach erstens die Handhabung anzusehen, dass die aus christlich-muslimischen Ehen geborenen Mädchen auf Sizilien nicht Musliminnen, sondern Christinnen wurden sowie zweitens der Umstand, dass die ''mušaʿmiḏūn'' den Vollzug islamischer Pflichten nicht leisteten. Die „Bastardisierung“ bezieht sich ‒ entsprechend der talmudischen Bedeutung von ''meshumadim'' ‒ also nicht auf die Abstammung, sondern auf die Korruption korrekter religiöser Praxis. Statt einer fortlaufenden Islamisierung sei es auf Sizilien demnach zu der „Produktion“ von Christinnen und ''mušaʿmiḏūn'', nicht aber von Muslimen gekommen. Interessant ist, dass diese Ehepraxis, die auch in anderen Sizilien betreffenden Quellen greifbar wird,<ref name="ftn19">Siehe dazu Metcalfe, Transkultureller Wandel, S.&nbsp;79-81.</ref> mit ihrer geschlechterspezifischen Regulierung der Religionszugehörigkeit innerhalb Siziliens offenbar konfliktfrei geblieben ist,<ref name="ftn20">Zu Kindern interreligiöser Ehe siehe außerdem König: Caught between cultures, S. 65-68 mit dem Vergleich zu den Märtyrern von Córdoba und den Turkopolen (τουρκόπουλοι) sowie ders., ''Transkulturelle Verflechtungen'', S. 84-90.</ref> während eine Empörung über den Normverstoß nur durch die Außenperspektive des Reisenden gespiegelt wird – und zwar mit einem Wort, das von arabischsprachigen Juden der Zeit wohl nicht bloß mit laxer Glaubenspraxis, sondern sogar mit einer ideologischen Nähe zum Christentum verbunden wurde. In Anbetracht der Biographie und des Reiseitinerars Ibn Ḥawqals ist es durchaus vorstellbar, dass er die Bezeichnung ''meshumadin''/ ''mušaʿmiḏūn'' durch persönlichen Kontakt zu arabischsprachigen Juden kennenlernte und so in sein Vokabular aufnahm.
Die Übersetzung „Bastarde“ für ''al-mušaʿmiḏūn'' ist damit sprachgeschichtlich gesehen nicht haltbar und trifft letztlich auch nicht die Implikation Ibn Ḥawqals Aussage, da als „Bastard“ eigentlich ein Kind aus einer nicht legitim geschlossenen Verbindung bezeichnet wird. Koranisch ist die Ehe zwischen Muslimen und Christinnen aber als unverwerflich einzustufen,<ref name="ftn18">Gemäß Q 5:5; zum Verbot für muslimische Frauen nicht-muslimische Männer zu ehelichen, siehe Q 2:221; 60:10; 4:141.</ref> nicht zuletzt weil nach islamischem Recht die Kinder solcher Ehen ausnahmslos der Religion des Vaters angehören. Als Normverstoß wäre in der Perspektive Ibn Ḥawqals demnach erstens die Handhabung anzusehen, dass die aus christlich-muslimischen Ehen geborenen Mädchen auf Sizilien nicht Musliminnen, sondern Christinnen wurden sowie zweitens der Umstand, dass die ''mušaʿmiḏūn'' den Vollzug islamischer Pflichten nicht leisteten. Die „Bastardisierung“ bezieht sich ‒ entsprechend der talmudischen Bedeutung von ''meshumadim'' ‒ also nicht auf die Abstammung, sondern auf die Korruption korrekter religiöser Praxis. Statt einer fortlaufenden Islamisierung sei es auf Sizilien demnach zu der „Produktion“ von Christinnen und ''mušaʿmiḏūn'', nicht aber von Muslimen gekommen. Interessant ist, dass diese Ehepraxis, die auch in anderen Sizilien betreffenden Quellen greifbar wird,<ref name="ftn19">Siehe dazu Metcalfe, Transkultureller Wandel, S.&nbsp;79-81.</ref> mit ihrer geschlechterspezifischen Regulierung der Religionszugehörigkeit innerhalb Siziliens offenbar konfliktfrei geblieben ist,<ref name="ftn20">Zu Kindern interreligiöser Ehe siehe außerdem König: Caught between cultures, S. 65-68 mit dem Vergleich zu den Märtyrern von Córdoba und den Turkopolen (τουρκόπουλοι) sowie ders., ''Transkulturelle Verflechtungen'', S. 84-90.</ref> während eine Empörung über den Normverstoß nur durch die Außenperspektive des Reisenden gespiegelt wird – und zwar mit einem Wort, das von arabischsprachigen Juden der Zeit wohl nicht bloß mit laxer Glaubenspraxis, sondern sogar mit einer ideologischen Nähe zum Christentum verbunden wurde. In Anbetracht der Biographie und des Reiseitinerars Ibn Ḥawqals ist es durchaus vorstellbar, dass er die Bezeichnung ''meshumadin''/ ''mušaʿmiḏūn'' durch persönlichen Kontakt zu arabischsprachigen Juden kennenlernte und so in sein Vokabular aufnahm.
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