"Gegenseitigkeit als Argument in Walthers Minnesang" (nach Ralf-Henning Steinmetz)

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Einleitung

Trotz starker Veränderung des Bildes, welches die deutsche Philologie des Mittelalters von Walthers Neuerungen im Minnesang entwirft, ist die Vorstellung, dass Walther als erster in programmatischer Weise die Forderung nach Gegenseitigkeit in der Minne eingeführt habe, geblieben. Als zentraler Textbeleg gilt dabei das Lied "Saget mir ieman, waz ist minne?"[1], in welchem Walther, so bspw. Scholz, "[e]inen radikalen Schritt zur Umwertung des Wesens der Minne vollzieht"[2]. Im Folgenden wird stichpunktartig jenes vermeintlich radikale Postulat der Gegenseitigkeit im Minnesang anhand des Aufsatzes "Gegenseitigkeit als Argument in Walthers Minnesang"[3] von Steinmetz erörtert bzw. aus einem neuen Blickwinkel betrachtet.

Untersuchung

  • Das Lied wurde zunächst als Teil der Reinmarfehde gelesen, was das interpretatorische Ziel schon vorgab:
traditionelles Modell der hohen Minne vs. emanzipierte Vorstellung der gegenseitigen Minne (Überwindung der hohen Minne durch eine neue Vorstellung)
bzw. Wie greift Walther das durch Reinmars Lieder repräsentierte trad. Modell der hohen Minne an? Was ist seine neue Vortstellung der Minne?
  • Inzwischen jedoch, so Steinmetz, haben sich drei Voraussetzungen für diese Ansicht als unhaltbar erwiesen:
- Reinmar wird nicht mehr nur auf das Ertragen und Zelebrieren des Leids reduziert, sondern wird als Dichter mit weitem literarischem Œuvre akzeptiert (u.a. erotische Lyrik).
- Die Lesart der Auseinandersetzung zw. Reinmar und Walther ist in der modernen Rezeption nüchterner, wobei auch die Funktion, Walthers Lyrik inhaltlich sowie chronologisch daran zu strukturieren, verloren geht.
- Die höfische Liebe gilt heute als kohärentes Konzept, von dem je nach Textgattung und Wirkungsabsicht verschiedene Teilvorstellungen thematisiert werden können. (!)
"Die verschiedenen Gattungen nehmen nur unterschiedliche Ausschnitte aus dem Verlauf der erotischen Beziehungen in den Blick"[4]]. Auf die Werbephase folgt also die Liebeserfüllung. Beide Phasen beschreiben jedoch den Verlauf ein und derselben Liebesbeziehung aus verschiedenen Blickpunkten, weisen also keine grundsätzlich verschiedenen Auffassungen von Minne auf!
Der zentrale Punkt ist dabei, dass Walthers Innovation nicht das Modell der gegenseitigen Liebe, sondern das argumentative Vorgreifen in der Werbephase, auf die erstrebte Phase der erwiderten Liebe betrifft.
Es wird also versucht, das Ziel jedes Werbeliedes im Werbelied zu erreichen, was eine vollkommen neue Strategie darstellt.
  • Jene Innovation respektive spielerische Umgehung der in der Werbungsphase situationsbedingten Regeln zeigt sich auch im auffallenden Perspektivwechsel.
- Das Sänger- Ich zeigt sich als Minnesänger, was insofern wichtig ist, als das argumentative Postulat[5] der ,Gegenseitigkeit' durch ihn repräsentiert wird und nicht einer programmatischen Aussage Walthers gleichkommt. Gemeint sind dabei Strophe I+II, welche eine reflexive Annäherung des Lied- Ichs an die Minnethematik in der Rolle des Liebenden zeigen.
Das Gleiche gilt für die zweite Hälfte des Liedes, welche kritisch auf die Rolle der Frau im ,hohen Sang' referiert. Das Lied- Ich nimmt dabei die Rolle des Sängers ein, wobei auch die Strophen III-V ein Teil der Argumentation des Minnesängers sind, mit dem rollengemäßen Ziel, die vrouwe zu gewinnen.
Es zeigt sich also ein offensichtlicher Bruch bzw. Perspektivwechsel zwischen den scheinbar objektiv wirkenden Spruchstrophen (I+II) und den subjektiver wirkenden, übrigen Strophen (III-V).
  • "Begreift man Walthers Lied als nur in der Durchführung etwas ungewöhnliches Werbelied"[6], so muss nicht mehr von mehreren Textebenen ausgegangen werden[7], sondern kann das Lied als Spiel der gattungsbedingten Verpflichtungen in der Werbephase verstanden werden.
Die Revocatio und die Häufung der rhetorischen Fragen in Strophe V untermauern dabei die These der Doppelbödigkeit. Das Spiel mit den Konventionen der Gattung wird offensichtlich, an den scheinbar eindeutigen Antworten auf jene Fragen. "So wären diese Fragen auf der Ebene der topischen Darstellung der Werbephase selbstverständlich zu bejahen; zugleich müssten sie auf der dargestellten Ebene aus einer moralischen Perspektive ebenso selbstverständlich verneint werden"[8].
Diese Ballung an rhet. Fragen bildet zugleich auch den Höhepunkt der Wirkungsästhetik des Liedes; der Minnesänger zieht alle Register seiner Rolle.
Im Allgemeinen lässt sich sagen, dass die Darstellung des Sängers reichlich überspitzt, pointiert ist[9], da im Rahmen der höfischen Werbekanzone die Argumente nicht als ernstgemeint zu begreifen sind (bspw. die vom lyr. Ich verlangte Dankbarkeit, die moralische Verantwortung der vrouwe oder gar Minne nicht als Minne zu akzeptieren, insofern sie schmerzt).[10]
→' Der Widerruf bzw. oben genannte revocatio erfolgt in letzter Minute (vgl. Str. V, Vers 6+7). "Die zu starken Töne entpuppen sich als das, was sie sind: ein geistreiches Spiel mit den Konventionen der Gattung, eine witzige Variation der Werbekanzone"[11].
  • Steinmetz untermauert seine These, indem er auf die Strophenfolge der verschiedenen Fassungen verweist. Die Sangspruchstrophen bzw. das Postulat der Gegenseitigkeit, stehen dabei in einem jeweils anderen argumentativen Kontext, was die Gesamtinterpretation stark variieren lässt, die Strophen also nicht isoliert betrachtet werden oder gar als unbedingte Aussage Walthers verstanden werden können.
  • Vielmehr sind die Liebesdefinitionen argumentativer Natur, mit dem Ziel, die vrouwe zu einer Änderung ihres Verhaltens zu bewegen.
  • Da nun keine bestimmte Strophenanordnung auf Walther zurückgeführt werden kann, lässt er sich auch keineswegs sicher als literarischer Revolutionär, hinsichtlich der Gegenseitigkeit der Liebe, bezeichnen. Seine Neuerungen gehören "unter eine andere Rubrik, nämlich unter die Innovationen Walthers in der argumentativen und motivischen Gestaltung der Werbekanzone"[12].
Walthers Innovation ist die Kombination zweier Momente: die lehrhafte Aussageweise der Sangspruchdichtung wird argumentativ in die Äußerungen eines Ichs eingebunden, das in der Rolle des Minnesängers um eine Frau wirbt.[13]

Literatur und Quellen

Scholz, Manfred Günter: Walther von der Vogelweide, 2. Aufl., Stuttgart / Weimar, 2005. Steinmetz, Ralf-Henning: Gegenseitigkeit als Argument in Walthers Minnesang, ZfdA 132 (2003), S. 425-442.


Anmerkungen

  1. Saget mit ieman, waz ist minne?" (Walther von der Vogelweide, 44)
  2. Scholz 2005, S.103.
  3. Steinmetz bezieht sich dabei auf die Textausgabe Cormeaus, bzw die Strophenfolge der Handschrift O mit EF (I -V).
  4. Steinmetz 2003: S. 427.
  5. Da das Postulat argumentativ eingesetzt wird, der erstrebten Liebeserfüllung wegen, kann es nicht als Selbstzweck, bzw. direkte Aussage Walthers verstanden werden.
  6. Steinmetz 2003: S. 429.
  7. So bspw. Wenske und Knape, die eine Variation der Bedeutung der einzelnen Strophen feststellen.
  8. Steinmetz 2003: S. 437.
  9. Steinmetz nennt dies den "Witz".
  10. Diese Vorstellungen sind für einen Sangspruchdichter nicht revolutionär, sondern reichlich naiv.
  11. Steinmetz 2003: S. 434.
  12. Steinmetz 2003: S. 441.
  13. Oben stehende Ausführungen erheben nur bedingt Anspruch auf Vollständigkeit. Verbesserungen und inhaltliche Ergänzung, an geeigneter Stelle, sind ausdrücklich erwünscht.