Ansichten zum Frageversäumnis (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
Dieser Artikel beschäftigt sich mit dem Titelheld Parzival, der in dem entscheidenden Moment durch sein Schweigen den Gralskönig Anfortas von seinem Leiden nicht erlöst. Als Folge dessen wird er in aller Öffentlichkeit geächtet und erleidet eine tiefe Depression. Zum Ende des Romans kämpft er sich wieder hoch und stellt beim zweiten Anlauf die erlösende Frage im richtigen Moment und befreit damit die Gralsgesellschaft.
Allgemeines
Die Forschung versucht in verschiedenen Ansätzen das paradoxe Verhältnis von Frageversäumnis und Parzivals Schuld zu klären. Dabei muss zuerst untersucht werden, welche Frage Parzival stellen soll und welche Gründe dafür ausschlaggebend sind, dass er dies versäumt. Zuletzt muss sein Nichtfragen und die daraus resultierenden Folgen für den Verlauf des Romans gedeutet werden. Dabei besteht die Schwierigkeit der Interpretation darin, dass zwei Ebenen kombiniert werden müssen. Zum einen die ursprüngliche märchenhaft-archaische Grundstruktur und zum anderen die darauf aufgebaute rationalisierende Ebene, auf denen sich bei Wolfram von Eschenbach die Thematik entwickelt.[Kordt 1997: S.227.]
Der Charakter der Frage
Parzival soll sich nach dem Leiden des Königs erkundigen:
het gefrâget sîner nôt (255,19)[1] | da hättet Ihr doch nach seinem Leiden fragen müssen! |
daz er niht zem wirte sprach umben kumber den er an im sach (473,15ff.) | denn er hat den Herrn dort nicht angesprochen und nicht nach seinem Leiden gefragt, das er doch an ihm sah |
Gegenüber Chrétiens Werk hat Wolfram schon die Art der Frage verändert und von den Gegenständen, die bei Chrétien in keinem Zusammenhang mit der Krankheit des Königs stehen, auf die Figur des leidenden Königs verlagert. In Chrétiens Fassung soll Parceval fragen, warum die Lanze blutet und wen man mit dem graal bedient. In der Forschung hat man versucht, einen eindeutigen Vergleich von Neugierfrage bzw. Erkundigungsfrage bei Chrétien und Wolframscher Mitleidsfrage zu erarbeiten. Angesichts des Textes erwies es sich jedoch als problematisch.
Die Vorgänge auf der Gralsburg lassen Neugierde bei Parzival entstehen und das scheint die beste Voraussetzung zum Fragen zu sein. Der Mitleidscharakter wird erst in dem Inhalt der Frage sichtbar, der jedoch während des ersten Besuches auf der Gralsburg noch nicht erwähnt wird. Es wird dennoch deutlich, dass es sich hierbei um eine Erlösungsfrage handelt. Der Erzähler weist darauf hin, dass die Frage Anfortas von seinem Leiden erlöst hätte(240,9).[2] Cundrie stellt die Frage als Mitleidsfrage dar:
dô der trûrge vischære (315,28ff.) | Als der traurige Fischer |
saz âne freude und âne trôst, | da saß vom Glück verlassen und ohne Hilfe, |
war umb irn niht siufzens hât erlôst. | warum habt Ihr ihn nicht erlöst aus seinem Seufzen? |
Er truog iu für den jâmers last. | Vor Eure Augen hat er seines Jammers Last getragen, |
Sigune hebt dagegen den Neugieraspekt hervor:
{ |- | ir sâhet doch sölh wunder rgôz: (255,5f.) ||Ihr habt doch so viele große Wunder gesehen: |- | daz iuch vrâgens dô verdrôz! || Wie konntet Ihr zögern zu fragen, |}
Ebenso hebt Parzival selbst den Neugieraspekt hervor:
`grœzlîch wunder ich dâ sach, | »Großartige Wunder habe ich dort gesehen |
unt manege frouwen wol getân.´ | und viele schöne Damen.« |
Wilhelm Kellermann wendet sich gegen eine strikte Differenzierung von Neugier- und Mitleidsfrage und schlägt vor, "von einem Typus der Eindrucksfrage [zu] sprechen, die beim mhd. Dichter von der Barmherzigkeitsfrage ergänzt wird."[3]
Die Schuldproblematik
Parzivals Frageversäumnis trägt ihm viele schwere Vorwürfe ein. Sigune (255,17) und Cundie (316,2f.,316,23) beschimpfen ihn und werfen ihm einen Mangel an triuwe vor, welche er durch das Fragen hätte erweisen sollen. Ebenso bezeichnet Trevrizent Parzivals Frageversäumnis als sünde(501,1ff.). Als resultierende Konsequenz verliert Parzival Ansehen und Seelenruhe (255,25ff., 329,25ff., 330,20ff.) Die zunächst heftigen und für das neuzeitliche Publikum unverständlichen Reaktionen auf Parzivals Frageversäumnis stammen aus einer älteren Schicht der Erzählung, in der ein solcher Fehler ohne Rücksichtnahme auf den Kontext ein gravierendes Vergehen ist, das Verfluchung und Schande über den Helden bringt.[Roloff 1973: S. 152]Parzival war zudem mit der Frage, die er stellen sollte, beschäftigt und das stellt eine weitere Belastung für den Helden dar. Trotz aller Widersprüche handelt es sich beim Versäumnis der Frage im christlichen Zusammenhang um eine Sünde Parzivals. Wolfram erweitert zudem die christliche Interpretation, indem er der Frage durch das Hinzufügen des Mitleidsaspekts, der in der Überlieferung nicht vorkommt, eine ethische Bedeutung gibt.[4]. Im Gegensatz zu Chrétiens Roman, in dem man nichts über eine mögliche letztendliche Bewährung des Titelhelden erfährt, ist es bei Wolfram die Kraft Gottes, die bewirkt, dass eine Erlösung Anfortas durch Parzival möglich ist(795,30ff.9.
zuht als Begründung für Parzivals Schweigen
Sowohl Chrétien als auch Wolfram versuchen mit Hilfe einer christlichen Überformung den Schuldvorwurf gegenüber dem Helden zu rationalisieren und das rätselhafte Schweigen Parzivals zu erklären. In beiden Romanen wird der Rat des ritterlichen Erziehers als ein Argument für das Frageversäumnis angeführt.
durch zuht in vrâgens doch verdrôz. (239,10ff.) | doch wollte er nicht ungezogen sein und scheute sich deshalb zu fragen. |
er dâhte ‘mir riet Gurnamanz | Er dachte: Gurnamanz |
mit grôzen triwen âne schranz, | hat mir beigebracht - er ist mir gut und seine Treue ohne Scharte -, daß ich nicht |
ich solte vil gevrâgen niht. | viel fragen soll. |
Wolfram ersetzt Chrétiens starren Automatismus der schuldhaften Verfehlung durch die Entwicklung des Romanhelden. Einige Forscher haben das Scheitern des Protagonisten in seiner Anwendung des Gurnemanzrats diesen als zweifelhaft gesehen. Man versuchte in dem zuht-Konzept die Ursache für Parzivals Frageversäumnis zu sehen und suchte somit den Grund des Scheiterns entweder in der Erziehung durch Gurnemanz oder in Parzivals Bemühungen, den Forderungen der ritterlichen zuht zu entsprechen.[5]
Forschungsansätze
Gurnemanz Erziehung
Vor allem die frühere Forschung versuchte, die Schuldfrage auf Gurnemanz Erziehung zurückzuführen. Es wurde Gurnemanz vorgeworfen, dass er Parzival eine einseitige Perspektive von zuht vermittelt habe. Laut Gustav Ehrismann ist Gurnemanz Erziehung schuld daran, dass der Held seinen natürlichen Impuls auf der Gralsburg unterdrückt. Ein anderer Interpretationsansatz unterstreicht dagegen Gurnemanz Unschuld an Parzivals Schweigen, da man ihm nicht den Vorwurf der hôchvart machen kann (vgl. Gurnemanz ausdrücklichen Hinweis: vlîzet iuch diemüete, (170,28)). Im Text selbst findet man keinerlei Kritik an Gurnemanz und seiner Erziehung, stattdessen wird seine moralische Vorbildlichkeit hervorgehoben. Gurnemanz Ratschlag ist in der Kultur des Mittelalters verwurzelt und entspricht wichtigen zeitgenössischen Verhaltensmaßregeln.
Parzivals Ehrgeiz
Einige Forscher stellen statt Gurnamanz Erziehung das ehrgeizige Streben des Helden in den Vordergrund, da sein Ehrgeiz ihn auch dazu bringt, seine Mutter zu verlassen und den roten Ritter Ither zu töten.[6]
Konsequenzen
Durch das Schweigen auf der Gralsburg versäumt Parzival im Rahmen der Dichtung seine persönliche Erlösungsaufgabe. Seine Schuld wird jedoch durch seine beschränkte Schuldfähigkeit, die durch die Perspektive des Erzählers angedeutet wird, relativiert. Parzivals Verhalten wird für den Zuhörer bzw. Leser psychologisch verständlich gemacht, da sein Versagen auf seine beschränkte Entwicklung zurückzuführen ist. Durch die Vorwürfe der anderen Figuren beginnt für Parzival der "schwierige Abenteuerweg der Selbsterkenntnis und Erlösung"[Roloff 1973: S. 332.] und die Entdeckung seines Gewissens.
Letztendlich ist es die Märchenstruktur des Romans, die für die rätselhafte Frage und das Versäumnis bestimmend bleibt. Die Voraussetzungen, unter denen die Frage gestellt wird, bleiben schlussendlich bei Wolfram widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit basiert auf einem Zusammenspiel zweier Ebenen. Die Thematik der Erzählung stützt sich auf ein archaisches Schema. Dem Helden wird eine Erlösungsaufgabe gestellt, die er nicht meistert. Durch dieses Versagen fügt Parzival der Gemeinschaft ungewollt Schaden zu. Im Roman wird es ihm deshalb als Schuld angelastet. Wolfram stellt dem archaischen Schuldvorwurf eine Perspektive entgegen, die Parzival entlastet. Das Frageversäumnis wird durch die ethische Interpretationsmöglichkeit verständlich. Parzivals Schweigen wird mit der Vergegenwärtigung einer vorbildlichen höfischen Erziehung legitimiert und durch den Erzählerkommentar relativiert.
Ohne sich weit von Chrétiens Perceval zu entfernen, bringt Wolfram eine neue Sichtweise des Frageversäumnisses zum Ausdruck und unterstreicht gleichzeitig die märchenhaften Widersprüchlichkeiten. Die Aktualität des Problems liegt in der Unausweichlichkeit und Unverständlichkeit der Schuld Parzivals.[7]
Anmerkungen
- ↑ Alle Textstellen-Angaben aus Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
- ↑ Kordt 1997: S. 227ff.
- ↑ Kellermann 1936: S. 102f.
- ↑ Bötticher 1886: S. 42
- ↑ Kordt 1997: S. 236.
- ↑ Kordt 1997: S. 236ff.
- ↑ Kordt 1997: S. 244f.
Literaturverzeichnis
[*Kellermann 1936]Kellermann, Wilhelm: Aufbaustil und Weltbild Chrestiens von Troyes im Percevalroman. Halle/Saale, 1936.
[*Roloff 1973]Roloff, Volker: Reden und Schweigen: zur Tradition und Gestaltung eines mittelalterlichen Themas in der französischen Literatur. München, 1973.
[*Bötticher 1886]Bötticher, Gotthold: Das Hohelied vom Rittertum: eine Beleuchtung des Parzival nach Wolframs eigenen Andeutungen. Berlin, 1886.
[*Kordt 1997]Kordt, Christa-Maria: Parzival in Munsalvaesche. Kommentar zu Buch V/1 von Wolframs Parzival(224,1-248,30). Herne, 1997.