Der vierfache Schriftsinn in Dantes "Vita Nova" (Dante Alighieri, Vita Nova)

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Dante Alighieri schreibt in seinem Convivio, "daß man die Schriften höchstens in vier Sinnen verstehen kann und auslegen muß."[Convivio 1996: 9][1] Diese allegorische Sichtweise soll im Folgenden an Dantes Vita Nova untersucht werden. Dazu sollen die vier Sinne zunächst kurz charakterisiert werden und anschließend mit den Ebenen der Liebe aus der Vita Nova in Verbindung gebracht werden. Anhand dessen soll versucht werden, die Funktion der einzelnen Figuren genauer zu erläutern. Schließlich gibt es neben der realen[2] irdischen Beatrice noch diverse "Schutzschilddamen"[3], eine geheimnisvolle, bleiche Frau gegen Ende der Vita Nova und im letzten Kapitel noch die Erscheinung der bereits verstorbenen Beatrice.


Dantes "vier Sinne"

Dante teilt den vierfachen Schriftsinn folgendermaßen ein:

  1. Der buchstäbliche Sinn: "[Dieser] reicht nicht über den Buchstaben der erfundenen Worte hinaus"[Convivio 1996: 9]. Dieser Sinn beinhaltet zunächst also die direkte Wahrnehmung, die Erzählung an sich, das Verständnis der Worte. Dieser Sinn ist elementar für die weiteren.
  2. Der allegorische Sinn: "[Dieser] versteckt sich unter dem Mantel dieser Erzählung, und er ist eine unter einer schönen Lüge verborgene Wahrheit"[Convivio 1996: 9]. Dieser Sinn liegt unter der literalen Erzählung verborgen und muss extrahiert werden. Die wahre Bedeutung des Wortes, wobei Wort auch als längere Sequenz wie Satz oder Text verstanden werden kann, liegt verborgen unter einer "schönen Lüge". Die Beschreibung Dantes ist hochinteressant: Der allegorische Deckmantel verbirgt erstens die Wahrheit, ist zweitens eine Lüge, die drittens schön ist. Auf diese Aspekte wird später noch genauer eingegangen.
  3. Der moralische Sinn: "[Diesen] müssen die Lektoren in den Schriften zu ihrem eigenen und zum Nutzen ihrer Schüler aufmerksam aufzuspüren versuchen"[Convivio 1996: 9 und 11 (S. 10 ist italienisch)]. Auch dieser Sinn scheint versteckt hinter den eigentlichen Worten zu stehen. Anders jedoch als die allegorische "Lüge", erwähnt Dante explizit, dass dieser dritte Sinn einen Nutzen hat. Diesen Aspekt erwähnt er beim allegorischen Sinn nicht.
  4. Der anagogische Sinn: "[Dieser] ist dann gegeben, wenn man eine Schrift geistig auslegt, die, [obgleich] sie auch im (buchstäblichen Sinn) wahr ist, durch die bezeichneten Dinge die erhabenen Dinge der ewigen Herrlichkeit bezeichnet"[Convivio 1996: 11]. Auch in diesem Fall spielt die Auslegung von Worten eine entscheidene Rolle, denn die Auslegung soll unter einem geistigen Aspekt erfolgen. Man kann daher schließen, dass die Auslegung des letzten Sinns sich sowohl auf eine göttliche Ebene, als auch damit verbunden auf eine ewige bzw. unendliche Ebene bezieht. Dante charakterisiert diese Auslegung mit "Herrlichkeit". An dieser Stelle ist es schwierig zu sagen, ob Dante mit diesem Ausdruck nur Gott meint und sich damit vor allem auf biblische Darstellungen bezieht, oder ob man den Begriff der Herrlichkeit auch auf andere Bereiche des vor allem ewigen Lebens ausweiten darf. Da von "erhabenen Dinge[n] der ewigen Herrlichkeit" die Rede ist, soll die Auslegung nicht nur Gott im religiös-christlichen Sinn bedeuten, sondern aufgrund des allumfassenden Charakters auch auf die Unendlichkeit des ewigen Lebens referieren, die nicht zwangsläufig mit den Vorstellungen der christlichen Kirche konform sein müssen, sondern auch eigene, subjektive Vorstellungen beinhalten können.
Dantes Modell der "Allgeorie" mit den wichtigsten Eigenschaften

Diese vier Sinne lassen sich unter dem Begriff der "Allegorie" zusammenfassen. Dabei darf dieser Allegorie-Begriff nicht gleichgesetzt werden mit dem unter Nummer zwei angegebenen. Deshalb soll zwischen dem allegorischen Sinn, der sich lediglich auf die beschriebenen Charakteristika seinerselbst bezieht, und der "Allegorie" unterschieden werden. Letztere fasst alle vier Sinne zusammen und wird zur besseren Hervorhebung durch die Anführungszeichen gekennzeichnet.
Dante schreibt weiter:

"Und beim Aufweisen dieses [Sinnes] [gemeint ist der anagogische] muß der buchstäbliche [Sinn] immer vorangehen als jener, in dessen Aussage die anderen eingeschlossen sind, und ohne welchen es unmöglich und unvernünftig wäre, die anderen, besonders den allegorischen, anzugehen."[Convivio 1996: 11]

Der buchstäbliche Sinn ist also Ausgangspunkt für die anderen drei Sinne, bei denen sich unter dem eigentlichen Wort eine weitere Aussage befindet, die ihrem Sinn entsprechend gekennzeichnet sind. Dieser Zusammenhang ist im rechten Schaubild grafisch dargestellt.

Ebenen der Liebe in der Vita Nova

Ebenen der Liebe in Dantes Vita Nova
Die Figuren der Liebe in Dantes Vita Nova

Dante selbst ist Autor des Convivios. Das bedeutet, dass diese fast schon auf einer Metaebene beschriebenen philosophischen Ansätze von dem gleichen Autor stammen, der auch die Vita Nova verfasst hat. Zwischen den beiden Werken liegen zwar einige Jahre (Vita Nova um 1293 und Convivio um 1306)[Elwert 1980: 97; 108] und die Vita Nova wird als Dantes Jugendwerk[Friedrich 1964: 92] bezeichnet, dennoch ist es interessant zu untersuchen, inwieweit der vierfache Schriftsinn in seinem Jugendwerk bereits auftaucht. Parallel zu Klemp[Klemp 1984] soll diese Untersuchung zunächst anhand einer inhaltlichen Zusammenfassung der Ebenen beginnen. Klemp stellt vier Ebenen der Liebe fest, die irdische, simulierte, philosophische und göttliche Liebe. Des Weiteren ermittelt Klemp, dass diese vier Ebenen ohne einen weiteren Zusammenhang "extraneous or confusing"[Klemp 1984: 186] wirken, außer, man verbinde sie mit den "book's four central women"[Klemp 1984: 186]. Diese identifiziet er als die reale Beatrice, die Schutzschilddamen, Filosofia und die göttliche Beatrice[Klemp 1984: 186][4] In den Schaubildern rechts sind die Ebenen der Liebe und die Figuren der Liebe bereits graphisch dargestellt und zwar in der Reihenfolge, wie sie in der Vita Nova auftauchen, geordnet von unten nach oben. Die Pfeile verdeutlichen Intensität und Dauer der Liebesebenen. Die Farbe steht für die Intensität, je dunkler, umso intensiver ist die Liebe in der Vita Nova dargestellt. Desto heller der Pfeil wird, umso weniger intensiv ist die Liebe. Die verschwommene Pfeilspitze auf Höhe der vierten Ebene verdeutlicht bereits die Ungewissheit, die mit der göttlichen Beatrice verbunden ist. Die Dauer der Liebe, ausgehend von der Erzählzeit in der Vita Nova, wird durch die Form verdeutlicht: Je breiter der Pfeil, umso länger wird die Liebe beschrieben. Auch in diesem Fall lässt sich, wie gezeigt werden soll, nichts eindeutiges zur vierten Ebene, der göttlichen Liebe, sagen.


Die irdische Liebe

Die erste und offensichtlichste Ebene der Liebe ist die Beschreibung der Liebe zur irdischen Beatrice. Diese Beschreibung beginnt in Kapitel 2. "Dante"[5] beschreibt Beatrice als "la gloriosa donna de la mia mente" (VN, 2)[6] Außerdem erkennt "Dante", dass er verliebt sei: "D'allora innanzi dico che Amore segnoreggiò la mia anima [...]" (VN, 2)[7]. In Kapitel 3 wird "Dante" schließlich zum ersten Mal von Beatrice gegrüßt. Überwältigt von dieser Erfahrung verbirgt sich "Dante" "a lo solingo luogo d'una mia camera"[8] (VN, 3). Dort möchte er nachdenken, versank dabei in einen sanften Schlummer und seine erste Vision überkam ihm, in der ihm sein "dominus" (VN, 3) erschien. Dieser hält in der einen Hand die schlafende, leicht eingekleidete Beatrice und in der anderen Hand sein Herz. Der Geist bringt die Gestalt dazu, "Dantes" Herz zu essen und die beiden schweben gen Himmel. "Dante" selbst versteht diese Vision nicht. Er verfasst daraufhin ein Sonett und schickt dies an "tutti li fedeli d'Amore"[9] (VN, 3) mit der Hoffnung auf Antwort und Erklärung. Doch "Dante" wird enttäuscht: "Lo verace guidico del detto sogno non fue veduro allora per alcuno, ma ora è manifestissimo a li più semplici." (VN, 3)[10]

Die Ebene der irdischen Liebe ist unmittelbar mit der Figur der realen Beatrice verbunden. Die irdische Realität wird sichtbar durch die Divergenz der dargestellten Welt und der Träume und Visionen, die "Dante" widerfahren. Durch die Beschreibung der Orte, zum Beispiel der Straße in Kapitel 3 oder der Kirche in Kapitel 5, kann sich der Leser den Handlungsort imaginär vorstellen. Die von "Dante" empirisch wahrnehmbar beschriebenen Instanzen werden somit auch für den Leser greifbar. Anschließend wechselt "Dante" mittels des beschriebenen Traums in eine imaginative, unechte Welt, die der Leser durch den Gegensatz ebenfalls als solche wahrnimmt.
Das Irdische wird nicht nur durch die Beschreibung der Handlungsorte verdeutlicht, sondern auch durch die Beschreibung der Kleidung der Beatrice. Bei der ersten Begegnung erscheint ihm Beatrice "vestita di nobilissimo colore, untile e ouesto, saguigno, cinta e ornata a la guisa che a la sua giovanissima etade si convenia."[11] (VN, 2). Beim Gruß in Kapitel 3 ist Beatrice "vestita di colore bianchissimo"[12] (VN, 3) und in der Vision ist sie "nuda, salvo che involta mi parea in uno drappo sagnuigno leggeramente"[13] (VN, 3). Wichtig an dieser Stelle ist die identitätsstiftende Kleidung[14], denn Kleidung symbolisiert im narrativen Prozess Identität[Kraß 2006: 23]. Kraß ist der Auffassung, dass Identität "nicht als essentielle Gegebenheit aufgefaßt [wird], die in den Texten beschrieben wurde, sondern als Produkt und Effekt eines narrativen Prozesses."[Kraß 2006: 23]. Kleidung schaffe demnach vor allem soziale Identität. Die Frage, auf die an dieser Stelle nicht genauer eingegangen wird, ist, wie stark die Identität Beatrices durch die Kleidung in der Vita Nova "produziert" wird. Die soziale Identität kommt vor allem auch durch den sozialen Raum zustande, denn Beatrice befindet sich die meiste Zeit in Gesellschaft mit anderen Damen, zum Beispiel "inmitten zweier edler Frauen" in Kapitel 3. Durch die Abgrenzung zu den anderen Damen entsteht weiterhin der Eindruck, dass Beatrice etwas besonderes sei und somit eine eigene Identität hat. An dieser Stelle kann deshalb festgehalten werden, dass die irdische Beatrice durch einen narrativen Prozess Identität zugeschrieben bekommt und damit als "real", wenn auch fiktiv, betrachtet werden kann. Außerdem besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Ebene der irdischen Liebe mit der Figur der irdischen, realen Beatrice.

Die simulierte Liebe

Diese Form der Liebe ist Folge der ersten Vision. "Dante", der diese Vision damals nicht verstand, reagiert verwirrt, gar verstört. Zwar erkennen die Leute, dass mit "Dante" etwas nicht stimmt, doch keiner weiß weshalb. "Dante" selbst antwortet auch nicht direkt auf Nachfragen, sondern verschleiert die Wahrheit seines Gefühlszustandes:

Italienisch Deutsche Übersetzung
Ed io, accorgendomi del malvagio domandare che mi faceano, per la volontade d'Amore, lo quale mi commandava secondo lo consiglio de la ragione, rispondea loro che Amore era quelli che cosi m'avea governato. (VN, 4) Und ich, der ich das bösartige Fragen, das sie an mich richteten, bemerkte, antwortete nach dem Willen Amors, der mir gemäß dem Rat der Vernunft gebot, es wäre Amor derjenige, der mich derart zugerichtet hätte.

Die Verschleierung bzw. Verheimlichung hat ihren Höhepunkt schließlich in der Kirchenszene (VN, 5). "Dante" erblickt auf gerader Linie zwischen ihm und Beatrice eine andere edle Dame: "e nel mezzo di lei e di me per la retta sedea una gentile donna di molto piacevole aspetto"[15] (VN, 5). "Dante" schaut zu diesem Zeitpunkt eigentlich Beatrice an, doch aufgrund dieser zufälligen Fügung denken die übrigen Leute, die Liebe "Dantes" würde sich auf die Dame in der Mitte beziehen. Keiner erkennt eine Verbindung mit Beatrice. "Dante" beschließt daher, sich diese Dame als "Vorwand"[16] zu nehmen. Er schreibt im Folgenden Lieder für Beatrice unter dem Deckmantel, diese seien für die Schutzschilddame gedacht. "Dante" spielt im Folgenden also eine falsche Liebe vor, unter der sich eine wahre Liebe, nämlich die zur irdischen Beatrice, befindet. Daher ist von einer "simulierten Liebe" die Rede.
Auch in der Serventese in Kapitel 6 verbirgt sich der Name Beatrices an neunter Stelle unter den 60 schönsten Damen der Stadt, unter denen auch die "gentile donna" ist (vgl. VN, 6).
Es ist aber nicht nur diese eine "gentile donna", die sich Dante als Vorwand nimmt. Denn als diese in eine andere Stadt zieht (VN, 7), beschließt "Dante" zunächst ein Klagelied für sie zu schreiben, damit niemand skeptisch werden würde: "E pensando che se de la sua partita io non parlasse alquanto dolotosamente, le persone sarebbero accorte più tosto de lo mio nascondere, [...]" (VN, 7)[17] Nach dem Tod einer jungen Dame (VN, 8), beschließt "Dante" in die Gegend zu reisen, in der sich die "gentile donna" nun befindet. Doch unterwegs erscheint ihm ein Geist, verkleidet als Pilgrim, der "Dante" den Rat gibt, sich eine neue Dame als Vorwand zu suchen (vgl. VN, 9). Doch diese neue simulierte Liebe hat Folgen. Beatrice, ebenso wie die anderen Leute der Stadt, vernehmen den Wechsel der Damen von "Dante" und verweigern ihm daraufhin ihren Gruß (VN, 10). "Dante" verfällt in einen Zustand der schmerzhaften Traurigkeit, zieht sich in die Einsamkeit (in seine Kammer) zurück und weint und klagt (VN, 12). In dieser Kammer erscheint "Dante" erneut Amor im Traum, der ihm die Situation erklärt und ihm rät, Beatrice "certe parole per rima" (VN, 12) zu dichten, um ihr so die Wahrheit über seinen Gefühlszustand mitzuteilen, woraufhin Dante die Ballada "Ballata, i'voi" dichtet.
Die simulierte Liebe bezieht sich zwar auf zwei, wenn man die Serventese aus Kapitel 6 nicht beachtet, weitere Damen, dennoch bleiben diese über die Handlung hinweg identitätslos. Man erfährt weder den Namen, noch sonst ein Detail; ausgenommen die Existenz. Diese lässt sich aber nur auf die erste "donna gentile" beziehen, die zweite trifft "Dante" nämlich gar nicht explizit in der Vita Nova. Da die Lieder, die "Dante" verfasst, eigentlich für Beatrice gedacht sind und nur zum Schein einer anderen gelten, nimmt im Schaubild sowohl Intensität als auch Dauer ab.
Die Phase der simulierten Liebe endet mit der erneuten Vision Amors. "Dante" versteckt seine Liebe zu Beatrice nicht mehr hinter anderen Damen. Er ist aber auch noch nicht in der Lage, seine Gefühle zu verstehen. Von Kapitel 13 bis 21 stellt "Dante" sich und seinen Freunden vermehrt die Frage, was eigentlich Liebe sei. Für ihn ist dieser Zustand noch nicht greifbar. Er verfällt häufig in Verwirrung, in einen Zwiespalt zwischen Vernunft und Liebe (vgl. v.a. VN, 15), ebenso wie in einen Zwiespalt der Vermittlung der Liebe: Auf der einen Seite seinen persönlichen Schmerz in einem Klagelied zu verfassen, auf der anderen Seite ohne sich selbst in den Vordergrund zu stellen, seine Herrin zu loben (vgl. VN, 18). Nach einer erneuten Vision Amors beschließt Dante Folgendes:

Italienisch Deutsche Übersetzung
E però propuosi di prendere par matera de lo mio parlare sempre mai quello che fosse loda di questa gentilissima; e pensando milto a ciò, parearni avere impresa troppo alta matera quanto a me, si che non ardia di cominciare; e cosi dimorai alquanti di con disiderio di dire e con paura di cominciare. (VN, 18) Und darum nahm ich mir vor, zum Gegenstand meiner Rede immerdar nur das zu wählen, was Lobpreis jener Holdseligen wäre; und als ich eingehend darüber nachdachte, schien mir, ich hätte mir einen zu hohen Gegenstand vorgenommen, so daß ich nicht anzufangen wagte. Und so verweilte ich einige Tage, voll Sehnsucht zu reden und voller Furcht zu beginnen.

Die philosophische Liebe

Dante befindet sich in einem Zustand der Verwirrung und des Zwiespalts. Er hat den Drang zu schreiben, seiner Liebe somit Ausdruck zu verleihen, gleichzeitig aber auch Furcht zu beginnen. Nach dem Tod von Beatrices Vater (VN, 22) bekommt er aufgrund einer Krankheit Wahnvorstellungen vom Tode Beatrices. Dieser Traum ist "si orte la errone fantasia, che mi mostrò questa donna morta [...]"[18] (VN, 23). Im Fieberwahn ruft "Dante" in der fiktiven Realität daher oft den Namen Beatrices aus. Als er zu sich kommt, erschrickt "Dante" selbst darüber, den Namen seiner Geliebten verraten zu haben, was zu "Dantes" Glück niemand verstanden hat. Diese Sequenz zeigt, dass Beatrice zu diesem Zeitpunkt immer noch eine geheime Liebe ist.
Im Folgenden fügt Dante ein Kapitel in die Vita Nova ein, in dem er ausgiebig seine Definition der "Liebe" erläutert.[19] Diese Erläuterung mündet beinahe schon in eine Art Rechtfertigung, warum er Amor als die personifizierte Liebe einsetzt. Er begründet sein Tun mit Verweisen auf antike Autoren wie Vergil, Lucan, Horaz oder Ovid (vgl. VN, 25). Er bekennt am Schluss des Kapitels:

Italienisch Deutsche Übersetzung
E per questo puete essere manifesto a chi dubita il alcuna parte di questo mio libello. E acciò che non ne pigli alcuna baldanza persona grossa, dico che né li poete parlavano cosi sanza ragione, né quelli che rimano deono parlare cosi non avendo alcuno ragionamento in loro di quello che dicono; però che grande vergogna sarebbe a colui che rimasse cose sotto vesta di figura o di colore rettorico, e poscia, domandato, non spaerre denudare le sue parole da cotale vesta, in guisa che avessero verace intendimento. E questo mio primo amico e io sapemo bene di quelli che cosi rimano stoltamente. (VN, 25) Damit sich aber kein Stümper aufgrund des Gesagten Dreistigkeiten herausnehme, sage ich, daß weder die Poeten so ohne Bedeutung daherredeten, noch jene, die in Reimen dichten, so reden sollten, wenn sie nicht eine bestimmte Bedeutung dessen, was sie sagen, im Sinne haben; wäre es doch eine großem Schande für den, der unter dem Gewande einer Redefigur oder eines rhetorischen Schmucks in Reimen dichtete, und, wenn er dann gefragt würde, seine Worte von solchem Gewande nicht zu entblößen wüßte, auf die Art und Weise, daß ihr wahrhaftiger Sinn erkenntlich würde. Denn der erste unter meinen Freunden und ich, wir wissen recht gut von solchen, die derart dümmlich reimen.

Die Rechtfertigung, die Dante in Kapitel 25 durchführt, verdeutlicht stark die Philosophie Dantes. Auch zeigt das angefügt Zitat, welch hohen Stellenwert das allegorische Schreiben im dolce stil novo hat. Allegorisches Schreiben ist, wie im ersten Abschnitt bereits erläutert, das Verdecken einer Wahrheit durch eine schöne Lüge. Nicht nur die Liebe zu Beatrice wird indirekt erläutert, sondern auch der Tod Beatrices in Kapitel 28 bleibt hinter den Worten versteckt[20]:

Italienisch Deutsche Übersetzung
[...] quando lo segnore de la guistizia chiamose questa gentilissima a gloriare di quella regina benedetta virgo Maqria, lo cui nome fue in grandissima reverenzia ne le parole di questa Beatrice beata. (VN, 28) [...] als der Herr der Gerechtigkeit jene Holdselige einberief unter das Zeichen jener Königin der gebenedeiten Jungfrau Maria, deren Name in den Worten jener seligen Beseligerin [Beatrice] immer mit der tiefsten Ehrerbietung genannt worden war.

Interessanterweise kann man an dieser Stelle wieder die Distanz zwischen erzählendem und erzähltem Ich erkennen: Dante (!) erklärt, dass er nichts über den Tod Beatrices schreiben kann, weil das nicht zu seinem "presente proposito"[21] (VN, 23). "Dante" (!) versinkt in Trauer und Schmerz, klagt und fühlt sich so, als sei seine Seele zerstört (vgl. VN, 32), während Dante als Autor ohne solche Gefühle, beinahe schon unter Verwendung der ratio den Tod Beatrices an dem Zahlenmuster der 9 herleitet und interpretiert. Außerdem spricht in Kapitel 31 erneut die Erzählerinstanz in einer gewissen Art und Weise das Publikum direkt an, indem diese Instanz sich rechtfertigt, warum es sowohl die Volkssprache, als auch lateinische Ausdrücke in der Vita Nova verwendet.
Ein Jahr vergeht nun in der erzählten Welt, in der "Dante" weiterhin bestürzt über den Tod seiner Herrin ist. Doch mehr und mehr nimmt "Dante" eine Frau wahr, die ihn voller Mitleid anschaut (VN, 35). "Dante" stellt schließlich fest, dass, aufgrund der edlen und lieblich anzusehenden Frau, auch Mitleid Teil der edelsten Liebe sein muss (vgl. VN, 35). Das Mitleid hatte er vorher noch abgelehnt (vgl. VN, 13). Es ist also deutlich eine Veränderung "Dantes" zu erkennen, die sich auf seine Sichtweise von Emotionen bezieht. Aufgrund dieser neuen Dame denkt "Dante" oftmals an seine Herrin Beatrice:

Italienisch Deutsche Übersetzung
Avvenne poi che là ovunque questa donna mi vedea, si si facea d'una vista pietosa e d'un colore pallido quasi come d'amore; onde molte fiate min ricordaa de la mia nobilissima donna, che di simile colore si mostrava tuttavia. (VN, 36) Es geschah nun, daß, wo immer diese Frau mich erblickte, sie einen mitleidvollen Ausdruck annahm und so bleiche Farbe, beinahe wie aus Liebe, weswegen ich micht oftmals meiner edelsten Herrin erinnerte, welche sich immer mit einer ähnlichen Farbe gezeigt hatte.

"Dante" denkt von nun an oft an diese Frau. Sie könne seiner Meinung nach von der Liebe geschickt worden sein, um ihn zu trösten (vgl. VN, 38). Deshalb verfasst "Dante" ein Sonett ("Gentil pensero", VN, 38) für die Dame. Dieses Sonett ist für diese neue Form der Liebe, die philospohische, von großer Bedeutung:

Italienisch Deutsche Übersetzung
1 Gentil pensero che parla di vui Ein holder Gedanke, der von euch spricht
sen vene a dimorar meco sovente, kommt oft, bei mir zu weilen
e ragiona d'amor si dolcemente, und spricht so süß von Liebe,
che face consentir lo core in lui. daß er das Herz dazu bewegt, ihm zuzustimmen.
5 L'anima dice al cor: »Chi è costui, Die Seele spricht zum Herzen: » Wer ist dies,
che vene a consolar la nostra mente, der da kommt, um unsern Geist zu trösten,
ed è la sua vertù tanto possente, und ist denn seine Kraft so mächtig,
ch'altro penser non lascia star con nui?« daß er keinen anderen Gedanken bei uns zuläßt?«
Ei le risponde: »Oi anima pensosa, Es erwidert ihr: »O kummervolle Seele,
10 questi è uno spiritel novo d'amore, dies ist ein neues Geisterchen der Liebe,
che reca innanzi me li suoi desiri; welches mir seine Wünsche vorträgt,
e la sua vita, e tutto 'l suo valore, und sein Leben sowie all sein Vermögen
mosse de li occhi di quella pietosa entsprang den Augen jener Mitleidvollen,
che si turbava de' nostri martiri.« die Bestürzung zeigt über unsre Qualen.«

Die Teilung zwischen "Herz" und "Seele" wird in diesem Sonett deutlich. Das Herz stellt das Begehren dar, wohingegen die Seele für die Vernunft steht (vgl. VN, 38). Die personifizierten "Sinne" führen ein Gespräch und zeigen sich nicht gegensätzlich[22], sondern einheitlich: "che face [=pensero (Vernunft)] consentir lo core in lui" (Z. 4). Nach aristotelischen Grundlagen ist die Seele an sich aufgeteilt in Wille, Ratio, Hoffnung und Emotionen[23]. Während Ratio die Vernunft ist und der Seele in dem Sonett zugeordnet werden kann, stellen Wille, Hoffnung und Emotion Teile des Begehrens, also des Herzens dar. Die Einheitlichkeit der Seele wird durch das Sonett hervorgehoben.
Durch dieses innere Gespräch erkennt "Dante" schließlich in Kapitel 39 seine Liebe zu Beatrice wieder. Ihm erscheint in einer inneren Vision Beatrice in dem blutroten Gewand, in dem er sie zum ersten Mal gesehen hat (vgl. VN, 39). Er bezeichnet die Zuneigung, die er für die bleiche Dame empfindet, zwar als "desalerio [a pentere]"[24] (VN, 39), dennoch hat er durch sie wieder zu Beatrice gefunden. Da es sich um einen reflexiven Erkenntisprozess handelt, soll nach Klemp diese neue Dame mit "Filosofia"[Klemp 1984: 185] bezeichnet werden. Auch auf dieser Ebene besteht eine direkte Verbindung zwischen der Liebesebene, der Philosophie, die als Vermittlung zwischen der simulierten und der anagogischen Ebene gilt[Klemp 1984: 191][25], und der Liebesfigur, die die Philosophie verkörpert, Filosofia.

Die göttliche Liebe

Diese Ebene beruht auf den Erfahrungen, die "Dante" vorher gemacht hat. Dennoch erreicht "Dante" diese Ebene der Liebe in der Vita Nova nicht, denn in den letzten Kapiteln (41 und 42) reicht er nicht an die göttliche Beatrice heran. Er erkennt zwar, dass er über Gott zu seiner Geliebten gelangt, gibt aber auch seine Versuche, so über sie zu schreiben, wie es ihr gebühre, auf:

Italienisch Deutsche Übersetzung
Appresso questo sonetto apparve a me una mirabile visione, ne la quale io vidi cose che mi fecero proporre di non dire più di cuesta benedetta infino a tanto che io potesse più degnamente trattare di lei. E di venire a ciò io studio quanto posso, si com'ella sae veracemente. Si che, si piacere sarà di olui a cui tutte le cose vivono, che la mia vita duri per alquanti anni, io spero di dicer di lei quello che mai non fue detto d'alcuna. E poi piaccia a colui che è sire de la cortesia, che la mia anima se ne possa gire a vedere la gloria de la sua donna, cioè di quella benedetta Beatrice, la quale glorisamente mira ne la faccia di colui qui est per omnia secule benedictus. (VN, 42) Nach diesem Sonett erschien mir eine wunderbare Vision, in der ich Dinge sah, die mich den Vorsatz fassen ließen, nichts mehr über diese Gebenedeite zu sagen, bis ich würdiger von ihr zu handeln in der Lage wäre. Und um dahin zu gelangen, mühe ich mich, so sehr ich kann, wie sie wahrhaftig weiß. So daß ich, wenn es nach dem Gefallen Dessen, durch den alle Dinge leben, sein sollte, daß mein Leben noch ein paar Jahre andauert, hoffe, von ihr zu sagen, was von keiner je zuvor gesagt worden. Und dann möge es Dem, der der Herr der Höflichkeit ist, gefallen, daß meine Seele sich aufmachen dürfen die Herrlichkeit ihrer Herrin zu schauen, nämlich jener gebenedeiten Beatrice, die verklärt ins Angesicht Dessen schaut, qui est per omnia secula benedictus [der gepriesen ist in alle Ewigkeit].

Im vorigen Kapitel 41 erreicht "Dante" am stärksten die göttliche Beatrice. Sein Seufzer gelangt zu "[...] una donna, che riceve onore, / e luce si, che per lo suo splendore / lo peregrino spirito la mira." (VN, 41, V. 6ff.)[26] Doch im Gegensatz zu seinem Seufzer versteht "Dante" die berichtenden Worte nicht. Erst als der Seufzer Beatrice beim Namen nennt, sie dadurch individualisiert wird, kann "Dante" ihn verstehen. Und genau da liegt das Problem, denn die Wahrnehmung der transzendenten Liebe soll gerade nicht über Individualisierung erfolgen. Es muss über Worte laufen, die zu schreiben Dante noch nicht in der Lage ist. Daher gibt er auch am Ende das Schreiben auf:

We are not given a description of the "mirabile visione." We are simply told that the mind cannot grasp it nor words yet tell of it. This is the jouney of the poetic imagination, the conviction of poetry's absolute privilege to be the profound means of exploring the world of the dead and bring them back t life. The Vita Nuova begins by resuscitating the images of memory, as if memory were the path to essences, ans ends with a visionary venture into the future. The future, earlier, was at one with death; now it is the project to write.[Mazzotta 2003: 103.][27]

Die Vita Nova bricht mit diesem letzten Kapitel abrupt ab - und damit bleibt auch die Frage, ob ´"Dante" Beatrice auf der anagogischen Ebene lieben kann, ungeklärt. Zwar wird deutlich, dass "Dante" nun die Erkenntnis hat, dass die anagogische Liebe zu Beatrice einzig über Gott geschaffen werden kann (vgl. VN, 42), dennoch kommt es auch in den letzten Kapiteln weder zu einer Begegnung, noch zu einer größeren Auseinandersetzung mit dieser neuen Form der Liebe:

In the openness of the Vita Nuova's end, he ["Dante"] also gives up the thought of the poet who passively waits for inspiration, and promises, on the contrary, to strive and study in order to write.[Mazzotta 2003: 103][28]

Es kann folglich weder dafür Stellung genommen werden, dass "Dante" die letzte Ebene nicht erreicht hat, aber auch nicht dafür, dass er sie erreicht hätte. "Dante" befindet sich am Ende der Vita Nova auf einer Ebene zwischen der philosophischen und der anagogischen. Er sieht die göttliche Beatrice indirekt hinter dem Leuchten und ihrem Namen[Klemp 1984: 192] - also noch empirisch wahrnehmbar, ähnlich wie die Pilger, "[who] cannot see the real Christ, so they turn to an image. [...] [T]hey must approach the highest love indirectly."[Klemp 1984: 192]. Von daher wird letztere in den folgenden Unterschungen keine weitere Beachtung mehr gewidmet. Die philosophische Ebene ist die höchste, die "Dante" in der Vita Nova vollständig erreicht. Verdeutlicht wird dies in den Schaubildern anhand der Fragezeichen, der andersfarbigen Unterlegung und der Verschwimmung der Pfeilspitze auf Höhe der vierten Ebene.

Äquivalenz auf inhaltlicher Ebene

Die Zusammenführung beider Kategorien

Es lassen sich aus dem vorherigen Abschnitt nun vier Ebenen der Liebe feststellen. Diese Ebenen sind unmittelbar mit den Figuren der Liebe verbunden. So steht die irdische Liebe in Verbindung mit der realen Beatrice, die simulierte Liebe in Verbindung mit den Schutzschilddamen, die philosophische Liebe in Verbindung mit der bleichen Dame, die von Klemp als "Filosofia" bezeichnet wird und die göttliche Liebe in Verbindung mit der verstorbenen, vergöttlichten Beatrice, wobei diese in der Vita Nova nicht erreicht, sondern nur angedeutet wird. Diese Verbindungen werden im linken Schaubild dargstellt.
Im Folgenden soll nun die Verbindung der ersten drei Ebenen zwischen der "Allegorie" Dantes und der Vita Nova hergestellt und untersucht werden.

Funktion der Ebenen der Liebe, der Figuren und der "Allegorie"

Zusammenführung aller Ebenen nach Klemp (1984). Gilt aus Ausgangsmodell.

Dante selbst fordert für die Auslegung eines Textes den vierfachen, oben beschriebenen Schriftsinn. Dieser unterteilt sich in die buchstäbliche, allegorische, moralische und anagogische Ebene. Außerdem konnte bereits eine weitere vierfache Abstufung in Dantes Vita Nova herausgearbeitet werden: Die Ebenen der Liebe unterteilen sich in die irdische, simulierte, philosophische und göttliche Liebe, die unmittelbar mit den Figuren der Liebe, der realen Beatrice, den Schutzschilddamen, Filosofia und der göttlichen Beatrice verbunden sind. Klemp merkt bereits an, dass Dante "a revisionist author [ist] whose later works reinterpret earlier ones."[Klemp 1984: 185] Er benennt schließlich Dantes Convivio als dieses Werk. Aufgrund dieser Tatsache ist es wohl kaum dem Zufall geschuldet, dass sich in der Vita Nova der vierfache Schriftsinn wiederfindet. Es soll nunmehr der Zusammenhang der einzelnen Ebenen erläutert und gegebenenfalls Probleme aufgezeigt werden. Das Schaubild rechts verdeutlicht die Verbindung der vier Ebenen der Vita Nova mit der "Allegorie" Dantes.


Die buchstäbliche Ebene: Ausgangspunkt für die Liebe?

Dante nennt den "buchstäblichen Sinn" als Ausgangspunkt für die anderen drei Ebenen. Diese Ebene, die nur die Wörter an sich betrachtet, gilt als obligatorische Basis. Äquivalent zur Vita Nova hätten wir eine Verbindung mit der irdischen Liebe und der realen Beatrice. Diese Verbindung wäre Ausgangspunkt für die anderen drei Ebenen. Mit anderen Worten: Die Vita Nova braucht die irdische Liebe zur irdischen Beatrice um ...

  1. ... zur Ebene der simulierten Liebe zu gelangen;
  2. ... zur Ebene der philosophischen Liebe zu gelangen;
  3. ... zur Ebene der göttlichen Liebe zu gelangen.
Nach Klemp (1984)

Dem Ausgangsmodell zufolge gehen die Pfeile zu den nächsten Ebenen aber nur von dieser buchstäblichen Ebene aus. Bedeutet dies, dass der Liebende, in diesem Fall "Dante", jedesmal von eine höheren zur buchstäblichen Ebene zurückkehren muss um dann neu aufzusteigen? Dieser Prozess ist höchst komplex. Klemp schlägt den Übergang der Ebenen in Form von konzentrischen Kreisen vor:

No, we have instead learned that the pattern of the women in Dante’s life, like the pattern of fourfold allegorical interpretation, is arranged in concentric circles. Since the women offer different kind of love – simulated, earthly, philosophical, and divine – one layer of love leads to the next only when they are placed in their proper order.[Klemp 1984: 187]

Klemp benutzt ein modifiziertes Modell entspreched der Abbildung links. Die einzelnen Übergänge von einer höheren Ebene aus wären so auch möglich und die buchstäbliche Ebene (grau unterlegt) bildet immer noch die Basis. Nur die äquivalenten Verbindungen wären so schlecht darstellbar. Das Ausgangsmodell wird daher weiter beibehalten.
Wie werden nun die Übergänge in der Vita Nova dargestellt? Die Erzählung beginnt tatsächlich mit der irdischen Liebe zur realen Beatrice. Aus ihr, genauer aus dem irdischen Gruß der realen Beatrice, folgt die Vision aus der wiederum die simulierte Liebe "Dantes" folgt.


Die allegorische Ebene: Verbergen der Liebe durch eine "schöne Lüge"?

Den Eigenschaften der Allegorie zufolge müsste sich die Wahrheit nun unter einer "schönen Lüge"[Convivio 1996: 9] verbergen. Die Wahrheit ist in der Vita Nova "Dantes" Liebe zu Beatrice. Die schöne Lüge ist die "gentile donna di molto piacevole aspetto" (VN, 5). Die Schutzschilddame kann folglich als "schön" bezeichnet werden. Das Verbergen der Wahrheit durch die schöne Lüge wird auch erfüllt: "Dante" widmet der "gentile donna" zwar einige Lieder, veröffentlicht diese aber nicht in der Vita Nova, außer "salvo che alcuna cosa ne scriverò che pare sia loda di lei [Beatrice]" (VN, 5)[29]. Auch die Serventes (VN, 6) verbirgt den Namen der Beatrice unter den 60 ausgewählten Namen der "le più belle donne de la cittade"[30] (VN, 6). Das Konzept des Verbergens der Wahrheit unter einer schönen Lüge findet sich auch in diesem Beispiel wieder.
Die zweite Schutzschilddame hingegen wird kaum thematisiert. Der Leser erfährt nur, dass "Dante" von Amor auf sie verwiesen wird und schließlich, dass nach kurzer Zeit, in der "Dante" sich ihr offenbart hat, die Leute anfingen, unschicklich bzw. unhöflich darüber zu reden (vgl. VN, 10). Dennoch ist diese zweite Dame wichtig, denn durch sie verweigert Beatrice nun "Dante" ihren Gruß. Amor gestattet ihm daraufhin wieder, Beatrice seine Liebe in Reimen zu offenbaren, ohne sich künftig der simulierten Liebe zu bedienen.
Die Funktion der Schutzschilddamen liegt also offensichtlich darin, die Wahrheit zu verbergen. Die Wahrheit ist die Liebe "Dantes" zu Beatrice. Außerdem sollen sie "Dante" durch das Verbergen schützen, denn durch dezente, beinahe schon pseudocharakteristische Beschreibungen, dienen sie als Schutzschild vor Beatrice. Deutlich wird das anhand des Grußes (VN, 3). Die Macht des Grußes, bzw. der Liebe Beatrices wirkte so mächtig auf "Dante", dass dieser sich zurückziehen musste. Erst als Beatrice ihm den Gruß aus Reaktion auf die Schutzschilddamen verweigert, kann "Dante" sich ihr wieder offenbaren. Es stellt sich nun eine wichtige Frage: Kehrt "Dante" zurück zur buchstäblichen Ebene oder springt er bereits auf die philosophische Ebene? "Dante" wird im Folgenden bereits mit quälenden Gedanken über den wahren Sinn von Liebe gequält, findet aber auch über seine Freunde keine Antworten auf seine neuen Fragen. Er benötigt erst Filosofia um Antworten zu finden. Diese erscheint aber erst kurz vor Ende der Vita Nova, lange Zeit nach Beatrices Tod. Letztere ist zum Zeitpunkt der Schutzschilddamen aber noch am Leben und "Dante", auch wenn unsicher und zögernd, verfasst für seine Geliebte immer noch Sonette, z. B. in Kapitel 14 nach der Hochzeitsszene: "[...] e propuosile di dire desiderando che venissero per aventura ne la sue audienza." (VN, 14)[31] Es wurde bereits erwähnt, dass "Dante" sich wünscht, für Beatrice zu schreiben, sich aber gleichzeitig auch fürchtet, zu beginnen. Es ist daher sicherlich schwierig, dieses Level von "Dantes" Entwicklung genau einer Ebene des Modells zuzuordnen. Die Furcht, sich an die reale Beatrice, an seine irdische Liebe zu wenden, beruht auf dem "Noch-nicht-Wissen", was Liebe ist. Dieses Wissen bekommt er durch Filosofia erst vermittelt. Der Übergang zur philosophischen Ebene liegt also zwischen der buchstäblichen und der moralischen Ebene, welche nicht die allegorische ist. Da die allegorische Ebene verlassen wurde und "Dante" sich auf einer Zwischenebene befindet, soll im Folgenden dafür plädiert werden, dass diese Ebene mehr mit der buchstäblichen Ebene verbunden ist, als mit der höheren, der moralischen. Dies geht auch dadurch hervor, dass der Wunsch zu schreiben besteht und "Dante" ebenfalls Sonette verfasst[32].
Zusammengefasst läss sich also sagen, dass "Dante" die buchstäbliche Ebene zugunsten der allegorischen Ebene verlassen hat. Nach der simulierten Liebe kehrt er nun zur buchstäblichen, zur irdischen Liebe zur realen Beatrice zurück. Aus den Erfahrungen hat "Dante" dennoch Fragen entwickelt, die ihn im Folgenden beschäftigen.


Die moralische Ebene: Entwicklungsprozess, der zur Erkenntnis über die wahre Liebe wird?

Nach seiner Rückkehr zur buchstäblichen Ebene befindet sich "Dante" nun in einem Zustand der Verwirrung. Er weiß nicht, was wahre Liebe ist und wie sich diese äußert. Auch seine Freunde können ihm bei diesen Fragen nicht helfen. Des Weiteren wird "Dante" nun mit dem Tod konfrontiert: Zunächst verstirbt Beatrices Vater, anschließend sieht "Dante" in Wahnvorstellungen die tote Beatrice. Er erkennt, dass sowohl sie als auch er sterblich sind und in Kapitel 28 schließlich scheidet auch die irdische Beatrice von dieser Welt. Dante versucht zunächst den Tod Beatrices rational über die Zahl Neun zu erläutern (VN, 29), versinkt in den folgenden Kapiteln dennoch in Trauer und ist überwältigt von seinem Schmerz. Interessant sind die Kapitel 32 und 33. Hier wird "Dante" von einem Verwandten Beatrices darum gebeten, ein Sonett für eine kürzlich verstorbene Frau zu dichten. "Dante" willigt ein und versucht zunächst, dieses Sonett nach dem Muster der allegorischen Ebene zu dichten:

Italienisch Deutsche Übersetzung
Onde poi, pensando a cio, propuosi die fare uno sonetto, nel quale mi lamentasse alquanto, e di darlo a questo mio amico, acciò che paresse che per lui l'avessi fatto; e dissi allora questo sonetto, che comincia: Venite a intender li sospiri miei. [...] / Poi che detto ei questo sonetto, pensandomi chi questi era a cui lo intenda dare quasi come per lui fatto, vidi che povero mi parea lo servigio e nudo a cosi distretta persona di questa gtloriosa. E però, anzi ch'io li dessi questo soprascritto sonetto, si dissi due stanzie d'una canzone, l'una per costui veracemente, e l'altra per me, avvegna che paia l'una e altra per una persona detta. a chi non guarda sottilmente, ma chi sottilmente le mira vede bene che diverse persone parlano, acciò che l'una non chiama sua donna costei, e l'altra sì, come appare manifestamente. Questa canzone e questo soprascritto sonetto li diedi, dicendo io lui che solo fatto l'avea. (VN, 32f.) Als ich später hierüber nachdachte, nahm ich mir vor, ein Sonett zu schreiben, in welchem ich einige Klage zum Ausdruck brächte, und es diesem Freund von mir zu geben, damit es scheine, ich hätte es für ihn gemacht; und ich dichtete also dieses Sonett, das beginnt: Venite a intender li sospiri miei. [...] / Nachdem ich dieses Sonett gedichtet hatte und darüber nachdachte, wer derjenige war, dem ich es zu geben beabsichtigte, als wäre es für ihn gemacht, fand ich, daß mir der Dienst doch ärmlich und nackt erschien für eine Person, die jener Glorreichen so nahe verwandt war. Und bevor ich ihm das obenstehende Sonett übergab, verfaßte ich zwei Strophen einer Kanzone, die eine wirklich für ihn, die andere für mich, wenn auch demjenigen, der nicht genau hinsieht, die eine wie die andere im Namen ein und derselben Person gesagt scheinen; wer sie jedoch genau betrachtet, erkennt ohne weiteres, daß verschiedene Menschen sprechen, da nämlich der erstere die Frau darin nicht seine Herrin nennt, der andere aber wohl, wie sich unverkennbar zeigt. Diese Kanzone und das obenstehende Sonett gab ich ihm und sagte, daß ich beide für ihn allein verfaßt hätte.

"Dante" nimmt sich zunächst vor, ein Sonett zu schreiben, dass seine eigenen Empfindungen ausdrückt und es schließlich unter dem Deckmantel der Lüge weiterzugeben. Doch er erkennt ziemlich schnell, dass ein solches Schreiben "servigio e nudo" (VN, 33) sei. Für ihn existiert die allegorische Wahrheit hinter den Worten nicht mehr. Beatrice, die irdische, reale Wahrheit, ist tot, daher braucht "Dante" seine Liebe auch nicht mehr allegorisch zu verbergen. Aus den beiden Kanzonenstrophen geht schließlich hervor, dass er sich zu diesem Zeitpunkt immer noch in einer Übergangsphase befindet und die moralische Ebene noch nicht erreicht hat:

Italienisch Deutsche Übersetzung
[...]
veder la donna ond'io vo sì dolente,
tanto dolore intorno 'l cor m'assembra (VN, 33, V. 3f.)
[...]
perché 'l picere de la sua bieltate,
partendo sé da la nostra veduta,
divenne spirital bellezza grande,
che per lo cielo spande
luce d'amor, che li angeli saluta,
e lo intelletto loro alto, sottile
face maravigliar, si v'è gentile. (VN, 33, V. 20ff.)
[...]
daß ich nie mehr die Frau erblicken soll
derentwegen ich so traurig bin (VN, 33, V. 2f.)
[...]
dieweil der Liebreiz ihrer Schönheit,
als er sich unserem Blick entzog,
zu großatiger geistiger Schönheit wurde,
welche im Himmel ein Licht der Liebe
verbreitet, das die Engel grüßt,
und deren hohen, feinen Intellekt
zum Staunen bringt, so edel ist sie dort.

Klemp beschreibt diesen Übergang folgendermaßen:

Although the lover does not comprehend the spiritual significance of the eyes, a theme to be explored in the Convivio and Commedia,Beatrice is associated with heavenly beings throughout the Vita Nova. [...] He lacks an awareness of the corresponding levelsof allegory, the moral und anagogical senses, even though outside sources remind him of Beatrice's connections with the spiritual world.[Klemp 1984: 189f.]

In der Kanzone wird dieser Aspekt deutlich: "Dante" erkennt zwar, wie Klemp bemerkt, eine himmlische Ebene der Beatrice bzw. seiner Liebe, ist aber unfähig, diese zu verstehen. Die Schönheit Beatrices ist verschwunden, seitdem die reale Beatrice aus dem Leben geschieden ist - rein physikalisch kann er weder die reale, noch die göttliche Beatrice sehen. Diese Entwicklung, das göttliche Licht kosmologisch wahrnehmen zu können[Friedrich 1964: 61], soll nun durch Filosofia geschehen.
Sie erscheint ihm in Kapitel 35 und lässt "Dante" eine innere Auseinandersetzung mit Herz, Verstand und den Sinnen (vor allem den Augen) führen. Die Folge ist, dass ihm in Kapitel 39 eine Vision über Beatrice im Traum kommt und er von diesem Punkt an mit ganzem Herzen an seine Herrin denkt.
Nach Dantes "Allegorie" müsste es sich hierbei nun um den moralischen Sinn handeln, derjenige Sinn, der einen Nutzen zufolge hat. Dieser Sinn sollte nach dem Modell äquivalent zur Ebene der philosophischen Liebe und zur damit verbundenen Figur der Filosofia sein. Eine moralische Auslegung von Textpassagen ist natürlich generell subjektiv. Neben allgemeingültigen moralischen Regeln gibt es auch Normen, die von Mensch zu Mensch unterschiedlich stark gewichtet werden können. Der moralische Nutzen der Filosofia muss daher genau auf "Dante" angerechnet werden und nicht auf Dante als Autor. Klemp unterscheidet zu Beginn seiner Abhandlung zwar auch in Dante "as a lover ["Dante"] and as a writer [Dante]"[Klemp 1984: 186; Anmerkungen v.V.], er differenziert die beiden aber nicht[33].
Worin liegt nun dieser Nutzen, den "Dante" aus der philosophischen Liebe zieht? Zum einen ist es der Erkenntnisprozess an sich, der "Dante" nützt. Die Konfrontation mit dem Tod zeigt ihm zunächst, dass alles Leben auf der Welt sterblich ist. An diesem Punkt bleibt "Dante" schließlich stehen; er kann den nächsten Schritt nicht von alleine gehen bzw. verstehen. Dazu benötigt er die Hilfe von Filosofia, die als Mittlerin dient und ihn zu seiner Erkenntnis über die Unsterblichkeit nach dem Tode führt. Dante denkt ab dem Treffen mit der bleichen Dame intensiver an Beatrice. Im letzten Kapitel zeigt sich ein weiterer Erkenntnisschritt: "Dante" weiß, dass es ihm in seiner gegenwärtigen Situation nicht möglich ist, Beatrice gebührend zu huldigen. All diese Erkenntnisprozesse lassen "Dante" sich weiterentwickeln, um im letzten Schritt schließlich die anagogische Liebe zu verstehen.
Die Ebene der philosophischen Liebe ist demnach stark mit der Figur der Filosofia verbunden und zusätzlich äquivalent zum moralischen Sinn. "Dante" zieht einen Nutzen aus der Bekanntschaft mit der Dame, die die Philosophie verkörpert. Der Nutzen ist zunächst einmal - auf der inhaltlichen Ebene - wichtig für die Figur "Dante". Wir durchlaufen seinen Entwicklungsprozess in der Vita Nova. Natürlich beeinflusst der Nutzen auch Dante als Autor, der offenbar zeitlich später als seine Erlebnisse die Vita Nova verfasst hat [Wehle 1986: 16f]. Dennoch besteht weiterhin die Frage, ob der Autor Dante wirklich die Figur "Dante" ist. Die Gleichsetzung ist in dieser Hinsicht bereits schwierig nachzuvollziehen, da die Vita Nova streng genommen gar nicht vollendet ist. Dante setzt drei seiner geforderten Sinne in Verbindung mit der Entwicklung "Dantes" in der Erzählung, doch den letzten, entscheidenden Bezug lässt er offen: den anagogischen. Gerade dieser ist signifikant für den dolce stil novo[Friedrich 1964: 59]. Daher kann an dieser Stelle auch nicht eindeutig geklärt werden, wie "Dante" von der philosophischen auf die anagogische Ebene übergeht. Kehrt "Dante" nach der moralischen Eingebung zurück zur buchstäblichen, um dann zur anagogischen überzugehen, oder tut er dies direkt? Dadurch, dass "Dante" erst einmal nichts zu Beatrice schreiben möchte, ist die Beantwortung dieser Frage theoretisch gar nicht möglich.

Fazit

Der vierfache Schriftsinn, den Dante in seinem Convivio fordert, ist teilweise in der Vita Nova von ihm umgesetzt. Der buchstäbliche Sinn findet sich im Zusamenhang mit der irdischen Beatrice und der damit verbundenen Liebe wieder, der allegorische Sinn wird durch die Funktion der Schutzschilddamen dargestellt, ebenso wie die moralische Liebe durch Filosofia am Ende der Vita Nova verkörpert wird. Der anagogische Sinn kommt in der Vita Nova noch nicht vor. Höchstens wird dieser in den letzten Kapiteln durch eine erneute Vision und durch die Verweigerung "Dantes" über Beatrice zu schreiben, bevor er dazu besser imstande sei, angedeutet. Wie bereits erwähnt, handelt es sich bei der Vita Nova um Dantes Jugendwerk. Unabhängig davon, ob die erzählten Gegebenheiten tatsächlich so stattgefunden haben, endet die Erzählung vorzeitig beim Erreichen der moralischen Ebene. Mark Musa bezeichnet die Vita Nova als "an unfinished book"[Musa 1973: 167f]. Klemp zitiert in seinem Fazit am Ende ebenfalls Mark Musa, der da schreibt:

Of course, the Vita nuova offers more than a picture of the misguided love: there is also the glory of Beatrice, and the slowly-increasing ability of the lover to understand it - who must confess at the end, however, that he has not truly understood it.[Musa 1973: 171]

Auf der Stufe der Erkenntnis, dem moralischen Sinn, hat "Dante" erkannt, dass er in seinen jungen Jahren noch nicht in der Lage sei, gebührend über die göttliche Liebe zu Beatrice schreiben zu können. Auf dieser Ebene endet die Vita Nova. Eine Fortsetzung, d. h. auch die vollständige Verwendung des vierfachen Schriftsinns findet sich schließlich in Dantes wohl bekanntestem Werk, der Divina Commedia wieder. Da es sich der Forschung zufolge in der Divina Commedia um die gleiche Beatrice wie in der Vita Nova handelt[Friedrich 1964: 97], kann von einer Fortsetzung gesprochen werden. Natürlich ist die Divina Commedia nicht nur der letzte Schritt, der in der Vita Nova fehlt, sie ist verglichen mit dem Jugendwerk noch reicher an der differenzierenden Struktur des vierfachen Schriftsinns.
Die Vita Nova ist in diesem Sinn vielmehr die dafür notwendige Vorstufe. Anders als Klemp beschreibt Auerbach, dass die Vita Nova bereits eine "stufenweise Enthüllung der realen Wahrheit, des wahrhaft Gedachten und des wahrhaft Seienden [sei] - nichts Gemischtes, Zwitterhaftes, Konstruiertes, sondern die reale, sinnlich-vernünftige Synthesis der Vollkommenheit [=der Göttlichkeit]"[Auerbach 1969: 78f]. Genau dies sei der "Dantesche[] Wirklichkeitsbegriff, seine eigentliche Knospe"[Auerbach 1969: 79] und aus dieser Knospe kann sich letztlich die Blüte seines Gesamtwerks, die Divina Commedia entwickeln.

Literaturangaben

Primärliteratur

Zitierte Literatur:

  • Alighieri, Dante (1988): Vita Nova - Das Neue Leben. Übersetzt und kommentiert von Anna Coseriu und Ulrike Kunkel, München: dtv.

Weitere genutzte Ausgabe:

  • Alighieri, Dante (o.A.): Das neue Leben. Vita Nova. Aus dem Italienischen übersetzt von Hannelise Hinderberger, Zürich: Manesse.

Nachweise aus der Forschungsliteratur

  • [*Auerbach 1969] Auerbach, Erich (1969): Dante als Dichter der irdischen Welt. Berlin: de Gruyter.
  • [*Convivio 1996] Alighieri, Dante (1996): Das Gastmahl. Zweites Buch, übersetzt und kommentiert von Thomas Ricklin (Italienisch-Deutsch), Hamburg: Felix Meiner.
  • [*Elwert 1980]: Elwert, Wilhelm Theodor (1980): Die italienische Literatur des Mittelalters. Dante, Petrarca, Boccaccio, München: Francke.
  • [*Federn 1928]: Federn, Karl (1928): "Zur ersten Vision der Vita Nuova". In: Schneider, Friedrich (Hrsg.): Deutsches Dante-Jahrbuch. Zehnter Band, Weimar: Hermann Böhlhaus, 71-75.
  • [*Friedrich 1964]: Friedrich, Hugo (1964): Epochen der italienischen Lyrik. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann.
  • [*Klemp 1984] Klemp, Paul J. (1984): "The women in the middle. Layers of love in Dante’s Vita Nuova", in: Italica 61. O.A., 185-194.
  • [*Kraß 2006] Kraß, Andreas (2006): Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel, Tübingen/Basel: Francke.
  • [*Mazzotta 2003] Mazzotta, Giuseppe (2003): "The Language of Poetry in the Vita Nuova". In: Lansing, Richard (Hrsg.): Dante. The Critical Complex, New York / London: Routledge, 93-104.
  • [*Musa 1973] Musa, Mark (1973): Dante's Vita Nuova. A Translation and an Essay, Bloomington & London: Indiana University Press.
  • [*Theiler 1973] Theiler, Willy (übersetzt 41973): Aristoteles. Über die Seele, Berlin: Akademieverlag.
  • [*Wehle 1986] Wehle, Winfried (1986): Dichtung über Dichtung. Dantes 'Vita Nova': die Aufhebung des Minnesangs im Epos, München: Wilhelm Fink.

Anmerkungen

  1. Der Einfachheit halber wird beim Convivio auf das italienische Original verzichtet. Diese finden sich für Interessierte ebenfalls in der Ausgabe Ricklins: Das italienische Original befindet sich auf den Seiten mit gerader Seitenzahl, die deutsche Übersetzung auf den ungeraden Seiten.
  2. Gemeint ist genauer die Realität in der fiktiv erzählten Welt.
  3. Diese Bezeichnung ist nach Klemp[Klemp 1984] übernommen. Er bezeichnet die "Schutzschilddamen ursprünglich als "screen-ladies"[Klemp 1984: 186].
  4. Klemp zählt die vier zentralen Damen leider in einer falschen Reihenfolge auf: "the screen-ladies, the mortal Beatrice, Filosofia, and the spiritual Beatrice." (S. 186). Wie in diesem Artikel gezeigt werden soll, beginnt die Vita Nova unmittelbar mit der realen Beatrice und damit verbunden mit der irdischen Liebe. Klemp nimmt nicht eindeutig zur Frage, welche Reihenfolge nun tatsächlich in der Vita Nova dargestellt ist, Stellung. Er beginnt mit den "screen-ladies" und der daraus folgenden Vision, ignoriert aber, dass bereits vorher der Gruß sowohl real (in der fiktiven dargestellten Welt) als auch irdisch stattgefunden hat und die "screen-ladies" aus der Vision folgen. Er bezeichnet die Reihenfolge daher als "erratically" (186) und identifiziert die Vita Nova als eine Art Konstrukt, denn "Dante indicates that [...] he must first mislead us in order to help us discover the truth, and this explains much of his revisionism." (186) Der Frage, ob die Vita Nova ein konstruierter Text ist oder nicht, soll in diesem Artikel keine weitere Beachtung finden, da auch die Beantwortung dieser Frage nicht ohne sorgfältige Überlegungen und Begründungen ablaufen kann. Daher wird in diesem Artikel eine andere, inhaltlich orientierte Reihenfolge der Damen gewählt.
  5. Im Folgenden muss zwischen Dante als Autor (keine typologische Kennzeichnung) und "Dante" als Figur und Erzähler in der Vita Nova (gekennzeichnet durch Anführungsstriche) unterschieden werden.
  6. Zitiert wird nach dem unter der Primärliteratur aufgeführten Ausgabe mit der Sigle VN.
  7. "Von Stund an, sage ich, herrschte Amor über meine Seele [...]"
  8. "in die Einsamkeit eines meiner Zimmer"
  9. "alle Getreuen Amors"
  10. "Die wahre Deutung des besagten Traumes wurde damals von niemanden erkannt, aber jetzt ist sie auch den Einfältigsten klar." Interessant ist, dass Dante nicht genauer erwähnt, was diese Vision zu bedeuten hat. Das liegt daran, "daß diese erste Vision den ganzen Inhalt der Dichtung symbolisch enthält"[Federn 1928: 74]: Die Liebe, die "Dante" für Beatrice empfindet, die Liebe, die Beatrice hinnehmen muss und den frühen Tod Beatrices[Federn 1928: 74]. Hieraus lässt sich demnach schließen, dass Dante zu diesem Zeitpunkt bereits klar gewesen sein muss, was im Folgenden noch passieren wird. Es lässt sich hier also eine zeitliche wie auch psychische, im Sinne von gebildete, Distanz zwischen dem erlebenden "Dante" und dem verfassenden Dante erkennen.
  11. "bekleidet von der edelsten Farbe, die demütig und vornehm blutrot, umgürtet und geschmückt in der Art und Weise, wie es ihrem kindlichen Alter geziemte."
  12. "in reinsets Weiß gekleidet"
  13. "nackt, nur daß sie leicht eingehüllt schien in ein blutrotes Tuch"
  14. Auch wenn die Farben ebenso interessant zur Interpretatation dienen würden.
  15. "und mitten zwischen ihr [Beatrice] und mir ["Dante"], auf gerader Linie, saß eine edle Frau von äußerst gefälligem Aussehen"
  16. Diese Übersetzung ist in der Ausgabe des Manesse-Verlages zu finden (S. 11). In der dtv-Ausgabe lautet die Übersetzung: "einem die Wahrheit verbergenden Schirm" ("schermo de la veritade") (VN, 5).
  17. "Und weil ich bedachte, daß, wenn ich von ihrer Abreise nicht mit einigm Schmerz spräche, die Leute alsbald mein Verstecken entdeckt haben würden, [...]"
  18. "so machtvoll war die trügerische Einbildung, daß sie mir die Herrin als Tote vorführte [...]
  19. Diese Stelle wirkt wie eine inhaltliche Zäsur. Man erkennt Dante als Autor der Vita Nova, der sich nicht mit den inhaltlichen Aspekten beschäftigt, sondern über die Art und Weise seines Schreibens reflektiert.
  20. Diese Indirektheit soll nicht als Allegorie aufgefasst werden. Die "Konstruktion" des Todes Beatrices ist dennoch interessant. Warum erklärt Dante zwei Kapitel vorher, was unter allegorischem Schreiben zu verstehen sei, und erwähnt den Tod Beatrices schließlich unter dem Deckmantel des gerechten Herrn? Eine interessante Hypothese, auf die an dieser Stelle leider nicht intensiver eingegangen werden kann.
  21. "gegenwärtigem Vorhaben", was wohl das unter Kapitel 1 erläuterte Motto Incipit vita noa sein muss. Siehe dazu auch Das Verhältnis von Prosa und Lyrik (Dante Alighieri, Vita Nova).
  22. Das Herz begehrt, aber die Vernunft hält den Menschen zurück
  23. Aristoteles erörtert dies in seiner philosophischen Schrift über die Seele. Er nennt es ein Gemisch, eine Harmonie[Theiler 1973: 16] bzw. ein Gemisch[Theiler 1973:62] aus den Wahrnehmungen und Empfindungen des Menschen. Vor allem aus dem dritten Buch[Theiler 1973: 49-70] und den zugehörigen Erläuterungen lassen sich die vier Bestandteile herauskristallisieren.
  24. "Begehren zu bereuen"
  25. Klemps ursprüngliche Bezeichnung lautet "intermediary".
  26. "[...] eine Frau, die Ehrerbietung empfängt / und solches Licht, daß durch ihr Leuchten / der pilgernde Geist sie schaut."
  27. Mit "the project to write" in der Zukunft meint Mazzotta bestimmt, da er sich auf das letzte Kapitel bezieht, "Dantes" erwähnte Bemühungen (vgl. VN, 42). Da "Dante" nicht sagt, wie genau seine Bemühungen aussehen werden, ist das Schreiben eine reine, schlüssige Interpretation Mazzottas, wenn auch das Schreiben nicht unbedingt das einzige sein muss, was "Dante" auf dem Weg zur transzendenten Wahrnehmung der Liebe behilflich sein kann. Siehe dazu auch Die "Vita Nova" als Prosimetrum (Dante Alighieri, Vita Nova).
  28. Auch hier interpretiert Mazzotta wieder das Schreiben in "Dantes" erwähnten Bemühungen, s. ebd.
  29. "bis auf einige, welche ich davon niederschreiben werde, da sie offensichtlich ihr [Beatrice] zum Lobe sind."
  30. "der schönsten Frauen der Stadt"
  31. "[...] und ich beschloß, sie zu dichten, im Wunsch, sie möchten durch Zufall ihr zu Gehör kommen."
  32. Z.B. in Kapitel 14 das Sonett "Con l'altre".
  33. Genauer heißt es bei Klemp: "Dante indicates that, as a lover and as a writer, he must [...]" [Klemp 1984: 186]. Es hat bei Klemp vielmehr den Anschein, als würde er zwar diese Unterscheidung kennen, sie im Folgenden aber missachten. Für Klemp ist die Vita Nova ein gestellter, konstruierter Text, in dem sich ein Autor selbst darstellt. Aber genau an diesem Punkt liegt das Problem: Woher weiß Klemp, was er nicht erwähnt, dass "Dante" tatsächlich auch Dante ist? Einen Autor mit seiner Hauptfigur gleichzusetzen ist nicht unproblematisch. Auch die restliche Forschung verweigert diesen Schritt: "Aber es ist das imaginäre Ich, das allein in solchem Dichten sprechen darf; mit dem empirischen Dante hat es wenig zu tun."[Friedrich 1964: 95]. Siehe hierzu auch [LINK]. In diesem Artikel soll daher die Unterscheidung in "Dante" und Dante beibehalten werden. Sollten Thesen Klemps, die den Sachverhalt nicht differenziert betrachten, Probleme bei der Interpretation verursachen, wird explizit darauf verwiesen.