Individualität und Rollenspiel: Die Mehrfachkodierungen des Ichs (Dante Alighieri, Vita nova)
Das Subjekt spielt in Dantes Werk Vita nova eine eminente Rolle. Dies verdeutlicht etwa die Tatsache, dass im Mittelpunkt ein mehrfach kodiertes Ich steht, das in verschiedene Rollen schlüpft. Welche Ich-Entwürfe präsentiert Dante und welche Schwierigkeiten ergeben sich, wenn sie sich in einem Namen zu Wort melden?[1]
Ich-Entwürfe Dantes in der Vita nova
Autor-Ich
Dem mittelalterlichen Dichter kam ein anderer Status zu als dem neuzeitlichen Autor: Mittelalterliche Autoren waren nicht autonom. Meist arbeiteten sie im Auftrag und im Austausch mit dem Publikum, standen in Abhängigkeit zu Auftraggebern. "Im Mittelalter war volkssprachige Literatur noch kein subjektiv legitimiertes und individuell gehandhabtes Instrument der Welt- und Selbstdeutung." [Kartschoke 2011: 64] Die Verfasser der Texte präsentierten sich vielmehr als Medium der Traditionen. Dies war auch der Grund für ihr anonymes Schreiben. Gegen 1170 aber spricht der Bearbeiter des Rolandlieds erstmals von sich selbst als Autor: "Ich heiße Roland." Dennoch spricht auch 30 Jahre später der Prolog zum Armen Heinrich so von seinem Verfasser: "Der hieß Hartmann und war Dienstmann zu Aue." Erst im frühen 13. Jahrhundert erlebt das Autorbewusstsein einen Höhepunkt. Wolfram von Eschenbach "tritt als dezidiertes Ich vor sein Publikum und nennt seinen Namen [...]: Ich bin Wolfram von Eschenbach und verstehe, Lieder zu machen [...]". [Kartschoke 2011: ?]
Beim Autor des Werkes Vita nova handelt es sich um den historischen Dante Alighieri, der die Liebe des Protagonisten "Dante" zu Beatrice beschreibt. Dante wechselt in seinem Werk zwischen Prosa und Lyrik, letztere in Form von Sonetten und Kanzonen. Michael Schwarze greift in seinem Aufsatz den Begriff "Organisationszentrum der Darstellung" auf. Da er zusätzlich dem Ich die Rollen des Protagonisten und des Sprechers zuweist, könnte das "Organisationszentrum der Darstellung" auf den Autor bezogen werden. Als Organisator ist es dem Autor möglich, verschiedene Rollen zu vergeben, den Sprecher vom Protagonisten zu unterscheiden oder sie in einer Person zu vereinen. Die Frage der Fiktionalität des Werkes ist bis heute nicht vollständig geklärt und wirft daher immer wieder Diskussionen nach dem autobiographischen Charakter der Handlung auf. Wenn der Autor Dante Alighieri tatsächlich Wahrheitsanspruch auf dieses Werk erhebt, dann wäre es wahrscheinlich, dass es sich bei Autor-Ich, Sprecher-Ich und Protagonisten-Ich um dieselbe Person handelt. Als autobiographischer Autor wäre Dante Alighieri zur gleichen Zeit auch Sprecher und Protagonist, da die Ich-Instanz "Dante" und der Autor Dante somit identisch wären. Die These, die Vita nova als Autobiographie auszulegen, hat bis zum heutigen Stand der Forschung keine Beweise gefunden, die den autobiographischen Charakter zweifelsfrei darlegen könnten. Wilhelm Theodor Elwert stützt dies darauf, dass "[...] Dante [...]absichtsvoll alles allzu Wirklichkeitsnahe fortgelassen [hat], die Namen der Frauen und der Freunde, den Namen der Stadt und sonstige Ortsangaben."[Elwert 1980: 106]
Sprecher-Ich
In einer Ich-Erzählung sind Erzähler und Protagonist der Handlung meist, aber nicht immer, identisch. Oftmals ist das erzählende Ich reifer und erfahrener als das erlebende Ich, dennoch handelt es sich um ein und dieselbe Person.
Dante fasste die erzählenden, erklärenden und reflektierenden Partien in seinem Werk Vita nova in Prosa ab. Das sich selbst thematisierende Ich spricht mit den "Worten eines Liebenden, beklagt seine Lage, beobachtet sein Leiden, preist sein Glück und bekennt sich vor der Welt zu seiner Liebe und zu sich selbst." [Kartschoke 2011: ?] In die Ich-Erzählung Dantes sind Lieder und Gedichte eingebettet, die im Zusammenhang zweier aufeinanderfolgenden Minnebeziehungen stehen.
Protagonisten-Ich
Der Protagonist der Vita nova unterscheidet sich insofern vom Autor Dante Alighieri, als er von diesem erzeugt wurde und so lediglich als Figur des Werkes auftritt und nicht als außerliterarische Figur existiert. Durch den Protagonisten gibt der Autor seiner Geschichte eine Figur, welche stellvertretend die Hauptfigur Beatrice liebt und somit wiederum den verfassten Sonetten ein literarisches Autor-Ich verleiht. Diese Figur wird zum Subjekt des Textes geformt, mit dem Auftrag, der "Spiegelung individuell gemachter Erfahrung im Bewusstsein des Erzählenden" [Glauch 2010: 1] einen Körper zu geben. So erleichtert dieses Ich dem Rezipienten das Aufnehmen des Textes, da es seiner Vorstellung, seiner Phantasie, eine theoretisch erfahrende Figur bietet.
Schwierigkeiten aufgrund verschiedener Ich-Entwürfe
Die soeben behandelten Ich-Konzepte treten in der Vita nova nicht klar getrennt voneinander auf. So sieht sich der Lesende des Werkes gleichzeitig mit mehreren Ichs konfrontiert, was während des Lesens eine gewisse Verwirrung erzeugt.
Exkurs: Divina Commedia (Die göttliche Komödie)
Nach Michael Schwarze liegt auch im Werk Divina Commedia eine Autofiktion vor, die dem Ich mehrere Rollen zuweist. Das Werk Dantes wird gewissermaßen als Fortsetzung der "spirituellen Autobiografie"[Schwarze 2011: 2] Vita nova gesehen. Das Ich namens "Dante" berichtet davon, wie es "auf dem Weg durch die Hölle einem dunklen Wald von Verfehlungen entkam, wie es auf dem Gipfel des Fegefeuers letztlich versöhnliche Aufnahme durch Beatrice erfuhr, bevor es schließlich im Paradies Gottes ansichtig wurde." [Schwarze 2011: 2 ] Das Ich tritt unter anderem als Schüler "Vergils" in der Rolle des Dichters und Liebenden sowie als Erzähler/Sprecher auf, welcher den Leser durch die Darstellung führt.
Primärliteratur
- Alighieri, Dante: Das neue Leben - Vita nova, aus dem Italienischen übersetzt von Hanneliese Hinderberger, Manesse Verlag, Zürich, 1995
Einzelnachweise aus der Forschungsliteratur
[*Elwert 1980] Elwert, Wilhelm Theodor: Die italienische Literatur des Mittelalters. Dante, Petrarca, Boccaccio. München, 1980
[*Glauch 2010] Glauch, Sonja: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte.
[*Kartschoke 2001] Kartschoke, Dieter (2001): "Ich-Darstellung in der volkssprachigen Literatur". In: Dülmen, Richard van (Hrsg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien: o.A., 61-78.
[*Schwarze 2011] Schwarze, Michael: Dantes Poetik des Ich, in: Bartoli Kuchner, Simona (Hg.): Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima, Tübingen 2011, S. 1-26
Anmerkungen
- ↑ Im Folgenden soll der literarische Dante im Gegensatz zum historischen Dante in Anführungszeichen gesetzt werden um Verwirrungen zu vermeiden.