Parzival, Jeschute und Orilus (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
Der folgende Artikel beschäftigt sich mit dem Vergehen Parzivals an Jeschute, deren anschließenden Bestrafung und Verstoßung durch den Ehemann sowie der späteren Versöhnung durch Parzival.
Parzivals und Jeschutes tragisches Aufeinandertreffen (129,27-132,25)[1]
Nachdem Parzival seine Mutter Herzeloyde verlassen hat, entdeckt er auf seinem Weg ein Zelt, in dem eine Frau liegt. Bei der Schlafenden handelt es sich um Jeschute, die Ehefrau des Duc Orilus de la Lande, von deren Schönheit Parzival ebenso wie der Erzähler angezogen werden. Parzival entdeckt einen Ring an ihrem Finger und erinnert sich daran, dass seine Mutter ihm einst riet, den Ring und die Gunst einer Frau zu erobern (127,27-28). Zudem solle er eine schöne Frau gleich in die Arme nehmen und küssen (127, 29-30). Parzival beginnt, Jeschute zu bedrängen, diese versucht aber, sich mit allen Mitteln zu wehren. In dieser Szene wird allerdings ersichtlich, dass Parzival weniger sexuell an Jeschute interessiert ist, als vielmehr die Ratschläge seiner Mutter ausführen möchte. [Scheuble 2005: S.288] Da Jeschute sich jedoch wehrt, muss Parzival schließlich Gewalt anwenden und somit die "Machtverhältnisse" [Scheuble 2005: S.289] umkehren, um an den Ring, den Kuss und die Umarmung Jeschutes zu kommen. Trotz der Gewaltanwendung kann sich die Ehefrau von Orilus vorläufig erst einmal retten, da der Sohn Herzeloydes plötzlich Hunger verspürt und von ihr ablässt. Jeschute bittet ihn, den Ring und die Schließe, die er ihr abgenommen hat, zurückzugeben und warnt gleichzeitig vor ihrem Ehemann:
"[...]hebt iuch enwec: wan kumt mîn man, | "[...] Verschwindet! Wenn mein Mann erscheint, |
ir müezet zürnen lîden, | bekommt ihr einen Zorn zu spüren, |
daz ir gerner möhtet mîden." | den Ihr besser fliehen solltet!" |
Diese Aussage verdeutlicht, dass Jeschute ihren Ehemann und dessen Reaktion, wenn er Parzival sehen würde, fürchtet. Die Reaktion Parzivals auf Jeschutes Warnung hin wirkt hierbei fast schon ironisch:
"we waz fürht ich iurs mannes zorn? | "Ha, was fürcht ich seinen Zorn?! |
wan schadet ez iu an êren, | Nur: wenn es Eurer Ehre schadet, |
sô wil ich hinnen kêren." | werde ich mich jetzt empfehlen." |
(132,16-18)
Parzival erkennt in dieser Situation nicht, dass er mit seinem Verhalten der Ehre Jeschutes bereits massiven Schaden zugefügt hat. Selbst als er wegreitet, ist er sich keiner Schuld gegenüber ihr bewusst. Im Gegenteil: Er ist stolz, den Ring und die Schließe erobert zu haben. Die Tatsache, dass Parzival nicht darüber nachdenkt, ob er die Ratschläge seiner Mutter falsch verstanden haben könnte und Jeschute, obwohl sie sich wehrt, weiter bedrängt, sind "[...] in der absoluten Begrenztheit seines Horizonts zu suchen. Er, der sich durch die strikte Befolgung der mütterlichen Ratschläge eigentlich als besonders vorbildlich erweisen möchte, wird schuldig, weil er nicht vermag, über sein stark ausgeprägtes Ich-Gefühl hinauszusehen und auf seine Mitmenschen als Menschen mit eigenen Wünschen und Bedürfnissen zuzugehen."[Emmerling 2003: S.268] Scheuble führt Parzivals Verhalten in dieser Szene auch darauf zurück, dass Parzival während seiner Erziehung bei seiner Mutter Herzeloyde "männliche Identifikationsfiguren" [Scheuble 2005: S.288] gefehlt haben, die sich somit "als Negativfolie zu weiblichem Verhalten bzw. weiblich Konnotiertem entwickelt" [Scheuble 2005: S.288] haben.
Orilus' Reaktion auf Jeschutes angeblichen Ehebruch (131,28-137,19)
Als Jeschutes Ehemann zurückkehrt, bemerkt er sogleich, dass seine Frau Herrenbesuch hatte. Selbst als Jeschute beteuert, keinen Liebhaber, und auch keinen unterhalb ihres Ranges, zu haben, glaubt er seiner Ehefrau nicht. Die Tatsache jedoch, dass sie Parzivals Schönheit erwähnt, macht Orilus' Misstrauen nur noch größer und führt schließlich dazu, dass "[d]as Vertrauen zwischen den Eheleuten [...] gebrochen [ist]." [Emmerling 2003: S.269] Orilus sucht die Gründe für den vermeintlichen Ehebruch darin, dass Jeschute ihm zuliebe einst ihren höheren Titel aufgegeben habe. Durch die zahlreichen Kämpfe, die Orilus aber bestritten habe, will er beweisen, dass er ihrer und des Titels würdig sei. Dies deutet darauf hin, dass Orilus unter einem "Inferioritätsgefühl" [Scheuble 2005: S.293] seiner Frau gegenüber leidet und sich ständig neu beweisen will. Als Strafe für Jeschutes angebliches Vergehen will er ihr jede seelische und körperliche Liebe verwehren, in Zukunft nicht mehr mit ihr speisen und ihr äußeres Erscheinungsbild so wie das ihres Pferdes verschlechtern. Somit soll die Strafe, die er seiner Frau auferlegt, auch von außen sichtbar sein. Jeschute, die sehr unter dem drohenden Liebesentzug leidet, akzeptiert das Urteil ihres Mannes jedoch und widersetzt sich ihm nicht. Die Furcht Jeschutes vor ihrem Ehemann, die bedingungslose Treue ihm gegenüber sowie dessen harte Bestrafung deuten an, "[d]ass Orilus' Machtausübung über seine Frau einer Schreckensherrschaft gleicht [...]." [Maier-Eroms 2009: S.177] Sie betrauert dabei aber nicht die Härte, mit der ihr Ehemann ihr begegnet, sondern vielmehr das Leid ihres Ehemannes und "erweist sich damit in vorbildlicher Weise als demütige, zurückhaltende und gehorsame Frau." [Scheuble 2005: S.298] Orilus seinerseits bekräftigt das Bild des Ehemannes, der sich im Kampf beweisen will, da er Parzival verfolgen und im Kampf herausfordern will, um seine Ehre wiederherzustellen.
Parzivals Wiedergutmachung und Versöhnung der Eheleute (256,17-274,5)
Seit dem Aufeinandertreffen von Parzival und Jeschute und deren Bestrafung durch ihren Ehemann ist einige Zeit vergangen, als sich die beiden wiedertreffen. Die Erziehung Parzivals zum höfischen Ritter bei Gurnemanz hat jedoch dazu beigetragen, dass Parzival weiß, wie er sich als Ritter einer Frau gegenüber verhalten soll [Scheuble 2005: S.300] und somit steht diese zweite Begegnung unter anderen Voraussetzungen als die erste. Parzival erkennt in der heruntergekommenen Frau mit dem abgemagerten Pferd Jeschute wieder, die ihn sogleich für ihre jetzige Lage verantwortlich macht. Parzival, der beteuert, seitdem keiner Frau mehr Leid hinzugefügt zu haben, erkennt Jeschutes missliche Lage und es entsteht Mitgefühl in ihm, was auf eine Reifung seines Charakters schließen lässt. Parzival will ihr helfen, sie warnt jedoch, wie schon einst, vor ihrem Ehemann. Durch das Auftreten Jeschutes wird ersichtlich, dass ihr Ehemann ihr immer noch nicht vergeben hat und er sie weiterhin seinen Zorn spüren lässt. Als Orilus schließlich registriert, von wem seine Frau begleitet wird, ist er sogleich kampfbereit und misst sich mit Parzival in einem Duell. Im Folgenden rechtfertigt der Erzähler sowohl Orilus' Verhalten, als auch Jeschutes Unschuld. Er gesteht dem Ehemann zwar zu, dass er vom Ehebruch seiner Gattin überzeugt war und deshalb seine Ehre beschädigt worden sei, kritisiert jedoch gleichzeitig die Härte, mit der er seiner Ehefrau begegnet ist, die überhaupt keine Schuld an dem Vorkommnis mit Parzival trägt. Der Sohn Gahmurets, um Wiedergutmachung bemüht, fordert Gattenliebe für Jeschute und kann Orilus schließlich im Kampf überwältigen. Dieser jedoch will seiner Frau nicht vergeben, was deutlich macht, dass er sich wegen ihres angeblichen Fremdgehens immer noch in seiner Ehre verletzt fühlt. Er bietet Parzival Ländereien an, um sein Leben zu retten. Parzival akzeptiert jedoch nur die Gattenliebe für Jeschute und schließlich willigt Orilus ein, um sein Leben zu retten. Doch dies geschieht keineswegs "aus Einsicht oder freiwillig." [Scheuble 2005: S.306] Orilus ist erst vollständig von der Unschuld seiner Frau überzeugt, als Parzival sich für sein Fehlverhalten entschuldigt, das er auf seine tumbheit zurückführt, und die Schuldlosigkeit Jeschutes bekräftigt. Er gesteht nun ein, dass es ein Fehler gewesen wäre, sie damals im Zelt alleine zu lassen, rechtfertigt sein Verhalten jedoch damit, dass er Jeschute für schuldig gehalten habe, als diese von Parzivals Schönheit berichtete. Durch die Versöhnung fühlt sich Jeschute wieder als glückliche Ehefrau, was verdeutlicht, wie sehr sie unter der Zurückweisung und Bestrafung durch ihren Ehemann gelitten hat, und die Wiedervereinigung endet in einer gemeinsamen Liebesnacht am Artushof. "Die Seligkeit Jeschutes stellt Wolfram als vollkommen dar; ist sie doch wieder vereint mit ihrem angebeteten Herrn, worin das ganze weibliche Glück besteht."[Maier-Eroms 2009: 177] Die Wiederherstellung der Ehre spiegelt sich auch in Jeschutes Äußerem wieder, da sie nun wieder ihrem Stand gebührend eingekleidet wird und ein gutes Pferd erhält.
Fazit
Die Begegnung mit Jeschute ist die erste Station auf Parzivals Weg vom "tumben" Jungen zum ehrenhaften Ritter. In seinem ersten Aufeinandertreffen mit Jeschute führt die Erziehung von seiner Mutter und der daraus resultierenden Fehlinterpretation ihrer Ratschläge Parzival dazu, Jeschute in großes Leid zu bringen. Jeschute, die unschuldig ist, wird hierbei als tugendhafte Frau dargestellt, die ihrem Mann die Treue hält und sich seinen Anweisungen nicht widersetzt. Orilus wird als Ehemann gezeigt, der die Macht über seine Ehefrau besitzt und somit der Überlegene in der Beziehung ist, jedoch oftmals mit eigenen Unterlegenheitsgefühlen ihr gegenüber kämpfen muss. Beim zweiten Aufeinandertreffen der drei hat Parzival eine Entwicklung unternommen und ist nun bereit, sein Fehlverhalten zu korrigieren. Es bedarf allerdings eines harten Kampfes und der Unschuldsbeteuerung Jeschutes durch Parzival, um die Ehe zwischen Jeschute und Orilus wiederherzustellen, was schließlich vollends gelingt.
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Quellennachweise
[*Emmerling 2003] Emmerling, Sonja: Geschlechterbeziehungen in den Gawan-Büchern des "Parzival". Wolframs Arbeit an einem literarischen Modell, Tübingen 2003.
[*Maier-Eroms 2009] Maier-Eroms, Verena: Heldentum und Weiblichkeit. Wolframs Parzival, Gottfrieds Tristan und Richard Wagners Musikdramen, Marburg 2009.
[*Scheuble 2005] Scheuble, Robert: mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen der Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied und in Wolfram von Eschenbachs Parzival, Frankfurt a.M. 2005.
<references>
- ↑ Alle Zitate folgen der Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Nach der Ausgabe Karl Lachmanns revidiert und kommentiert von Eberhard Nellmann, übers. von Dieter Kühn, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2006.