Parzivals tumpheit (Wolfram von Eschenbach, Parzival)

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Der Aspekt der "tumpheit" ist ein zentrales Element in Wolframs von Eschenbach Werk Parzival. Der Leser begegnet diesem Begriff [1] und seinen zahlreichen Derivaten bereits wenn die Kindheit Parzivals in Soltâne beschrieben wird. Der Artikel möchte klären, inwiefern Parzivals "tumpheit" zutage tritt und welcher der Wortbedeutungen sie entspricht.

"tumpheit" in den Kindes- und Jugendjahren

Weltfremdheit

Im III. Buch [2] schildert der Erzähler Parzivals Kinder-und Jugendjahre, die er abgeschieden im Wald von Soltâne verbringt, seinen Weg zum Artushof, sowie seine Erziehung durch Gurnemanz. 17 von 24 "tump"-Belegen stehen in diesem Buch, das den noch weltfremden Parzival präsentiert (Vgl. unter anderem 124,16, 126,19, 139,14, 142,13, 155,19, 161,17 und 25, 162, 1 und 28, 163, 21). Für Heinz Rupp ist die Verteilung der "tump"-Belege ein wichtiges Indiz für Parzivals Entwicklungsprozess und dessen Beurteilung durch den Erzähler. Er konstatiert, dass Parzival "[n]ie [...] im 4. Buch, das die Erwerbung der Condwiramurs schildert, nie im 5. Buch, das vom Gralsbesuch und von der versäumten Frage erzählt, und auch nie im 6. Buch, in den Geschehnissen am Artushof und bei Parzivals Absage an Gott" "tump" genannt wird. [Rupp 1957: S. 99] Während seiner Zeit in Soltâne hat Parzival nur seine Mutter [[Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Herzeloyde] und die Knechtschaft als Bezugspersonen, die Parzival "an küneclîcher fuore betrogen (um königliche Lebensart gebracht -)" (118, 2).Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen bedingen unter anderem seine "tumpheit". Diese ist fern jeder höfischen Erziehung anzusiedeln und er befindet sich deshalb in einer Art "Rohzustand". Der Erzähler vermittelt dies im Text wenn er berichtet, "ê daz sich der versan - bevor der noch vernünftig denken konnte" (117,19), verbietet sie ihrem Gefolge jegliche Information von "außen" nach Soltâne hineinzutragen. Er besitzt "keine ausreichende Kenntnis der christlichen Religion, kein Wissen, keinen Verstand, keine moralische Unterscheidungsfähigkeit." [Bumke 2004: S. 147] Diese fehlenden Kompetenzen sind Gründe für Parzivals Verfehlungen und Sünden, die ihm später von Trevrizent angelastet werden (499,20-22). Die Eigenschaften, die ihm mitgegeben werden, sind jedoch vorrangig von seinem Familienerbe bestimmt: die "art" (vgl. 118,28) und ein schönes Äußeres. Die Mischung aus seinem Familienerbe und der weltfremden Erziehung machen, Joachim Bumke zufolge, "Parzivals "tumpheit" aus." [Bunke 2004: S. 147]

Parzival und die Ritter

Parzivals "tumpheit" wird erstmals offenkundig als er im Wald von Soltâne auf Ritter trifft (120,26 - 124,26). Der Erzähler stellt dieses Aufeinandertreffen mit viel Komik dar, dahinter steckt jedoch pure Unwissenheit Parzivals. Der "knappe[...] der viel tumpheit weilt (der so viel Dummheit offenbarte, [...]") (124, 16), ist geblendet von der Pracht der Ritter und glaubt, Gott vor sich zu haben. Die Ritter jedoch erklären ihm ihre Herkunft und ebnen ihm so den Weg zum Artushof.

Parzivals Fahrt zum Artushof

Parzival verlässt mit den geraubten Gegenständen Jeschute, die ihm hinterherschaut (UB Heidelberg, Cod. Pal. germ. 339, fol. 099v)

Sein Weg zum Artushof steht im Zeichen seiner "tumpheit". Mutter von::Herzeloyde , zutiefst verletzt von seinem Fortgang, zieht Parzival ein "tôren kleit" an. Heinz Rupp konstatiert, dass "sie [die Kleider] der äußere sichtbare Ausdruck seines inneren Zustands" [Rupp 1957: S. 99] sind. Der Erzähler verurteilt Parzival aber nicht für seine "tumpheit", sondern versteht sie vielmehr als Konsequenz einer fehlenden höfischen Erziehung, was er an mehreren Stellen kommentiert. Parzival sei "tump unde wert" - "noch so dumm und schon so edel" (126,19). Nach der gewalttätigen Begegnung mit Jeschute, die auch auf Herzeloydes missverständlchen Ratschläge zurückzuführen ist, nimmt der Erzähler Parzival aufgrund seiner fehlenden "site" erneut in Schutz.

het er gelernt sîns vater site Hätte er vom Vater das Betragen gelernt,
die werdeclîche im wonte mîte, das dem als einen rechten Ritter eigen war,
diu bukel waere gehurtet baz, so hätte er bei der Gelegenheit den Schildbuckel wahrlich besser gestoßen,
da diu herzoginne al eine saz, als da die Herzogin allein im Bett saß.
diu sît vil kumbers durch in leit. Die mußte nachher seinetwegen viel Kummer leiden.

139, 15-19

Auf seinem Weg zum Artushof erklärt der Erzähler nochmals Parzivals "tumbes" Verhalten: "in zôch nehein Curvenâl: er kunde kurtôsie niht (Ihn hatte kein Curvenâl erzogen, er wußte gar nichts von der feinen Lebensart -") (144,20f). Wolfram von Eschenbach war es demzufolge wichtig, das Augenmerk auf die richtige Bewertung von Parzivals Verfehlungen zu legen. Bei Joachim Bumke wird Parzivals Verhalten als Konsequenz seines beschränkten Verstandes gesehen, [Bumke 2004: Vgl. S 148] wohingegen Rupp dafür plädiert, dass Parzival spätestens bei Gurnemanz "seine "tumpheit" genommen wird" [Rupp 1957: S. 99].

Parzival und Ither

Besonders gehäuft tritt die Verwendung des Wortes "tump(-heit)" in Bezug auf die Tötung Ithers auf (Vgl. 153,21-159,5). Diese Tat wird ihm später bei dem Einsiedler Trevrizent als eine seiner großen Sünden angelastet werden. Getrieben von der Versprechung des König Artus, die Rüstung des Roten Ritter zu bekommen, und gedemütigt vom Schlag des Ither, macht "Parzivâl der tumbe" (155,19) von seinem Speer Gebrauch und tötet Ither. Parzival "in tumber not (Parzival in der Klemme seiner Dummheit.") (156,10), wird nun von Iwânet in die Rüstung des Roten Ritter geholfen. "Parzival ist aber noch kein Ritter" [Rupp 1957: S. 100] sondern trägt symbolisch noch das "tôren kleit" unter seiner Rüstung. Diese Szene zeigt, dass dem jungen Parzival "offenbar jegliches Unrechtsbewusstsein wie auch die Fähigkeit, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden" fehlt. [Bumke 2004: S. 60]

Gurnemanz Lehre

Als Parzival nach seinem Kampf mit Ither und einem langen Ritt bei Gurnemanz, dem "houbetman der wâren zuht - dem Meister wahrer Bildung" (162, 23) ankommt, besinnt er sich des Rats seiner Mutter (vgl. 127, 21-24) und erkennt den weisen Lehrer. Parzival erhält nun Einblick in eine theoretische und eine praktische Ausbildung. Ganz seiner "art" entsprechend, ist Parzival ein vorzüglicher Kämpfer (vgl. 175, 7-9). Die theoretische Lehre beginnt Gurnemanz mit den Worten "habt iuch an mînen rât: der scheidet iuch von missetât - Haltet euch nur fest an meinem Rat; dann könnt Ihr sicher sein, daß Ihr nichts Verkehrtes tut." (170, 15-18). Hierin liegt das Grundproblem von Parzivals "tumpheit": durch seine unreflektierte Erziehung der Mutter vorgeprägt, hat er nie gelernt, Wissen zu hinterfragen und nimmt alles nur hin. In Verbindung mit Gurnemanz' Rat, führt dies zu einer Art blinden Gehorsams, die ihn auf keiner Metaebene agieren lassen. Seine "tumpheit" ist demnach ein Zusammenspiel aus äußerem Gehorsam gegenüber Gurnemanz' Lehren und innerlichem gegenüber der Mutter. Der Leser erfährt nämlich noch während Parzivals Belehrung durch Gurnemanz, dass diese immer "in dem herzen" (173, 9) verbleibt.

Ein "tumber" Held?

"Seine schlimmsten Vergehen begeht Parzival aus dem mißglückten Bestreben heraus, das was er gelernt hat, selber anzuwenden", bemerkt Joachim Bumke. [Bumke 2004: S. 147] Dies bezieht sich auf sein Vergehen, vor dem leidenden Gralskönig Anfortas geschwiegen zu haben (vgl. 239, 10) und sich von Gott losgesagt zu haben (vgl. 332, 1-8). Jedoch sieht er in der Konfrontation mit Cundrîe (vgl. 314, 11-319, 14) seinen Fehler ein, vor der Gralsburg geschwiegen zu haben (vgl. 330, 21-25). Als Parzival die gravierendsten Vergehen von Trevrizent deutlich gemacht werden, unterbleibt eine Reaktion seinerseits (vgl. 499ff.). Dies vermittelt einmal mehr, dass ihm die Fähigkeit fehlt, sein Handeln zu reflektieren. Seine "tumpheit" erscheint deshalb im Lichte einer "Unverständigkeit".

Die Schönheit Parzivals als Relativierung seiner "tumpheit"

Immer wieder kommt es im Laufe der Handlung um Parzival zu einer Relativierung seiner Taten und seines "tumben" Auftretens durch sein Äußeres, welches seine "tumpheit" zu überstrahlen scheint. [Huber 1981: vgl. S. 166-167.] In seiner Schönheit wird sogar eine Verbindung zu Gott hergestellt:

Dô lac diu gotes Kunst an im. [...], dass Gott an ihm ein wahres Wunderwerk vollbracht hatte.
von der âventiure ich daz nim, Der Erzählung entnehme ich,
diu mich mit wârheit des beschiet. die es verlässlich überlieferte
nie mannes varwe baz geriet dass es keinen schöneren Mann gegeben hat
vor im sît Adâmes zît. seit Adams Zeit.

123, 13-17

Man kann hier eine religiöse Bestimmung vorausahnen, die durch die von Gott gegebene Schönheit garantiert ist. [Huber 1981: vgl. S. 157.]

In der ersten Begegnung mit Rittern zeigt sich die angesprochene Relativierung ganz deutlich. Parzival erkennt sich nicht als Ritter, sondern nimmt sie als Götter wahr. In genau diesem Augenblick wird auf seine Schönheit verwiesen und seine "tumbe" Tat wird durch sein Äußeres überstrahlt. Wolfram setzt diese Technik immer wieder ein. In Situationen in denen Parzivals "tumpheit" deutlich wird und er von seinem Weg abkommt, wird Bezug auf sein Äußerliches und damit seine Verbindung zu Gott genommen. [Huber 1981: vgl. S. 157.]

Weitere Informationen zu dieser Thematik stehen: hier

Fazit

Es ist klar herauszustellen, dass Parzivals "tumpheit" nicht als Naturzustand zu verstehen ist. Vielmehr ist es, wie schon erwähnt, die Folge der Erziehung durch Herzeloyde und Gurnemanz. Die Mutter hält ihn quasi unter Verschluss vor der Welt und allem was dazu gehört und so wird er durch sein Aufwachsen im Wald von Soltane, um königliche Lebensart gebracht. (118, 1-2) Nie hat er etwas von Rittern und ähnlichem gehört und so verwundert es nicht, dass er die Ritter im Wald nicht als solche erkennt. Der Begriff der Dummheit wäre aus diesem Grund kein passender Name für seinen Zustand, vielmehr handelt es sich um eine Art Weltfremdheit zu Beginn und einem Defizit, Lehren in spezifischen Situationen richtig anzuwenden. Mehrmals wird in Buch III vom Erzähler darauf hingewiesen, dass seine "tumpheit" von einer falschen oder eben nicht ritterlichen Erziehung rührt. Es erscheint so, dass Wolfram diesen Fakt als sehr wichtig für das Verständnis der Person Parzival gesehen hat. Festzuhalten ist zumindest, dass seine Taten, die er im Laufe der Handlung begeht und die daraus resultierenden Sünden, auf seine "tumpheit" zurückzuführen sind. Darüber hinaus werden seine Taten, von seiner Schönheit und der damit verbundenen Verbindung zu Gott überstrahlt und relativiert.



Forschungsliteratur

  1. Der Bedeutungsumfang von "tump-," ist zu sehen in: Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. Mit den Nachträgen von Ulrich Pretzel, 38. unv. Aufl., Stuttgart 1992, S. 233f.: "tump-," kann hier "schwach von Sinnen od. Verstande, dumm, töricht, unbesonnen, einfältig, unklug;" heißen. Es kann aber auch " unerfahren, jung; ungelehrt; stumm" bedeuten.
  2. Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.


[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36)

[*Rupp 1957] Rupp, Heinz: Die Funktion des Wortes tump im ,Parzival´ Wolframs von Eschenbach, in: Germanisch-romanische Monatsschrift NF 7 (1957), S. 97 - 105.

[*Huber 1981] Huber,Hanspeter Mario: Licht und Schönheit in Wolframs „Parzival“. Ab- handlung zur Erlangung der Doktorwürde der Philosophischen Fakultät I der Universität Zürich. Inaug. Diss. Zürich, Bern: Juris Druck + Verlag 1981.