Rolleninszenierung bei Walther von der Vogelweide (nach Bennewitz / Grafetstätter)

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Verteilung der Geschlechterrollen im Minnesang

Auf den ersten Blick wirkt die mittelalterliche Minnelyrik sehr unausgewogen im Hinblick auf die Rollenverteilung der Geschlechter: Zur damaligen Zeit war es nicht üblich für eine Frau, sich zu inszenieren und Lieder vorzutragen, wie es für die männlichen Sänger geradezu notwendig war, um ihren Ruf zu verteidigen oder sich überhaupt erst einen solchen zu erarbeiten. Dieser Mangel an weiblichen Autoren hatte zur Folge, dass die männlichen Lyriker nicht nur sich selbst in Szene setzten, sondern auch den Frauen, über die sie sangen, eine Rolle zuteilten, womit sie ihre ganz eigenen Absichten und Interessen verfolgten (Lohn zu erhalten und Ansehen am Hof zu erlangen). Im Folgenden wird geklärt, wie diese Frauenrollen konstruiert wurden, welchen Stellenwert sie einnahmen und welche Auswirkungen diese Typenkonstruktionen auf die spätere Rezeption und Interpretation der mittelalterlichen Texte hatten.

Konstruktionen der Frauenrolle

(in der Annahme eines männlichen Autors)


Die Frauenrolle der mittelalterlichen Minnelyrik kann auf fünf verschiedene Arten inszeniert werden:


1. Der Sänger kann eine Frau ausschließlich in Bezug auf ihre Eigenschaften beschreiben (der Autor lässt sie weder sprechen noch agieren bzw. reagieren).

2. Der Sänger kann eine Frau in Bezug auf ihre Eigenschaften und gewisse Aktionen oder Reaktionen ihrerseits beschreiben (der Autor lässt sie nicht sprechen).

3. Der Sänger kann nacherzählen, was eine Frau gesagt hat oder in seiner Vorstellung sagen könnte (der Autor lässt sie nicht selbst sprechen, verleiht ihr aber dennoch Worte oder eine Meinung).

4. Der Autor kann ein weibliches Ich stellenweise selbst sprechen lassen (→ Wechsel oder Dialog).

5. Der Autor kann das gesamte Lied aus der Sichtweise eines weiblichen Ich gestalten (→ Frauenlied).


Wird diese Skalierung der Rollengewichtung aus heutiger Sicht betrachtet, so kann man sich fragen, welche Art der Typenkonstruktion die Stimme der Frau am meisten untergräbt bzw. in welchen Werken das weibliche Geschlecht am stärksten von männlichen Lyrikern bevormundet wird. Es ist nicht eindeutig zu klären, ob die Frau genau dann am wenigsten zu sagen hat, wenn der Autor sie tatsächlich nichts sagen lässt, oder ob dies dann der Fall ist, wenn der Autor beschließt, sie sprechen zu lassen, und somit über ihre Meinung und ihre Worte bestimmt. Im Endeffekt spielt eine solche Gradierung der verschiedenen Rolleninszenierungen gar keine Rolle, da die Frau, wie sie in der mittelalterlichen Minnelyrik dargestellt wird, eine Konstruktion der Lyriker ist und somit zu einem gewissen Zweck eingesetzt wird.

Stellenwert der Frauenrolle

Da auch ein männlicher Sprecher in der mittelalterlichen Minnelyrik eine Rolle einnimmt, sollte die Tatsache, dass den Frauen mittels Rolleninszenierung verschiedene Aussagen und Reaktionen zugeteilt wurden, nicht mit allzu großer emanzipierter Distanz begegnet werden; die beiden unterschiedlichen Rollen fungierten vor allem miteinander, und eine Aussage oder Aktion der einen Rolle zog immer eine Antwort oder Reaktion der anderen Geschlechterrolle nach sich. So funktionierte die Minnelyrik, und die männliche sowie auch die weibliche Rolle hatten einen Darstellungscharakter inne, den man mit heutigen Schauspielern vergleichen könnte.

Rezeption und Interpretation

Heutzutage kursieren unterschiedlichste Auffassungen der damaligen Rolleninszenierungen. Beispielsweise postuliert der Londoner Universitätsprofessor Simon Gaunt die These der Interdependenz zwischen der jeweiligen literarischen Gattung und der darin durchgeführten Inszenierung der Geschlechterrollen (Gender-Modelle; siehe „Begehren und Erhören“ von Bennewitz/Grafetstätter). Mit dieser These als Basis reflektiert Gaunt über die französische Trobadourdichtung mit einer interessanten Überlegung: So wird nach seiner Analyse die konstruierte Rolle der Frau (sie wird im oben genannten Werk von Bennewitz/Grafetstätter als ethisch vorbildlich, unerreichbar und machtvoll beschrieben) als Vorwand genutzt, um mit Hilfe irreführender Metaphern nicht etwa die Liebe zu einer Frau zu thematisieren, sondern um sich aus Sicht des Sängers anderen Männern gegenüber zu beweisen, diese zu übertrumpfen und sich selbst als der Mächtigste unter ihnen zu behaupten.


Die Werke des Minnesangs werden auf vielfältige und kreative Weise interpretiert; weit verbreitet ist die Vorstellung von der Entdeckung der Frau, der Weiblichkeit als literarisches Subjekt. Diese Auffassung lässt sich gut am Beispiel der sogenannten Mädchenlieder Walthers von der Vogelweide (bzw. deren Rezeption und Interpretation) demonstrieren. Im Folgenden wird knapp geschildert, wie Walther die Frauenrolle in seinem Lied „Nement, frowe, disen cranz“ inszeniert.

Orientiert man sich an der oben genannten Skala der Rollenkonstruktionen, so ist Walthers genanntes Lied unter 2. einzuordnen, denn der Rezipient erfährt nur durch den Sänger, wie schön seine Angebetete aussieht und auch, wie sie auf seine Avancen reagiert („Si nam, daz ich ir bôt / einem kinde vil gelîch, daz êre hât“, mögliche Übersetzung: „Sie nahm an, was ich ihr bot / einem ehrenhaften, jungen Mädchen gleich“).


Interessant ist Walthers Anwendung der klassischen Topoi des Minnesangs (wie ebenfalls in „Begehren und Erhören“ von Bennewitz und Grafetstätter ausgeführt wird), denn er wandelt das altbekannte Bild von dem untergebenen Sänger, der die Liebe des Mädchens höher wertet als die Krone des Kaisers, in einen selbstbewussten Sänger um, der seine eigene Liebe als das Höchste bezeichnet, was das Mädchen von ihm erwarten kann („mîn schappel […], daz [] beste, daz ich hân“). Der Sänger nimmt also die Rolle des Gebenden und nicht die des Bittenden ein, er bittet nicht um die Gunst der Frau, sondern er bietet ihr die seine an; die Frau im Umkehrschluss nimmt in diesem Lied die Rolle der Beschenkten an, die voll jugendlicher Freude und beinahe kindlicher Schüchternheit sein Angebot annimmt. Dass Walther mit dem Anbieten und Annehmen des Blumenkranzes auf die körperliche Liebe (womöglich gar auf die Entjungferung, da er das besungene Mädchen „maget“ nennt, was der allgemeinen Definition nach ein jungfräuliches Mädchen bezeichnet) anspielen wollte, ist naheliegend, da der Sänger auch von den „bluomen“ spricht, die er gemeinsam mit der jungen Frau „brechen“ will. Diese Metapher ist ein Indiz für den Vollzug des Liebesaktes. Das Zusammenfinden der Liebenden in der freien Natur und nicht etwa heimlich in einem Schlafzimmer bezeichnet einen weiteren, in der Minnelyrik weit verbreiteten Topos, den locus amoenus (lat.: lieblicher Ort). Hierin liegt der Grund für viele Interpreten, das besagte Lied Walthers der Pastourelle zuzuordnen. Eine Pastourelle (von lat. „pastor“ = Hirte) bezeichnet Minnelieder, deren Inhalt nach einer bestimmten Form aufgebaut ist (ein Hirte, zunächst allein unterwegs, trifft in der freien Natur auf ein junges Mädchen; sie sind sich zugeneigt und schlafen letztendlich miteinander).


Während der Sänger in den ersten beiden Strophen des Liedes zunächst seine eigenen Worte gegenüber der jungen Frau nacherzählt und in den folgenden beiden Strophen von dem Zusammentreffen (welches sich als Traum entpuppt) berichtet, wechselt die Perspektive in der fünften und letzten Strophe. Der Sänger spricht nicht mehr im Präteritum, sondern er befindet sich in einer fiktiven Gegenwartssituation (zu Walthers Zeiten entsprach dies der Aufführungssituation), die es ihm erlaubt, sich an andere Damen zu wenden. („frowe, dur iuwer güete […]“)

Hier wird letztendlich klar, dass die zuvor so detailliert beschriebene Frauengestalt tatsächlich nur eine Traumgestalt ist, deren Idealität dem Sänger jedoch in der fiktiven Realität als Maßstab dient, um die Frau zu finden, die tatsächlich zu ihm passt. Insofern ist auch hier die Rolleninszenierung der Frau wieder Mittel zum Zweck: Walther nutzt die Darstellung der jungen Frau, um an seine Zuhörerinnen zu appellieren, sich doch nach dem Vorbild seiner Besungenen zu verhalten; er postuliert sozusagen eine neue Verhaltensweise der Frau im Allgemeinen, die für ihn (und mit Sicherheit auch für andere Männer) angenehm wäre. Damit verbunden ist natürlich auch die Selbstinszenierung des Sängers in dem Lied, denn indem er die junge Frau lobt und von ihrer Schönheit, Anmut und ihrem kindlichen Charme schwärmt (und gerade auch aufgrund der Tatsache, dass sich diese hochgelobte Frau letzten Endes als fiktive Person einer Binnenerzählung, dem Traum, entpuppt), präsentiert der Sänger diskret seine eigene Idealität. Er ist in der Lage, von der Liebe zu sprechen, und er vermag es, eine Frau in den höchsten Tönen zu loben, ihr Ansehen zu verschaffen. In anderen Gedichten Walthers wird genau diese Fähigkeit des Sängers auch zur Drohung umgewandelt, indem er der Frau klarzumachen versucht, dass sie, sollte er seine Lobpreisungen beenden, ihren guten Ruf (der erst durch seine Gesänge hergestellt wurde) in der höfischen Gesellschaft verlieren würde.

In Walthers Lied „Nement, frowe, disen cranz“ ist also die Rolle der Frau ganz auf die des Sängers zugeschnitten; sie repräsentiert die in den Augen des Sängers perfekte Frau, sowohl ihre Schönheit als auch ihre Emotionen und ihre Reaktionen ihm gegenüber betreffend. Dass er sie im Endeffekt als fiktive Gestalt, die ihm im Traum erschien, entblößt, wird von der Mehrheit der Rezipienten zum Anlass genommen, Walthers Lied einen revolutionären Charakter abzusprechen, da die derartige Auflösung der prekären Situation, die im Gedicht geschildert wird, wieder den Voraussetzungen der Hohen Minne entspricht: Er träumt von der Liebeserfüllung, doch da diese nicht in der Realität geschehen ist, werden letztendlich die Regeln der Hohen Minne befolgt. Dennoch ist Walthers Lied eine gewisser revolutionärer Aspekt nicht abzusprechen, denn ob nun der von ihm geschilderte Liebesakt (bei dem, wohlgemerkt, die „bluomen“ nicht nur gebrochen werden, sondern gar „von den boumen“ fallen) real oder fiktiv ist, ist in diesem Zusammenhang relativ unwichtig. Bei früheren Aufführungen wird er damit bestimmt der einen oder anderen Zuhörerin die Schamesröte ins Gesicht getrieben und den einen oder anderen Zuhörer ein verträumtes Lächeln auf die Lippen gezaubert haben, ob nun seine Erzählung von erlebten oder eben "nur" geträumten Ereignissen handelt. Während die Hohe Minne als Gesellschaftsideal den Männern die Hoffnung auf Liebeserfüllung von vorneherein absprach und den Frauen eine strenge Zurückhaltung und Kontrolle über ihre Gefühle (je nach dem sogar Ignoranz dieser) auferlegte, spricht Walther hier von einer ganz anderen Auffassung der Liebe.

Da sich instinktive Gefühle und Wünsche der Menschen auch über Jahrhunderte nicht derart ins Gegenteil wenden können und sich Rezipienten der Moderne vollkommen mit den Wünschen Walthers identifizieren können (kaum jemand träumt von einer ehrenvollen Liebe, die nie erwidert werden darf und in Einsamkeit gedeiht), ist anzunehmen, dass er auch den Menschen damals aus der Seele sprach – obwohl es nicht mit den höfisch-gesellschaftlichen Idealen in Einklang zu bringen war. Dass er diese völlig andere Liebeskonzeption, nämlich die der erfüllten, glücklichen Liebe zu einem schönen Mädchen, derart offensichtlich repräsentierte, mutet sehr wohl revolutionär an. Die Vorstellungen und Wünsche in seinem Publikum hatte er, wie auch immer er die Geschlechterrollen konzipiert und das Lied aufgebaut hatte, angesprochen und somit eventuell erweckt oder, falls bereits vorhanden, vertieft.

Als revolutionär kann man den Versuch, die Liebe und den Liebesakt als etwas Natürliches und von allen insgeheim Gewünschtes zu popularisieren, folglich sehr wohl betrachten.

Quellenangabe

1. Ingrid Bennewitz / Andrea Grafetstätter: Gender Studies – Begehren und Hören (2008);S. 141-158

2. Manfred Günter Scholz: Walther von der Vogelweide (2. Auflage, 2005); S. 119-128

3. Horst Brunner / Gerhard Hahn / U. Müller / Franz Viktor Spechtler: Walther von der Vogelweide; Epoche – Werk – Wirkung (2. Auflage, 2009); S. 74-78; S. 100-108

4. Otfrid Ehrismann: Einführung in das Werk Walthers von der Vogelweide (1. Auflage, 2008); S. 15-16; S. 90-92