Der Minne-Diskurs (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen
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Der Minne-Diskurs zwischen Reinhart und Hersant vermittelt im sensiblen Spiel mit der Mensch-Tier-Grenze eine Facette der Gesellschaftskritik, auf die sich das Werk Reinhart Fuchs zuspitzt. Diese soll die Bigotterie der feudalen Gesellschaftsordnung offenbaren, indem ihre Regeln und Tugenden nur oberflächlich gelten.<br> | |||
Das Tierepos Reinhart Fuchs stammt aus der Zeit der allmählichen Überwindung des Minnesangs. Kritische Reflexionen über die Einseitigkeit und restriktive Formalität der Hohen Minne und damit einhergehende satirische Elemente waren im zeitgenössischen Minnesang weit verbreitet. Ziel war eine Gegenüberstellung dieser Liebes- und Sexualmoral mit alternativen, beispielsweise auf Gegenseitigkeit basierenden Liebeskonzepten.[Hummelink 2018:6f.] Der satirische Trick des Autors, im Minnesang ''das Tier im Menschen hervorzubringen'', ermöglicht ihm die Kritik der beschriebenen Liebesordnung als Teil der höfischen Herrschaft und Tugenden: Die ''kultivierte'', gesellschaftliche Ordnung dient als Mittel für das Verdecken von menschlichem, entfesseltem Eigennutz zur Befriedigung 'primitiver' Bedürfnisse wie etwa Sex.[Dietl 2009:54] | |||
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"Durch das höfisch-galante Vorspiel, schon als solches parodistisch durch die undamenhafte Replik der mehrfach als ''edel'' [...] apostrophierten Partnerin, erhält die Reinhart-Hersant-Minne ein zusätzliches Element literarischer Kritik. Höfische Minne ist, ungeachtet der Theorie ''hôher minne'' und nobler Worte, ''bîligen'' im Ehebruch." [Ruh 1980:15] | "Durch das höfisch-galante Vorspiel, schon als solches parodistisch durch die undamenhafte Replik der mehrfach als ''edel'' [...] apostrophierten Partnerin, erhält die Reinhart-Hersant-Minne ein zusätzliches Element literarischer Kritik. Höfische Minne ist, ungeachtet der Theorie ''hôher minne'' und nobler Worte, ''bîligen'' im Ehebruch." [Ruh 1980:15] | ||
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Version vom 19. Juli 2020, 16:25 Uhr
Dieser Artikel behandelt den Minne-Diskurs zwischen Reinhart und der Wölfin Hersant, wobei die Repräsentation von Sexualität und deren Polarität zwischen 'höfischem'/'sittlichem' und 'niederem'/'animalischem' Begehren im Vordergrund steht. Dieses Spannungsverhältnis bietet die Grundlage für die im Reinhart Fuchs dargestellte Satire der höfischen Minne des Hochmittelalters als Teil einer christlichen, feudalen Gesellschaftsordnung.
Sozio-kulturelle Kontextualisierung der "Minne"
Dem zentralen Begriff der Minne kommt im Mittelhochdeutschen eine ganze Bandbreite von Bedeutungen zu. Das Wort "Minne" fand in Verben, in Adjektiven und etlichen substantivischen Komposita seine Anwendung. So konnte man "minnen", konnte "minne-lich" oder gar ein "minne-diep" sein. "Minne" kann die unterschiedlichsten Alternativen einer generellen "Liebe" sein. Das Bedeutungsspektrum reicht von Beschreibungen über Liebes-Werben bis hin zum eigentlichen Liebes-Akt mit allerlei handfesten sexuellen Handlungen. Dieses überaus pluralistische Bedeutungsspektrum hat zur Folge, dass diese Wortfamilie in den unterschiedlichsten Kontexten des alltäglichen Lebens angewandt wurde. Die höfische Minne ist als ritterlich-adelige Liebeslyrik Ausdruck eines meist nicht sexuell konnotierten Wohlwollens eines (ritterlichen) Minnesängers gegenüber einer höfischen, hochgestellten Frau.Weiter gab es aber auch Kontexte, in denen der Werbende explizit um eine Belohnung in Form von sexuellen Handlungen bemüht war. Der Minnesang, zu dem die 'Hohe Minne' gehört, kommt ursprünglich aus Frankreich, entstand ab Mitte des 12. Jahrhunderts und wurde Teil einer europaweiten Hofkultur.
'Die Hohe Minne'
Trotz ausschweifender Verehrung der Dame beklagen die Texte der öffentlichen Vortragskunst in typisierten Mustern ohne subjektiven Ausdruck die Unmöglichkeit einer tatsächlichen sexuellen Vereinigung. Der Ausdruck der Anziehung ist im Rahmen der Vasallität Teil des Dienstes an den Herrschenden und der kulturell fokussierten Triebbeherrschung, die Teil der Codizes der höfischen Klasse waren. Diese dienen, ähnlich der "kultivierten Gewalt", der Kommunikation und Selbstvergewisserung zwischen Gleichgesinnten. [Dietl 2009:42f] Während die Themen Intimität, Liebe und Begehren reflektiert und verhandelt werden, soll die Beharrlichkeit des Sängers nach andauernder Zurückweisung durch die Hofdame dessen Wert steigern (Minneparadox). Die kontinuierliche Arbeit an der Kunst Werbens galt demnach als Tugend, die den Charakter des Minnesängers formt und auszeichnet.
Der Minne-Diskurs im Tierepos Reinhart Fuchs referiert auf diese Tradition, weicht jedoch mit kritischen Blick von ihr ab. Das zeigt sich auf den Ebenen des Handlungsverlaufs und der Sympathielenkung und wird zudem durch die Tatsache verstärkt, dass es sich bei den Figuren um Tiere handelt. Der Minnedienst des Fuchses an der adeligen Wölfin Hersant ist der Beginn einer weiteren List Reinharts: der Vergewaltigung dieser und der damit einhergehenden Demütigung Isengrins. Damit veranschaulicht der Minne-Diskurs im Reinhart Fuchs beispielhaft die zeitgenössische Ständekritik und Satire der christlich-höfischen Liebes- und Sexualmoral Heinrich des Glîchezâres.
Inhalt der Episode
Die Wolfsfamilie als adelige Familie
Die Lebensformen des mittelalterlichen Adels werden auf die Wolfsfamilie übertragen. Im Text deuten darauf in der Episode der Begegnung des Fuchses mit der Familie (V. 385)[1] folgende Anhaltspunkte:
- Als Anrede für Isengrin verwendet Reinhart den Titel "herre" (RF V. 389). Diese unterscheidet sich von den Familienbezeichnungen, mit denen der Fuchs alle vorangegangenen Tiere ansprach. Beispiele hierfür sind etwa "neve" (RF V. 315) für den Kater oder "gevater" (RF V. 178) für die Meise. Auch Hersant spricht Reinhart mit ihrem Adelstitel "vrowen" (RF V. 391) an, der 'hohe Dame' bedeutet und in der Zweitnennung die Ehe zwischen den beiden Wölfen schließen lässt.
- Reinhart bietet sich als "geselle[]" (RF V. 396) an, er gibt an, der Familie dienen zu wollen. (RF V. 390-393)
- Nach dem Angebot zieht sich die Wolfsfamilie zurück und bespricht sich. Isengrin lässt sich von seiner Frau, die als Mitregentin ein Entscheidungsrecht hat, beraten. (RF V 402-403)
- Wie oben bereits erwähnt, markiert der Minnesang (RF V. 409) die höfische Standeszugehörigkeit der Familie.
- Ein zusätzlicher Hinweis auf den adeligen Stand der Familie ist die Jagd, zu der Isengrin mit seinen Söhnen aufbricht (RF V. 414f.). Sie gilt als privilegierte Freizeitbeschäftigung im Mittelalter, ist im Fall der Wölfe jedoch überlebensnotwendig. (RF V. 443f., mehr zur Mensch-Tier-Grenze siehe unten)
Nach Reinharts vorangegangenen "Fehlaventiuren" [Ruh 1980:18], schließt er mit Isengrin einvernehmlich einen Gesellenvertrag ab und macht sich damit zum Diener und Mitglied der Familie. Der Herr Wolf übergibt ihm feierlich seine Ehefrau und macht sich auf die Jagd. Dabei werden Reinharts schlechte Absichten bereits von der Erzählstimme antizipiert:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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sin wip nam er bi der hant | Seine Frau nahm er [Isengrin] an der Hand |
vnde bevalch si Reinharte sere | und übergab sie feierlich Reinhart |
an sine trewe vnde an sine ere. | (und) dessen Treuepflicht und dessen Tugend. |
Reinhart warb vmb di gevatern sin. | Reinhart warb um seine Gevatterin/Freundin. |
do hat aber er Ysengrin | Nun hatte aber Isengrin |
einen vbelen kamerere. | einen bösen Kammerdiener. |
hi hebent sich vremde mere. | Von hier an kamen merkwürdige Geschichten auf. |
Reinhart Fuchs, V. 416-422
Reinharts Minnesang
Die Formulierungen aus Reinharts Minne-Diskurs sind vom deutschen Nachdichter des 'Roman de Renard' übenommen [Ruh 1980:15]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart sprach zv der vrowen: | Reinhart sagte zu der hohen Dame: |
'gevatere, mochtet ir beschowen | 'Gevatterin, bitte seht |
grozen kvmmer, den ich trage: | den großen Kummer, den ich trage: |
von eweren minnen, daz ist min clage, | Wegen dem Minnedienst an Ihnen, das ist meine Klage, |
bin ich harte sere wunt.' | leide ich sehr stark.' |
Reinhart Fuchs, V. 423-427
Hersants Zurückweisung
Als Reaktion erhält Reinhart von Hersant jedoch eine grobe Zurückweisung, die gegen die Tradition der höfischen Minne verstößt:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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'Tv zv, Reinhart, dinen mvnt!' | 'Mach zu, Reinhart, deinen Mund!' |
sprach er Ysengrinis wip, | sprach Isengrins Frau, |
'min herre hat so schonen lip, | 'Mein Mann hat einen so schönen Körper, |
daz ich wol frvndes schal enpern. | dass ich bestimmt auf einen Geliebten verzichten kann. |
Reinhart Fuchs, V. 416-431
Nach dieser Zurückweisung führt Reinhart seinen Minnesang fort.(V.435-449) Nach den Regeln der 'Hohen Minne' beklagt Reinhart die Unmöglichkeit der "minne" (V.448) zwischen ihm und der Wölfin, wobei er auf die Ständeordnung verweist. Als Isengrin von der Jagd zurückkehrt, tut Reinhart so, als wäre nichts geschehen.(V. 428-431) Die Erzählinstanz bezeichnet ihn dabei ironisierend als "hobischere" (V. 441). Der Begriff - ursprünglich wertneutral oder positiv verwendet für Männer, die Frauen hofieren - wird im Reinhart Fuchs erstmals negativ konnotiert.[Erlei 2010:353f.]
Kritik an der christlich-höfischen Sittenordnung
Der Sittenbruch der hohen Dame Hersant
Während Reinhart trotz der groben Zurückweisung Hersants vorerst die Rolle des beharrlichen Minnesängers beibehält und damit als "hobischere" (V. 441) - wenn auch aus List - der christlichen Tradition folgt, bricht Hersant mit ihr.
Obwohl nach den Sittenregeln der Höfischen Minne offensichtlich ist, dass der Geschlechtsakt zwischen den beiden höfischen Figuren angesichts des potentiellen Ehebruchs und der Unterschiede im sozialen Status unzulässig und die Rollendichtung somit keine Abbildung der Wirklichkeit ist, interpretiert Hersant Reinharts Aussagen wörtlich. Interessant ist das an dieser Stelle aufgezeigte Spannungsfeld der christlichen Sitten zwischen Hersants ehelicher Treue und der Minne-Beziehung zum Ritter: Einerseits betont die hohe Dame ihre bedingungslose Loyalität und Liebe zu ihrem Gatten Isengrin (V. 430) und lässt diese zunächst als Grundmotivation ihrer groben Zurückweisung gelten. Andererseits verletzt sie mit ihrem unangemessenen Wortlaut gegen die Tradition der Minne und macht damit einen obszönen, rücksichtslosen und unmanierlichen Eindruck, der ihrem Stand nicht angemessen ist. Damit reduziert sie das Ritual auf das Sexuelle. Die Episode offenbart aber auch, dass sich Hersant selbst nicht nach den christlichen Sitten zu richten scheint, denn sie begründet ihre Zurückweisung nicht mit diesen, sondern mit ihrem eigenen sexuellen Verlangen, was die folgenden Punkte veranschaulichen:
- Hersant ist auf Körperlichkeiten fixiert. Ihre 'Loyalität' zu Isengrin drückt sie durch ihre Bewunderung für seinen "schonen lip" (V. 430) aus, nicht durch ihre Ehe. Reinhart hingegen weist sie auch nicht mit der Begründung des Ehebruchs zurück, sondern weil er ihr "zu swach" (V. 433) erscheint. Das kann entweder ein erneuter Verweis auf Reinharts körperliche Beschaffenheit, jedoch auch auf seine Persönlichkeit oder seinen niederen Stand sein.
- In ihrer Zurückweisung lässt Hersant durchscheinen, dass sie sich durchaus die Möglichkeit eines Liebhabers offenlässt. Im Konjunktiv drückt sie aus, dass sie sich durchaus einen Liebhaber aussuchen würde, der attraktiver als Reinhart oder ihm höher gestellt sei.
Bedeutung des Tierseins für die Kritik der christlichen Moral
Die Orientierung Hersants an ihrer Libido setzt sie im Kontrast zu ihrer höfisch-adelig stilisierten Ehe als animalisch-primitiv herab. In dieser Episode lassen sich an Hersants Reaktion die Widersprüchlichkeiten der Trennung zwischen Mensch und Tier ablesen.
Zunächst grenzt das Werk die tierische Gegenwelt des Waldes von der menschlichen, höfischen Umgebung ab. Dennoch wird die Möglichkeit des Transfers auf menschliches Verhalten durch die Beibehaltung des Waldes als Raum für ritterliche aventiuren in Artusromanen und der Übertragung menschlicher Habitus (s. oben) gewahrt.[Dietl 2009:53]
Die Kritik der höfisch-christlichen Sexualmoral gilt in diesem Fall den Menschen, die das Tiersein durch die Annahme eines Mensch-Tier-Dualismus ablehnen. Gängige Begründungen dafür sind der christliche Schöpfungsberichtoder mit die menschliche Fähigkeit zu Kultur, Recht und komplexen Gesellschaftsformen.[Kompatscher-Gufler 2017:32ff.]
Beispielhaft lässt sich Hersants Position im Spannungsverhältnis auf den Menschen übertragen: Zwar beherrscht er mit seiner Kultur seit dem Ackerbau und der Viehzucht das Natürliche und Animalische[Kompatscher-Gufler 2017:32], wird jedoch als Tier auch von seiner Triebhaftigkeit und seiner Libido geleitet, weil die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Lebewesen fließend sind.[Kompatscher-Gufler 2017:44] In der christlichen Kultur wird der zweite Punkt zugunsten des ersten geleugnet.
Moralisches Patt zwischen Reinhart und Hersant
Während der listige Fuchs in den vorangehenden Episoden eindeutig als die einzige amoralisch handelnde Figur gilt, demonstriert das Tierepos nun beginnend mit Hersants Sittenbruch zusätzlich moralisch verwerfliche Handlungen bei den anderen Tieren. Die moralische Beurteilung der Figuren wird verkompliziert, wodurch Heinrich der Glîchezâre den Grundstein für seine Kritik der Moral und Gesellschaftsordnung legt.
Orientiert an der christlichen Gesellschaftsordnung problematisiert der Handlungsverlauf nun die moralische Überlegenheit Hersants über Reinhart. Formal und ausdrücklich wegen seines egoistischen Strebens handelt Reinhart im Rahmen des sozio-anthropologischen Modells der aristotelisch-thomistischen Tugendethik, nach der moralisch gutes Handeln langfristig erfolgreicher sei.[Hübner 2016: 83] Dem Minneparadox als Teil der aristokratisch-höfischen Moral[Hübner 2016: 83] zufolge veredelt Reinharts Beharrlichkeit trotz der erfahrenen Zurückweisung zusätzlich seinen Charakter. Dieses kulturelle Handlungswissen wird in Reinharts Minne-Diskurs mithilfe der Erzählinstanz jedoch subversiv unterlaufen: Trotz der Erfüllung der Formalitäten strebt Reinhart nicht nach einem "dauerhaft gute[m] Leben möglichst vieler Einzelner"[Hübner 2016: 84], sondern nach seinem eigenen Vorteil, was zynisch durch die Erzählstimme angedeutet und durch den weiteren Handlungsverlauf wiederholt bestätigt wird (z.B. durch die Vergewaltigung Hersants). Hierin zeigt sich jedoch die Schlauheit Reinharts: Sie "besteht [...] in der Instrumentalisierung rechts- oder tugendgemäßer Handlungsregeln für nicht rechts- oder tugendgemäße Handlungsziele".[Hübner 2016: 88]
Diese Aussage trifft auch auf Hersant zu. Unter den Einschränkungen durch die oben ausgeführten im Hinblick auf die sittlichen Verfehlungen der Minnesang-Konstellation verweist auch sie formal auf die christliche Tugend der ehelichen Treue. Allerdings offenbart die Interpretation ihrer Aussage ebenfalls ihre triebgesteuerten und somit unsittlichen Absichten.[Mecklenburg 2017:94] Im Hinblick auf die im Epos konkurrierenden Handlungsvorgaben bildet diese Szene einen Wendepunkt im Epos. Dieses spitzt sich auf die Erkenntnis zu, dass nicht nur Reinhart, sondern auch sein gesamtes Umfeld heuchlerich und opportunistisch handeln. Das oben eingeführte, sensible Spiel mit der Mensch-Tier-Grenze verschärft hier die Kritik der Moral: Tiere unterliegen aufgrund ihrer Vernunftlosigkeit voll und ganz ihren Instinkten, der Mensch jedoch ist oft gezwungen, zwischen seinen Trieben und einer gesellschaftlichen Moral zu vermitteln. Bezeichnend für diese Interpretation ist das zeitgenössische Sprichwort, dass der Mensch mehr zu fürchten sei als alle Tiere: homo plus est timendus prae omnibus animalibus.[Hübner 2016:87]
Fazit
Der Minne-Diskurs zwischen Reinhart und Hersant vermittelt im sensiblen Spiel mit der Mensch-Tier-Grenze eine Facette der Gesellschaftskritik, auf die sich das Werk Reinhart Fuchs zuspitzt. Diese soll die Bigotterie der feudalen Gesellschaftsordnung offenbaren, indem ihre Regeln und Tugenden nur oberflächlich gelten.
Das Tierepos Reinhart Fuchs stammt aus der Zeit der allmählichen Überwindung des Minnesangs. Kritische Reflexionen über die Einseitigkeit und restriktive Formalität der Hohen Minne und damit einhergehende satirische Elemente waren im zeitgenössischen Minnesang weit verbreitet. Ziel war eine Gegenüberstellung dieser Liebes- und Sexualmoral mit alternativen, beispielsweise auf Gegenseitigkeit basierenden Liebeskonzepten.[Hummelink 2018:6f.] Der satirische Trick des Autors, im Minnesang das Tier im Menschen hervorzubringen, ermöglicht ihm die Kritik der beschriebenen Liebesordnung als Teil der höfischen Herrschaft und Tugenden: Die kultivierte, gesellschaftliche Ordnung dient als Mittel für das Verdecken von menschlichem, entfesseltem Eigennutz zur Befriedigung 'primitiver' Bedürfnisse wie etwa Sex.[Dietl 2009:54]
"Durch das höfisch-galante Vorspiel, schon als solches parodistisch durch die undamenhafte Replik der mehrfach als edel [...] apostrophierten Partnerin, erhält die Reinhart-Hersant-Minne ein zusätzliches Element literarischer Kritik. Höfische Minne ist, ungeachtet der Theorie hôher minne und nobler Worte, bîligen im Ehebruch." [Ruh 1980:15]
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33.
- [*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler: Human-animal studies: eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende. Mensch-Tier-Grenze. 2017.
- [*Dietl 2009] Dietl: Violentia und potestas. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ›Reinhart Fuchs‹ . 2009.
- [*Hübner 2016] Hübner: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs '. 2016
- [*Erlei 2010] Erlei: 'Höfisch' im Mittelhochdeutschen: Die Verwendung eines Programmworts der höfischen Kultur in den deutschsprachigen Texten vor 1300. 2010
- [*Hummelink 2018] Hummelink: Erotik im Minnesang. Der Einfluss des Geschlechts des lyrischen Ichs auf das Provozieren der Erotik. 2018
- [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg "Abenteuerliche Überkreuzungen : Vormoderne intersektional." (2017)
- ↑ Alle Versangaben des Artikels beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819).
- Schilling, M. (1989). Vulpekuläre Narrativik. Beobachtungen zum Erzählen im 'Reinhart Fuchs'. Zeitschrift Für Deutsches Altertum Und Deutsche Literatur, 118(2), 108-122. Retrieved May 20, 2020, from www.jstor.org/stable/20657904