Moral und Gewissen (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen

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Dieser Artikel behandelt sowohl die persönliche Moral von [[Inhaltsangabe (Reinhart Fuchs)|"Reinhart Fuchs"]] im gleichnamigen Tierepos von [[Heinrich der Glîchezâre|Heinrich dem Glîchezâren]], als auch die übergeordnete Moral des gesamten Tierepos, welche Reinhart als Protagonist durch seine Taten dominiert. Ziel dabei ist es, die Merkmale dieser Moral durch die Beantwortung von verschiedenen Kernpunkte herauszuarbeiten.   
Dieser Artikel behandelt sowohl die persönliche Moral von [[Inhaltsangabe (Reinhart Fuchs)|"Reinhart Fuchs"]] im gleichnamigen Tierepos von [[Heinrich der Glîchezâre|Heinrich dem Glîchezâren]], als auch die übergeordnete Moral des gesamten Tierepos, welche Reinhart als Protagonist durch seine Taten dominiert. Ziel dabei ist es, die Merkmale dieser Moral durch die Beantwortung von verschiedenen Kernpunkte herauszuarbeiten.   
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Betrachtete Dimensionen durch diese Punkte sind folgende: Um zunächst die Moral von Reinhart selbst zu klären wird untersucht, inwiefern Reinhart als ein Tier einem Moralkodex unterworfen ist oder sein kann und
in welcher Weise Reinhart vielleicht als Tier moralisch verwerflich handeln darf, obwohl er nicht lediglich versucht, zu überleben.


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Um die Moral des gesamten Epos zu klären, wird zudem die Frage beleuchtet inwiefern Reinhart als ein Akteur der Besserung der Gesellschaft handelt, da er mit seinen Taten dem unrechtmäßigem Herrscher [[Der Löwe Vrevel (Reinhart Fuchs)|König Vrevel]] schadet oder ob er nur egoistisch für sich selbst agiert. Auch die möglichen Versuche zur Legitimierung der Gewalt, sowie das scheinbar nicht ausgeprägte Gewissen der Figuren wird behandelt.
Betrachtete Dimensionen durch diese Punkte sind in vier Abschnitte unterteilt.
Um zunächst die Moral von Reinhart selbst zu klären wird untersucht;
![1]! inwiefern Reinhart als ein Tier einem Moralkodex unterworfen ist oder sein kann, und [2] in welcher Weise Reinhart vielleicht als Tier moralisch verwerflich handeln darf, obwohl er nicht lediglich versucht, zu ||überleben.
Um die Moral des gesamten Epos zu klären, wird zudem die Frage beleuchtet;
[3] inwiefern Reinhart als ein Akteur der Besserung der Gesellschaft handelt, da er mit seinen Taten dem unrechtmäßigem Herrscher [[Der Löwe Vrevel (Reinhart Fuchs)|König Vrevel]]schadet, oder [4] ob er nur egoistisch für sich selbst agiert.  
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Trotz allem kann Reinhart je nach Interpretation und Vorstellungen des Lesers auch zur Identifikationsfigur werden. Zur Vermeidung einer eventuellen Antipathie mit dem Fuchs dient seine Schlauheit, mit der auf das Laster der Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit seiner Co-Akteure reagiert. [Huebner 2016:81]
Trotz allem kann Reinhart je nach Interpretation und Vorstellungen des Lesers auch zur Identifikationsfigur werden. Zur Vermeidung einer eventuellen Antipathie mit dem Fuchs dient seine Schlauheit, mit der auf das Laster der Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit seiner Co-Akteure reagiert. [Huebner 2016:81]


Am Anfang des Epos hingegen [[Reinhart der Verlierer (Reinhart Fuchs)|verliert Reinhart]] zunächst gegen den Hahn, die Meise, den Raben und den Kater. Diese Episoden sind ganz bewusst für den Anfang des Epos vorbehalten, da durch seine Rolle als "Opfer" Mitleid beim Leser hervorgerufen werden kann. Diese Sympathie ist laut Kurt Ruh wichtig, da seine zukünftigen Handlungen ausdrücklich hinterlistig und gemein sind. "Dem Erfolglosen mit reichen Gaben werden sie nie verwehrt." [Ruh 1980:18] Dies bedeutet, dass Reinhart so Sympathiepunkte sammelt, um nicht direkt am Anfang als Aggressor dazustehen. Dies ist durchaus erfolgreich: "Ich distanziere mich damit von Linke, der schon im 1. Teil Reinhart schlechterdings zur 'Inkarnation des Bösen' macht." [Ruh 1980:18] Somit ist die Möglichkeit gegeben, sich vom [[Reinhart der Verlierer|Verlierer]] zum [[Reinhart der Sieger|Sieger]] zu entwickeln.  
Am Anfang des Epos hingegen [[Reinhart der Verlierer (Reinhart Fuchs)|verliert Reinhart]] zunächst gegen den Hahn, die Meise, den Raben und den Kater. Diese Episoden sind ganz bewusst für den Anfang des Epos vorbehalten, da durch seine Rolle als "Opfer" Mitleid beim Leser hervorgerufen werden kann. Diese Sympathie ist laut Kurt Ruh wichtig, da seine zukünftigen Handlungen ausdrücklich hinterlistig und gemein sind. "Dem Erfolglosen mit reichen Gaben werden sie nie verwehrt." [Ruh 1980:18] Dies bedeutet, dass Reinhart so Sympathiepunkte sammelt, um nicht direkt am Anfang als Aggressor dazustehen. Das ist auch durchaus erfolgreich: "Ich distanziere mich damit von Linke, der schon im 1. Teil Reinhart schlechterdings zur 'Inkarnation des Bösen' macht." [Ruh 1980:18] Ein gewisses Mitfühlen, wenn auch nicht unbedingt Mitleid wird auf die Figur des Fuchses übertragen. Somit ist die Möglichkeit gegeben, sich vom [[Reinhart der Verlierer|Verlierer]] zum [[Reinhart der Sieger|Sieger]] zu entwickeln. Allerdings verliert Reinhart nicht unbedingt auf eine solche grausame Weise, wie die anderen Tiere, die seinen zukünftigen Handlungen zum Opfer werden.
 
Ein Opfer von Ungerechtigkeiten darf auf positive Anteilnahme in Form von Unterstützung, Aufmerksamkeit und Status hoffen.[Ok 2020] Es ist nicht nur bemerkenswert, dass Reinhart, moralisch bewertet, durch diesen schlechten Start so manches Verbrechen verziehen wird und er sogar bis zum Schluss auf die Sympathie derjenigen hoffen kann, die in dem Schlaueren auch jenen sehen der die Oberhand gewinnen sollte. Auch ist dieses Vorgehen, sofern es mit Absicht von Reinhart so herbei geführt wurde, auch mit macchiavellistischen Charakterzügen in Verbindung zu bringen. [Ok 2020] In der Episode mit dem Raben gibt Reinhart vor, verletzt zu sein, um nah genug an den Raben zu kommen und ihn zu reißen. Dies ist möglicherweise ein Hinweis für die mit Absicht herbei geführte Rolle des Verlierers, der sich nicht an die gleichen moralischen Konventionen zu halten hat, wie ein Gewinner.
Ein Opfer von Ungerechtigkeiten darf auf positive Anteilnahme in Form von Unterstützung, Aufmerksamkeit und Status hoffen.[Ok 2020] Es ist nicht nur bemerkenswert, dass Reinhart, moralisch bewertet, durch diesen schlechten Start so manches Verbrechen verziehen wird und er sogar bis zum Schluss auf die Sympathie derjenigen hoffen kann, die in dem Schlaueren auch jenen sehen der die Oberhand gewinnen sollte. Auch ist dieses Vorgehen, sofern es mit Absicht von Reinhart so herbei geführt wurde, auch mit macchiavellistischen Charakterzügen in Verbindung zu bringen. [Ok 2020] In der Episode mit dem Raben gibt Reinhart vor, verletzt zu sein, um nah genug an den Raben zu kommen und ihn zu reißen. Dies ist möglicherweise ein Hinweis für die mit Absicht herbei geführte Rolle des Verlierers, der sich nicht an die gleichen moralischen Konventionen zu halten hat, wie ein Gewinner.


Des Weiteren ergibt sich so für Reinhart die Chance, ein Bündnis mit dem Wolf Isengrin einzugehen, dem er in den nächsten Episoden den größten Schaden und Schmerz zufügt. Ohne diese anfangs entwickelte Symphatie für Reinhart wäre wohl kein Pakt zustande gekommen.
Des Weiteren ergibt sich so für Reinhart die Chance, ein Bündnis mit dem Wolf Isengrin einzugehen, dem er in den nächsten Episoden den größten Schaden und Schmerz zufügt. Ohne diese anfangs entwickelte Symphatie für Reinhart wäre wohl kein Pakt zustande gekommen. Seine Opferrolle nützt ihm also sogar selbst.  


Dass diese Symphatie im Laufe der Episodensammlung nicht vollends schwindet, erklärt sich mit dem Argument, dass es hier Tiere miteinander zu tun haben. Somit schwindet  "die Entwertung moralischer Kategorien" [Mecklenburg 2017:81. Deshalb sind seine Taten noch eher "vertretbar", da die Figuren als Tiere nicht nach menschlichen Trieben, sondern eben nach tierischen Trieben handeln, wobei bei den "dem Fuchs zugeschriebenen menschengleichen Eigenschaften eben doch der appetitus des Raubtiers hindurchbricht." [Mecklenburg 2017:81]
Dass diese Symphatie im Laufe der Episodensammlung nicht vollends schwindet, erklärt sich mit dem Argument, dass es hier Tiere miteinander zu tun haben. Somit schwindet  "die Entwertung moralischer Kategorien" [Mecklenburg 2017:81]. Deshalb sind seine Taten noch eher "vertretbar", da die Figuren als Tiere nicht nach menschlichen Trieben, sondern eben nach tierischen Trieben handeln, wobei bei den "dem Fuchs zugeschriebenen menschengleichen Eigenschaften eben doch der appetitus des Raubtiers hindurchbricht." [Mecklenburg 2017:81] Es ist also möglich, trotz Reinharts Handlungen mit ihm Mitleid zu schließen, oder zumindest dieses Mitleid zu verteidigen.


== Moralische Überlegenheit Reinharts ==
== Moralische Überlegenheit Reinharts ==
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Viel wichtiger ist jedoch die Betrachtung der Herrschaft Vrevels im tugendethischen Sinne. Da Reinhart in der Lage war, diese Herrschaft so zu beeinflussen, dass es ein Weiterer wie Reinhart in Zukunft wieder tun könne, ergibt sich daraus eine Handlungsmoral, die erlaubt, den Hofstaat und alle seine Unterstützer dem Untergang zu weihen und zu stürzen. Denn die langfristige Perspektive eines "glückseligen Hofstaates" ist der kurzfristigen, schlechten Gewaltanwendung unterzuordnen und demnach legitim. [Huebner 2016: 90,91]
Viel wichtiger ist jedoch die Betrachtung der Herrschaft Vrevels im tugendethischen Sinne. Da Reinhart in der Lage war, diese Herrschaft so zu beeinflussen, dass es ein Weiterer wie Reinhart in Zukunft wieder tun könne, ergibt sich daraus eine Handlungsmoral, die erlaubt, den Hofstaat und alle seine Unterstützer dem Untergang zu weihen und zu stürzen. Denn die langfristige Perspektive eines "glückseligen Hofstaates" ist der kurzfristigen, schlechten Gewaltanwendung unterzuordnen und demnach legitim. [Huebner 2016: 90,91]
== Legitimierung der Gewaltanwendung ==
Reinhart ist mit seinem gewaltsamen Vorgehen erfolgreicher als seine Gegenspieler, was es leichter macht, sich hinter seinen Charakter zu stellen. [Huebner 2016:90] Sich mit dem Sieger identifizieren zu können ist immer etwas, wonach der Leser streben kann. Es wird geschätzt, sich wie ein Gewinner fühlen zu können. Wie sich die Figur in eine solche Siegesposition begeben hat, kann dabei oft leichter ausgeblendet werden. Aber ist die Gewaltanwendung Reinharts tatsächlich moralisch besser und legitimer, nur weil er durch seine zielgerichteten Handlungen erfolgreicher ist als seine Kontrahenten? Ist ein Machtmonopol nur deswegen legitim, weil es an der Spitze steht? Diese Frage kann man vermutlich mit "ja" beantworten. Aber die Moral verhält sich nicht wie ein solches Monopol. Ist der Sieger immer im Recht? Das ist streitbar, es lassen sich Beispiele finden, wo der Sieg nur durch Betrug oder Verrat erhalten wird. Ist ein solcher Sieg moralisch gut? Sind die Handlungen, die zu einem solchen Sieg führen moralisch gut? Zählt nur das Ergebnis, und nicht der Weg zu diesem? Je nach eigener Meinung ändern sich die Antworten auf diese Fragen deutlich. Und damit auch auch die Antwort, ob Reinhart moralisch legitim handelt oder nicht.
Für die Bewertung vieler ist dabei entscheidend, um welche Art der Gewalt es sich handelt. So schreibt Cora Dietl „Literatur vermag nicht nur potestas und violentia zu unterscheiden und Richtlinien zur Erkenntnis von ‚gerechter Gewalt‘ zu vermitteln, sondern auch über die Formen der Gewaltstilisierung zu reflektieren.“ [Dietl 2010:44] Violentia, oder die "bose gewalt" ist hierbei solche, die gegen die Regulierungen und den Ehrenkodex des Ritterkampfes verstößt. Denn da "Ritterliche Ehre [...] durch den Kampf und das heißt durch die Ausübung von Gewalt errungen" wird, ist diese natürlich gewissen Regeln unterworfen. Der Ausdruck potestas beschreibt verbal vermittelbare Gewalt, die gerechtfertigt werden kann, als Gegenstück zu der violentia. Die Tiere in Reinhart Fuchs, dabei vor allem der Namensgebende Fuchs selbst, handeln jedoch meist nicht einmal ansatzweise nach diesem Verhaltenskodex. Im Gegenteil, es wird mehr der Anschein erweckt, dass gerade diese Idee von Ehre und ehrvollem Verhalten aufs Ärgste verspottet wird. Dietl beschreibt das gegebene Verhalten sehr passend mit "Jede Form ritterlichen Ehrenkampfes wird verworfen zugunsten einer Darstellung unkontrollierter Gewaltanwendung." [Dietl 2010:54] Reinhart selbst macht sich bereits augenblicklich nach der Tat über die Vergewaltigung der Wölfin lustig und die Vergewaltigung wird nie als solche bezeichnet. Generell werden alle Gräueltaten, die die verschiedenen Tiere erleiden nur selten aus deren Opferperspektive gezeigt. Spott und Hohn nehmen meistens wesentlich dominantere Züge an. Für Dietl ist die Gewalt im Reinhart Fuchs nahezu ausschließlich in der Form von violentia vorzufinden, welche sich, sofern es sich zu diesem Zeitpunkt um einen anthropomorphen Akteur handelt, nicht legitimieren lässt. Zumindest nicht mit den Argumenten des ritterlichen Ehrenkampfes.
== Gewissen ==
Was ebenfalls in dieser Geschichte auffällt, ist, dass keines der Tiere von einem schlechtem Gewissen geplagt wird. Wirkliche Reue zeigen die verschiedenen Wesen ebenfalls nicht, zumindest nicht im Bezug auf die Taten, die sie selbst zu verantworten haben. Anders als zum Beispiel die Mönche, die es bereuen, den Wolf Isengrin so zugerichtet zu haben, nachdem dem Prior bewusst wird, dass es im alten Testament einen beschnittenen Wolf gibt, scheinen die Tiere selbst ihre Taten nur auf einer sehr persönlichen Ebene zu bedauern. Nämlich, wenn sie selbst einen Nachteil durch diese erhalten. Ein menschlicher Akteur wäre vermutlich nicht in der Lage, jemanden zu vergewaltigen nur weil er eine Gelegenheit dafür sieht, und sich sofort über sein Opfer lustig zu machen und zu amüsieren.
Warum scheint keines der Tiere ein solches Gewissen aufzuzeigen? Diese Frage lässt sich mit zwei Verschiedenen Argumenten beantworten. Zum einen handeln die Tiere für manche ihrer Taten selbst als Tier und nicht als anthropomorpher Akteur. In einem solchen Kontext ist das Töten und Fressen von seinen Feinden nicht weiter problematisch, ja sogar natürlich oder rechtens. Die Selbsterhaltung besitzt mehr Gewicht, als das Überleben anderer, dies ist im Tierreich umso eindeutiger und keine unübliche Sichtweise. [Huebner 2016]:78 Das ein hungriges Tier kein schlechtes Gewissen hat, ja sogar nicht einmal haben kann, macht dieses ein leichtes Argument.
Schwieriger jedoch wird es, wenn anthropomorphe Beweggründe oder ein Abbild dieser bei den Tieren zu erkennen ist. Wie oben bereits aufgezeigt, ist dies im Reinhart Fuchs bei weitem kein  Einzelfall. Wie kommt es, das Verhaltensmuster mit doch so menschlichen Zügen und Wünschen, dennoch nicht zu einem schlechtem Gewissen führen? Ein möglicher Grund könnte der oben genannte Rachefeldzug sein. Der Fuchs empfindet keine Reue, sondern mehr ein boshaftes Vergnügen an den Grausamkeiten, für die er verantwortlich ist. In gewisser Weise ist dies nachvollziehbar: Wenn man es jemanden heimzahlen möchte, einen Feind Schmerz und Leid bringen will, ist ein schlechtes Gewissen als Mensch normalerweise abwesend. Diese Erklärung scheint aber nicht gänzlich passend zu sein, wenn das Augenmerk auf die plötzliche Eskalation von Gewalt legt. Für die Schmach, dass ihm die Wolfsfamilie nichts vom gemeinsam erarbeitetem Schinken übrig lässt, lockt Reinhart sie auf den Mönchshof, wo sie heftig verprügelt werden, während er selbst untertaucht und ungeschoren davonkommt. Ob diese Form der Rache angebracht ist, ist vielleicht fragwürdig, aber dabei handelt es sich um einen Streitpunkt, der durch die persönlichen Perspektive bewertet wird. Das eigentlich interessante ist, dass es nicht bei dieser einmaligen Form der Rache bleibt. Reinhart sorgt bei jedem weiterem aufeinandertreffen für weiteres Leiden auf Seiten der Wolfsfamilie, endend in dem doppeltem Höhepunkt der Vergewaltigung - zum einen handelt es sich um einen grausamen Abschluss, zum anderen um einen tatsächlichen Höhepunkt, den Reinhart selbst genießen kann.
Wie kann es sein, dass eine solche Eskalation an Bestrafung und Rache ohne jegliche Schwierigkeiten erfolgt? Es handelt sich bei solchen Taten schon längst nicht mehr um solche, die man verantworten könnte, auch dann nicht wenn sie unter den Begriff Rachefeldzug fallen. Ruh gibt an, dass er sich von Linke distanziert, der Reinhart früh zu einer Inkarnation des Bösen erklärt [Ruh 1980]:18, aber nicht nur wird Reinhart im Text selbst als böse bezeichnet, er versucht scheinbar so grausam wie möglich zu werden, ohne dabei zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Von dem früheren Sympathieträger "Reinhart der Verlierer" bleibt im Verlauf der Geschehnisse wenig bis nichts übrig. Er wirkt immer mehr unbarmherzig und kalt, ohne anzudeuten, dass ihm der Begriff "Verhältnismäßigkeit" irgendetwas sagt.


== Fazit ==
== Fazit ==


Reinharts amoralisch schlaues Handeln ist in der amoralischen Welt erfolgreich, amoralisch unschlaues Handeln führt hingegen zum Misserfolg. [Huebner 2016:81] Daher gibt es - je nach Interpretation und persönlichen Vorstellungen des Lesers - zwei unterschiedliche Ansätze, die Figur Reinharts zu bewerten: Aus einer moralischen Sichtweise kann Reinhart vom Leser einerseits verachtet werden, andererseits jedoch sogar zu einer Identifikationsfigur werden.
Reinharts amoralisch schlaues Handeln ist in der amoralischen Welt erfolgreich, amoralisch unschlaues Handeln führt hingegen zum Misserfolg. [Huebner 2016:81] Daher gibt es - je nach Interpretation und persönlichen Vorstellungen des Lesers - zwei unterschiedliche Ansätze, die Figur Reinharts zu bewerten: Aus einer moralischen Sichtweise kann Reinhart vom Leser einerseits verachtet werden, andererseits jedoch sogar zu einer Identifikationsfigur werden. Davon lenkt auch nicht das scheinbar nicht existente Gewissen oder die boshafte Freude, die er bei seinen Taten empfindet, ab.


"Die tatsächliche herrschaftliche Machtausübung schließlich unterscheidet sich in ihrer Intention und ihrer Wirkung nicht von der hoheitlichen Gewalt. Allein der Blickwinkel ist ein anderer [...]", [Dietl 2010:54] über die Moral in Reinhart Fuchs. Macchiavellis Argumente aus "der Fürst" legen in diesem Kontext nahe, dass die Anwendung von Gewalt an sich moralisch nicht verwerflich ist, solange ohnehin Gewalt ausgeübt wird. Die Krux ist jedoch aus seiner Sicht, diese zu verschleiern und die Perspektive zu seinem eigenen Vorteil zu verschieben. Denn solange der König Vrevel der ''kundikeite'' von Reinhart nichts entgegen zu setzen hat, läuft auch die königliche Macht voll und ganz ins Leere und setzt somit den gesamten Hofstaat der Willkür eines einzelnen Akteurs aus.
"Die tatsächliche herrschaftliche Machtausübung schließlich unterscheidet sich in ihrer Intention und ihrer Wirkung nicht von der hoheitlichen Gewalt. Allein der Blickwinkel ist ein anderer [...]", [Dietl 2010:54] über die Moral in Reinhart Fuchs. Macchiavellis Argumente aus "der Fürst" legen in diesem Kontext nahe, dass die Anwendung von Gewalt an sich moralisch nicht verwerflich ist, solange ohnehin Gewalt ausgeübt wird. Die Krux ist jedoch aus seiner Sicht, diese zu verschleiern und die Perspektive zu seinem eigenen Vorteil zu verschieben. Denn solange der König Vrevel der ''kundikeite'' von Reinhart nichts entgegen zu setzen hat, läuft auch die königliche Macht voll und ganz ins Leere und setzt somit den gesamten Hofstaat der Willkür eines einzelnen Akteurs aus.
Die Perspektive des Leser wird hierbei entscheidend. Es ist nicht nur die Frage, ob Gewaltanwendung an sich akzeptabel ist, sondern auch, ob Gewalt in den Umständen Reinharts moralisch in Ordnung ist. Macchiavellis scheint dem, wie oben gesagt, zuzustimmen. Es handelt sich dabei ja aber um eine eigene Einschätzung, der Leser muss diese nicht teilen. Und selbst, wenn Gewalt in einem solchem Umfeld moralisch unbedenklich ist: Dann stellt sich die Frage, ob Gewalt und Grausamkeit in einem solchem willkürlichem Ausmaß, wie sie Reinhart verwendet, immer noch unbedenklich ist. Gibt es eine Grenze, die der Fuchs möglicherweise überschreitet? Man kann Argumente für beide Seiten finden.


==Literatur==
==Literatur==


<HarvardReferences />
 
*[*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
*[*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
*[*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: Abenteuerliche Überkreuzungen, 2017.
*[*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: Abenteuerliche Überkreuzungen, 2017.
*[*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg, 2016.
*[*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg, 2016.
*[*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48.
*[*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48.
*[*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs, eine antihöfische Kontrafaktur. 1980.
*[*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33.
*[*Ok 2020] Ok, Erin, Qian, Y., Strejcek, B., & Aquino, K. 2020. Signaling virtuos victimhood as indicators of Dark Triad personalities. Journal of Personality and Social Psychology.
*[*Ok 2020] Ok, Erin, Qian, Y., Strejcek, B., & Aquino, K. 2020. Signaling virtuos victimhood as indicators of Dark Triad personalities. Journal of Personality and Social Psychology.
<HarvardReferences />
 
*[*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005.
*[*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005.

Aktuelle Version vom 6. Mai 2024, 10:59 Uhr

Dieser Artikel behandelt sowohl die persönliche Moral von "Reinhart Fuchs" im gleichnamigen Tierepos von Heinrich dem Glîchezâren, als auch die übergeordnete Moral des gesamten Tierepos, welche Reinhart als Protagonist durch seine Taten dominiert. Ziel dabei ist es, die Merkmale dieser Moral durch die Beantwortung von verschiedenen Kernpunkte herauszuarbeiten.

Betrachtete Dimensionen durch diese Punkte sind folgende: Um zunächst die Moral von Reinhart selbst zu klären wird untersucht, inwiefern Reinhart als ein Tier einem Moralkodex unterworfen ist oder sein kann und in welcher Weise Reinhart vielleicht als Tier moralisch verwerflich handeln darf, obwohl er nicht lediglich versucht, zu überleben. Um die Moral des gesamten Epos zu klären, wird zudem die Frage beleuchtet inwiefern Reinhart als ein Akteur der Besserung der Gesellschaft handelt, da er mit seinen Taten dem unrechtmäßigem Herrscher König Vrevel schadet oder ob er nur egoistisch für sich selbst agiert. Auch die möglichen Versuche zur Legitimierung der Gewalt, sowie das scheinbar nicht ausgeprägte Gewissen der Figuren wird behandelt.

Mensch versus Tier

Reinhart als anthropomorpher Akteur (Mensch)

Die Aspekte nach denen sich ein Mensch von einem Tier unterscheidet, sind Vernunft, Sprachvermögen, zum Teil Moral und Werte des Christentums, die besagen, dass Tiere dem Menschen unterstellt seien und unter anderem als Ernährung zu dienen hätten [Kompatscher-Gufler 2017: 33]. Neben der Moral kommt auch der Vernunft eine tiefere Bedeutung zu. Diese wird im Abschnitt der moralischen Überlegenheit Reinharts behandelt.

Nimmt man an, dass es sich bei Reinhart um einen anthropomorphen Akteur handelt, so geschieht die Trennung von der tierischen und das gleichzeitige Hervortreten der menschlichen Seite immer dann, wenn Reinhart sich nicht mehr nur um seines Lebens willen verteidigt oder andere überlistet, um zu Nahrung zu kommen, sondern wenn die Moral in Form von Abwesenheit in Erscheinung tritt. Erst dann, wenn Reinhart eine Heimtücke an den Tag legt, die unschuldigen Tieren, welche sich lediglich paaren und fressen, fremd ist, offenbart sich, dass es sich hier nicht nur um ein armes Tier handelt, welches sich wehrt, sondern um eine Art Rachefeldzug [Huebner 2016:92]. Dies ist zum Beispiel in folgender Situation zu sehen als Isengrin durch Reinharts Tücke fast sein Leben verliert:


Mittelhochdeutsch Übersetzung
Isingrin pflac tumbir sinne, Isengrin war in seiner Dummheit blind,
ime gefror der zagil drinne. schon fror ihm sein Schwanz fest.
diu naht was kalt unde lieht, Es war eine klare und kalte Nacht,
sin burodir warnete sin niet. und sein Mitbruder dachte nicht daran ihn zu warnen.
Reinhartis drivwe warin laz, Von Treue konnte bei Reinhart keine Rede sein;
er gefror ie baz unde baz. immer mehr fror jener ein.
'Dirre eimir swerit', sprach Isengrin. "Der Eimer wird mir zu schwer", klagte Isengrin.
'da han ich gezellit drin "Ich habe schon dreißig Aale darin gezählt",
drizic ale', sprach Reinhart, antwortete Reinhart,
'diz wirt ein nuzze vart; "das Unternehmen wird sehr erfolgreich;
kunnint ir stille gestan, wenn ihr Euch nur ruhig verhaltet,
zehinzic wellint drin gan.' werden hundert hineingehen."

[Heinrich der Glîchezâre 2005|:V.749-860]


Isengrin friert im Eis fest und verliert, nachdem Reinhart ihn zurücklässt, durch Glück lediglich seinen Schwanz. Reinhart kann in dieser Situation ein "Persönlichkeitsrecht" zugeschrieben werden, wie es bei Menschen der Fall ist, da er sich einem Tier unüblich verhält [Kompatscher-Gufler 2017:44]. Zwar fällt diese Persönlichkeit durch unmoralisches Handeln auf, dennoch handelt es sich nicht um ein logisch-animalisches Verhalten. Reinhart gewinnt durch diese Handlung nichts hinzu, der einzige Mehrwert für Reinhart scheint die Rache an Isengrin zu sein.

Auch die Vergewaltigung (Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs) Hersants zeigt die Dreistigkeit Reinharts besonders deutlich. Reinhart empfindet keinerlei Reue für seine Tat und hat auch kein schlechtes Gewissen, sondern bittet obendrein Frau Hersant, bei ihm zu bleiben, da sie nach den Gepflogenheiten zu seinem Haushalt gehöre [Heinrich der Glîchezâre 2005:V.1178]. Weiter sagt er noch, er habe nichts Böses getan [Heinrich der Glîchezâre 2005:V.1202]. Dies legt nahe, dass Reinhart keinen Sinn für Moral hat und er sich keiner Schuld bewusst ist.

Das amoralische Handeln rückt Reinhart also eher in die menschliche Ecke. Er hintergeht andere Tiere bewusst, schadet ihnen, bzw. tötet diese sogar aufgrund von Handlungszielen wie Rache, Ehebruch oder Machtgewinn. Diese Ziele fallen nicht unter das Naturrecht auf Selbsterhaltung. Sein Handeln lässt sich, gemessen an einem Tier, nicht legitimieren. Im Gegensatz zu den anderen Tieren, die instinktiv ihren natürlichen Bedürfnissen nachgehen, wie es für sie als Tiere typisch ist, agiert der Fuchs eher menschlich. Sein menschliches Handeln übertrifft das tierische an Bestialität. [Huebner 2016:79]

Reinhart als Sympathieträger (Tier)

Trotz allem kann Reinhart je nach Interpretation und Vorstellungen des Lesers auch zur Identifikationsfigur werden. Zur Vermeidung einer eventuellen Antipathie mit dem Fuchs dient seine Schlauheit, mit der auf das Laster der Leichtgläubigkeit und Unvorsichtigkeit seiner Co-Akteure reagiert. [Huebner 2016:81]

Am Anfang des Epos hingegen verliert Reinhart zunächst gegen den Hahn, die Meise, den Raben und den Kater. Diese Episoden sind ganz bewusst für den Anfang des Epos vorbehalten, da durch seine Rolle als "Opfer" Mitleid beim Leser hervorgerufen werden kann. Diese Sympathie ist laut Kurt Ruh wichtig, da seine zukünftigen Handlungen ausdrücklich hinterlistig und gemein sind. "Dem Erfolglosen mit reichen Gaben werden sie nie verwehrt." [Ruh 1980:18] Dies bedeutet, dass Reinhart so Sympathiepunkte sammelt, um nicht direkt am Anfang als Aggressor dazustehen. Das ist auch durchaus erfolgreich: "Ich distanziere mich damit von Linke, der schon im 1. Teil Reinhart schlechterdings zur 'Inkarnation des Bösen' macht." [Ruh 1980:18] Ein gewisses Mitfühlen, wenn auch nicht unbedingt Mitleid wird auf die Figur des Fuchses übertragen. Somit ist die Möglichkeit gegeben, sich vom Verlierer zum Sieger zu entwickeln. Allerdings verliert Reinhart nicht unbedingt auf eine solche grausame Weise, wie die anderen Tiere, die seinen zukünftigen Handlungen zum Opfer werden.

Ein Opfer von Ungerechtigkeiten darf auf positive Anteilnahme in Form von Unterstützung, Aufmerksamkeit und Status hoffen.[Ok 2020] Es ist nicht nur bemerkenswert, dass Reinhart, moralisch bewertet, durch diesen schlechten Start so manches Verbrechen verziehen wird und er sogar bis zum Schluss auf die Sympathie derjenigen hoffen kann, die in dem Schlaueren auch jenen sehen der die Oberhand gewinnen sollte. Auch ist dieses Vorgehen, sofern es mit Absicht von Reinhart so herbei geführt wurde, auch mit macchiavellistischen Charakterzügen in Verbindung zu bringen. [Ok 2020] In der Episode mit dem Raben gibt Reinhart vor, verletzt zu sein, um nah genug an den Raben zu kommen und ihn zu reißen. Dies ist möglicherweise ein Hinweis für die mit Absicht herbei geführte Rolle des Verlierers, der sich nicht an die gleichen moralischen Konventionen zu halten hat, wie ein Gewinner.

Des Weiteren ergibt sich so für Reinhart die Chance, ein Bündnis mit dem Wolf Isengrin einzugehen, dem er in den nächsten Episoden den größten Schaden und Schmerz zufügt. Ohne diese anfangs entwickelte Symphatie für Reinhart wäre wohl kein Pakt zustande gekommen. Seine Opferrolle nützt ihm also sogar selbst.

Dass diese Symphatie im Laufe der Episodensammlung nicht vollends schwindet, erklärt sich mit dem Argument, dass es hier Tiere miteinander zu tun haben. Somit schwindet "die Entwertung moralischer Kategorien" [Mecklenburg 2017:81]. Deshalb sind seine Taten noch eher "vertretbar", da die Figuren als Tiere nicht nach menschlichen Trieben, sondern eben nach tierischen Trieben handeln, wobei bei den "dem Fuchs zugeschriebenen menschengleichen Eigenschaften eben doch der appetitus des Raubtiers hindurchbricht." [Mecklenburg 2017:81] Es ist also möglich, trotz Reinharts Handlungen mit ihm Mitleid zu schließen, oder zumindest dieses Mitleid zu verteidigen.

Moralische Überlegenheit Reinharts

Zunächst wird die Textstelle herangezogen, in der der Löwe durch Reinhart den Tod findet [Heinrich der Glîchezâre 2005:V.2168-2183]. Reinhart hat sich zuvor erfolgreich von allen Anklagepunkten befreit, indem er die Ankläger mit Hilfe des Königs ärztlicher Behandlung aus dem Weg räumte. Doch sogar seinen Helfern, dem Elefant, dem Kamel und dem Löwen selbst, bleibt seine Hinterlist nicht erspart:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
er sprach: ,herre, ich will eu geben einen tranc, Er sagte: "Herr, hier ist eine Arznei
so sit ir ze hant genesen.' die wird Euch sofort auf den Weg der Genesung bringen.
der kunic sprach: ,daz sol wesen.' Der König antwortete: "So soll es geschehen."

[Heinrich der Glîchezâre 2005|:V.2168-2170]

Obwohl der Ameisenkönig schon einige Zeit zuvor von Reinhart aus dem Gehörgang des Königs entfernt worden war, wartet der König Vrevel weiterhin gutgläubig auf die verhießene Genesung. Der Löwe hat augenscheinlich seine Mündigkeit aufgegeben und überlässt sein Schicksal weiterhin seinem Arzt Reinhart. Die füchsische Schlauheit hat hier die löwenhafte Gewaltanwendung ad absurdum geführt. [Huebner 2016:78]


Mittelhochdeutsch Übersetzung
do brov er des kuniges tot. Da braute er des Königs Tod zusammen.
Reinhart was ubele unde rot, Reinhart war böse und blutrünstig,
daz tet er da vil wol schin: wie er jetzt gänzlich deutlich machte:
er vergab dem Herren sin. er vergiftete seinen Herrn.
daz sol niman clagen harte; Es soll sich aber niemand beklagen:
waz want er han an Reinharte? was dachte sich jener woran er an Reinhart ist?

[Heinrich der Glîchezâre 2005|:V.2171-2176]

Die Frage wird aufgeworfen, inwiefern der König durch Selbstverschulden in diese missliche Lage geraten ist.


Mittelhochdeutsch Übersetzung
iz ist noh schade, wizze krist, Gott weiß es ist sehr schade,
daz manic loser werder ist dass so mancher Betrüger bei Hof
ze hove, danne si ein man, geachteter ist, als ein Mann,
der nie valsches began. der nie etwas falsches getan hat.
swelch herre des volget ane not Alle Herren die freiwillig diesem Beispiel folgend
unde teten sie deme den tot, den Tod finden,
daz weren gute mere. wären gute Nachrichten.

[Heinrich der Glîchezâre 2005|:V.2177-2183]

Eine moralische Überlegenheit Reinharts könnte sich einerseits daraus ergeben, dass er in der Lage ist, alle anderen in die Irre zu führen und somit sogar das Gewaltmonopol des Herrschers Vrevel infrage stellen kann. Andererseits ist diese moralische Überlegenheit, die sich daraus ergibt, im Wesen eine Tautologie, da erst durch das Brechen des Gewaltmonopols die Herrschaft Vrevels infrage gestellt werden kann und dessen willkürliche Gewaltanwendung Kritik auf sich ziehen mag. Hier ist die Gewalt, die von Reinhart ausgeht, um alle Feinde im Hofstaat aus dem Weg zu räumen, die zielgerichtetere und deshalb die erfolgreichere und so auch die moralisch besser vertretbare. [Huebner 2016:90] Der Eigennutz ist im macchiavellistischen Sinn der Maßstab der Moral. Jedoch wird dies sehr schnell wieder durch die weitere Bestrafung des Kamels und des Elefanten negiert, wo die Gewalt durch Reinhart eher willkürlich erscheint. Die ordnungswahrende Gewalt von Vrevel wandelt sich hingegen aus der Sicht des Hofstaates durch Reinharts Einwirken in eine ebenfalls willkürliche . [Huebner 2016:79] Allerdings ist die Legitimität eines Herrschers fast immer eine Tautologie, die wahre Macht bezieht sich aus der Legitimierung der Untertanen.

Viel wichtiger ist jedoch die Betrachtung der Herrschaft Vrevels im tugendethischen Sinne. Da Reinhart in der Lage war, diese Herrschaft so zu beeinflussen, dass es ein Weiterer wie Reinhart in Zukunft wieder tun könne, ergibt sich daraus eine Handlungsmoral, die erlaubt, den Hofstaat und alle seine Unterstützer dem Untergang zu weihen und zu stürzen. Denn die langfristige Perspektive eines "glückseligen Hofstaates" ist der kurzfristigen, schlechten Gewaltanwendung unterzuordnen und demnach legitim. [Huebner 2016: 90,91]


Legitimierung der Gewaltanwendung

Reinhart ist mit seinem gewaltsamen Vorgehen erfolgreicher als seine Gegenspieler, was es leichter macht, sich hinter seinen Charakter zu stellen. [Huebner 2016:90] Sich mit dem Sieger identifizieren zu können ist immer etwas, wonach der Leser streben kann. Es wird geschätzt, sich wie ein Gewinner fühlen zu können. Wie sich die Figur in eine solche Siegesposition begeben hat, kann dabei oft leichter ausgeblendet werden. Aber ist die Gewaltanwendung Reinharts tatsächlich moralisch besser und legitimer, nur weil er durch seine zielgerichteten Handlungen erfolgreicher ist als seine Kontrahenten? Ist ein Machtmonopol nur deswegen legitim, weil es an der Spitze steht? Diese Frage kann man vermutlich mit "ja" beantworten. Aber die Moral verhält sich nicht wie ein solches Monopol. Ist der Sieger immer im Recht? Das ist streitbar, es lassen sich Beispiele finden, wo der Sieg nur durch Betrug oder Verrat erhalten wird. Ist ein solcher Sieg moralisch gut? Sind die Handlungen, die zu einem solchen Sieg führen moralisch gut? Zählt nur das Ergebnis, und nicht der Weg zu diesem? Je nach eigener Meinung ändern sich die Antworten auf diese Fragen deutlich. Und damit auch auch die Antwort, ob Reinhart moralisch legitim handelt oder nicht.

Für die Bewertung vieler ist dabei entscheidend, um welche Art der Gewalt es sich handelt. So schreibt Cora Dietl „Literatur vermag nicht nur potestas und violentia zu unterscheiden und Richtlinien zur Erkenntnis von ‚gerechter Gewalt‘ zu vermitteln, sondern auch über die Formen der Gewaltstilisierung zu reflektieren.“ [Dietl 2010:44] Violentia, oder die "bose gewalt" ist hierbei solche, die gegen die Regulierungen und den Ehrenkodex des Ritterkampfes verstößt. Denn da "Ritterliche Ehre [...] durch den Kampf und das heißt durch die Ausübung von Gewalt errungen" wird, ist diese natürlich gewissen Regeln unterworfen. Der Ausdruck potestas beschreibt verbal vermittelbare Gewalt, die gerechtfertigt werden kann, als Gegenstück zu der violentia. Die Tiere in Reinhart Fuchs, dabei vor allem der Namensgebende Fuchs selbst, handeln jedoch meist nicht einmal ansatzweise nach diesem Verhaltenskodex. Im Gegenteil, es wird mehr der Anschein erweckt, dass gerade diese Idee von Ehre und ehrvollem Verhalten aufs Ärgste verspottet wird. Dietl beschreibt das gegebene Verhalten sehr passend mit "Jede Form ritterlichen Ehrenkampfes wird verworfen zugunsten einer Darstellung unkontrollierter Gewaltanwendung." [Dietl 2010:54] Reinhart selbst macht sich bereits augenblicklich nach der Tat über die Vergewaltigung der Wölfin lustig und die Vergewaltigung wird nie als solche bezeichnet. Generell werden alle Gräueltaten, die die verschiedenen Tiere erleiden nur selten aus deren Opferperspektive gezeigt. Spott und Hohn nehmen meistens wesentlich dominantere Züge an. Für Dietl ist die Gewalt im Reinhart Fuchs nahezu ausschließlich in der Form von violentia vorzufinden, welche sich, sofern es sich zu diesem Zeitpunkt um einen anthropomorphen Akteur handelt, nicht legitimieren lässt. Zumindest nicht mit den Argumenten des ritterlichen Ehrenkampfes.


Gewissen

Was ebenfalls in dieser Geschichte auffällt, ist, dass keines der Tiere von einem schlechtem Gewissen geplagt wird. Wirkliche Reue zeigen die verschiedenen Wesen ebenfalls nicht, zumindest nicht im Bezug auf die Taten, die sie selbst zu verantworten haben. Anders als zum Beispiel die Mönche, die es bereuen, den Wolf Isengrin so zugerichtet zu haben, nachdem dem Prior bewusst wird, dass es im alten Testament einen beschnittenen Wolf gibt, scheinen die Tiere selbst ihre Taten nur auf einer sehr persönlichen Ebene zu bedauern. Nämlich, wenn sie selbst einen Nachteil durch diese erhalten. Ein menschlicher Akteur wäre vermutlich nicht in der Lage, jemanden zu vergewaltigen nur weil er eine Gelegenheit dafür sieht, und sich sofort über sein Opfer lustig zu machen und zu amüsieren.

Warum scheint keines der Tiere ein solches Gewissen aufzuzeigen? Diese Frage lässt sich mit zwei Verschiedenen Argumenten beantworten. Zum einen handeln die Tiere für manche ihrer Taten selbst als Tier und nicht als anthropomorpher Akteur. In einem solchen Kontext ist das Töten und Fressen von seinen Feinden nicht weiter problematisch, ja sogar natürlich oder rechtens. Die Selbsterhaltung besitzt mehr Gewicht, als das Überleben anderer, dies ist im Tierreich umso eindeutiger und keine unübliche Sichtweise. [Huebner 2016]:78 Das ein hungriges Tier kein schlechtes Gewissen hat, ja sogar nicht einmal haben kann, macht dieses ein leichtes Argument.

Schwieriger jedoch wird es, wenn anthropomorphe Beweggründe oder ein Abbild dieser bei den Tieren zu erkennen ist. Wie oben bereits aufgezeigt, ist dies im Reinhart Fuchs bei weitem kein Einzelfall. Wie kommt es, das Verhaltensmuster mit doch so menschlichen Zügen und Wünschen, dennoch nicht zu einem schlechtem Gewissen führen? Ein möglicher Grund könnte der oben genannte Rachefeldzug sein. Der Fuchs empfindet keine Reue, sondern mehr ein boshaftes Vergnügen an den Grausamkeiten, für die er verantwortlich ist. In gewisser Weise ist dies nachvollziehbar: Wenn man es jemanden heimzahlen möchte, einen Feind Schmerz und Leid bringen will, ist ein schlechtes Gewissen als Mensch normalerweise abwesend. Diese Erklärung scheint aber nicht gänzlich passend zu sein, wenn das Augenmerk auf die plötzliche Eskalation von Gewalt legt. Für die Schmach, dass ihm die Wolfsfamilie nichts vom gemeinsam erarbeitetem Schinken übrig lässt, lockt Reinhart sie auf den Mönchshof, wo sie heftig verprügelt werden, während er selbst untertaucht und ungeschoren davonkommt. Ob diese Form der Rache angebracht ist, ist vielleicht fragwürdig, aber dabei handelt es sich um einen Streitpunkt, der durch die persönlichen Perspektive bewertet wird. Das eigentlich interessante ist, dass es nicht bei dieser einmaligen Form der Rache bleibt. Reinhart sorgt bei jedem weiterem aufeinandertreffen für weiteres Leiden auf Seiten der Wolfsfamilie, endend in dem doppeltem Höhepunkt der Vergewaltigung - zum einen handelt es sich um einen grausamen Abschluss, zum anderen um einen tatsächlichen Höhepunkt, den Reinhart selbst genießen kann.

Wie kann es sein, dass eine solche Eskalation an Bestrafung und Rache ohne jegliche Schwierigkeiten erfolgt? Es handelt sich bei solchen Taten schon längst nicht mehr um solche, die man verantworten könnte, auch dann nicht wenn sie unter den Begriff Rachefeldzug fallen. Ruh gibt an, dass er sich von Linke distanziert, der Reinhart früh zu einer Inkarnation des Bösen erklärt [Ruh 1980]:18, aber nicht nur wird Reinhart im Text selbst als böse bezeichnet, er versucht scheinbar so grausam wie möglich zu werden, ohne dabei zur Rechenschaft gezogen werden zu können. Von dem früheren Sympathieträger "Reinhart der Verlierer" bleibt im Verlauf der Geschehnisse wenig bis nichts übrig. Er wirkt immer mehr unbarmherzig und kalt, ohne anzudeuten, dass ihm der Begriff "Verhältnismäßigkeit" irgendetwas sagt.

Fazit

Reinharts amoralisch schlaues Handeln ist in der amoralischen Welt erfolgreich, amoralisch unschlaues Handeln führt hingegen zum Misserfolg. [Huebner 2016:81] Daher gibt es - je nach Interpretation und persönlichen Vorstellungen des Lesers - zwei unterschiedliche Ansätze, die Figur Reinharts zu bewerten: Aus einer moralischen Sichtweise kann Reinhart vom Leser einerseits verachtet werden, andererseits jedoch sogar zu einer Identifikationsfigur werden. Davon lenkt auch nicht das scheinbar nicht existente Gewissen oder die boshafte Freude, die er bei seinen Taten empfindet, ab.

"Die tatsächliche herrschaftliche Machtausübung schließlich unterscheidet sich in ihrer Intention und ihrer Wirkung nicht von der hoheitlichen Gewalt. Allein der Blickwinkel ist ein anderer [...]", [Dietl 2010:54] über die Moral in Reinhart Fuchs. Macchiavellis Argumente aus "der Fürst" legen in diesem Kontext nahe, dass die Anwendung von Gewalt an sich moralisch nicht verwerflich ist, solange ohnehin Gewalt ausgeübt wird. Die Krux ist jedoch aus seiner Sicht, diese zu verschleiern und die Perspektive zu seinem eigenen Vorteil zu verschieben. Denn solange der König Vrevel der kundikeite von Reinhart nichts entgegen zu setzen hat, läuft auch die königliche Macht voll und ganz ins Leere und setzt somit den gesamten Hofstaat der Willkür eines einzelnen Akteurs aus.

Die Perspektive des Leser wird hierbei entscheidend. Es ist nicht nur die Frage, ob Gewaltanwendung an sich akzeptabel ist, sondern auch, ob Gewalt in den Umständen Reinharts moralisch in Ordnung ist. Macchiavellis scheint dem, wie oben gesagt, zuzustimmen. Es handelt sich dabei ja aber um eine eigene Einschätzung, der Leser muss diese nicht teilen. Und selbst, wenn Gewalt in einem solchem Umfeld moralisch unbedenklich ist: Dann stellt sich die Frage, ob Gewalt und Grausamkeit in einem solchem willkürlichem Ausmaß, wie sie Reinhart verwendet, immer noch unbedenklich ist. Gibt es eine Grenze, die der Fuchs möglicherweise überschreitet? Man kann Argumente für beide Seiten finden.

Literatur

  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: Abenteuerliche Überkreuzungen, 2017.
  • [*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg, 2016.
  • [*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler: "Mensch-Tier Grenze", in: Human-animal studies. eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende, 2017, S. 31-48.
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik 25), S. 13-33.
  • [*Ok 2020] Ok, Erin, Qian, Y., Strejcek, B., & Aquino, K. 2020. Signaling virtuos victimhood as indicators of Dark Triad personalities. Journal of Personality and Social Psychology.
  • [*Heinrich der Glîchezâre 2005] Heinrich der Glîchezære: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hrsg., übers. und erläu. von Karl-Heinz Götter, Reclam: Stuttgart 2005.