Erziehung fernab jeder Zivilisation: Unterschied zwischen den Versionen

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== – tugendhaft oder defizitär? ==
== – tugendhaft oder defizitär? ==


Der Artikel soll der Frage nachgehen, inwiefern nicht nur Parzivals Erziehung auf schmalem Grat zwischen tugendhaft und defizitär verläuft, sondern das Spannungsfeld auf einen 'Protagonistenwechsel' von Herzeloyde zu Parzival ausgeweitet werden kann. Dies soll eine Erklärung für die kaum thematisierte Schuld Herzeloydes an der anfänglichen Unwissenheit Parzivals über die Tugenden eines Ritters darstellen. Inwiefern wird auch Herzeloyde trotz der defizitären Erziehung weiterhin als tugendhafte Frau betrachtet?
== Übersicht ==
Der Artikel soll der Frage nachgehen, inwiefern nicht nur [[Parzival|''Parzivals'']] Erziehung auf schmalem Grat zwischen tugendhaft und defizitär verläuft, sondern das Spannungsfeld auf einen 'Protagonistenwechsel' von Herzeloyde zu Parzival ausgeweitet werden kann. Dies soll eine Erklärung für die kaum thematisierte Schuld Herzeloydes an der anfänglichen Unwissenheit Parzivals über die Tugenden eines Ritters darstellen. Inwiefern wird auch Herzeloyde trotz der defizitären Erziehung und den [[Parzivals Faux Pas auf der Gralsburg: Die Rolle der Erziehung|unbestreitbaren Mängeln Parzivals]], die daraus resultieren, weiterhin als tugendhafte Frau betrachtet?


Herzeloyde zieht nach dem Tod Gahmurets in die Einöde von Soltane und erzieht dort – ohne jegliche Verbindung zu anderen Gutshöfen – den gemeinsamen Sohn Parzival. Der Held wächst somit ohne ritterliche Erziehung auf, ein Fakt, der ihn bei seinem Auszug zu Artus Tafelrunde zunächst vielen Lachern aussetzt.  
== Herzeloydes Fehlverhalten? ==
Joachim Bumke nun sieht die zentrale Schuld in diesem „Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens“  in der Pädagogik Herzeloydes  und verweist damit auf eine defizitäre Erziehung.<ref>Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im Schnee. Tübingen 2001, S.56.</ref> Auf diese Sekundärliteratur rekurrierend heißt es auch in dem Artikel „Parzivals Erziehung durch „[[Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen (Wolfram von Eschenbach, Parzival)]]“, Herzeloyde sei die Ursache für Parzivals Verhalten und damit einhergehend dem nicht Stellen der Frage in der Gralsburg.  
[[Gahmuret und Herzeloyde (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Herzeloyde]] zieht nach dem Tod [[Gahmuret als Ritter (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Gahmurets]] in die Einöde von Soltane und [[Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|erzieht]] dort – ohne jegliche Verbindung zu anderen Gutshöfen – den gemeinsamen Sohn Parzival. Näheres über den Sonderraum Soltane findet sich im Artikel  [[Das Motiv des Niemandslands im Parzival (Funktion und Bedeutung)]].
Auch Sassenhausen wendet eine pädagogisch-psychologische Herangehensweise an, in der sie beschreibt, Parzival wachse nicht kindgerecht auf, ihm fehle die Vaterfigur und andere identitätsstiftende Vorbilder, sowie sozialer und kultureller Boden für ein kindgerechtes Aufwachsen, welcher ihm durch Herzeloyde vorenthalten werde.  
Der Held wächst somit ohne ritterliche Erziehung auf, ein Fakt, der ihn bei seinem Auszug zu [[König Artus (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|Artus]] Tafelrunde zunächst vielen Lachern aussetzt.  
Diesen Thesen möchte ich nun entgegenhalten, dass für ein kritisches Beleuchten des Verhaltens von Herzeloyde Textbelege rar sind. Hierzu werden zunächst die Konstituenten der verschiedenen Stufen in einem mittelalterlichen Entwicklungsroman von der Geburt bis zum Tod betrachtet.  
Joachim Bumke nun sieht die zentrale Schuld in diesem „Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens“  in der Pädagogik Herzeloydes  und verweist damit auf eine defizitäre Erziehung. [Bumke 2001:56]
Auf diese Sekundärliteratur rekurrierend heißt es auch in dem Artikel „[[Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen (Wolfram von Eschenbach, Parzival)]]“, Herzeloyde sei die Ursache für Parzivals Verhalten und damit einhergehend dem nicht Stellen der Frage in der Gralsburg.  
Auch Sassenhausen wendet eine pädagogisch-psychologische Herangehensweise an, in der sie beschreibt, Parzival wachse nicht kindgerecht auf, ihm fehle die Vaterfigur und andere identitätsstiftende Vorbilder, sowie sozialer und kultureller Boden für ein kindgerechtes Aufwachsen, welcher ihm durch Herzeloyde vorenthalten werde. [Sassenhausen 2007]
Diesen Thesen möchte ich nun entgegenhalten, dass für ein kritisches Beleuchten des Verhaltens von Herzeloyde Textbelege rar sind. Hierzu werden zunächst die Konstituenten der verschiedenen Stufen in einem mittelalterlichen Entwicklungsroman von der Geburt bis zum Tod betrachtet, um einen Vergleich zu ermöglichen.


Meist seien Biographien nach dem Aetas-Modell ausgerichtet, welches das Leben des Helden in verschiedene Abschnitte gliedert und dabei vor allem auf das ‚iuvenes‘ Alter Wert legt, in dem sich der Held in Rittertaten bewähren muss. Dieses Modell, so Sassenhausen, sei im Mittelalter an praktischen Erfahrungen des physiologischen Lebensalters orientiert. Es beginnt, was für die Analyse des Parzival wenig von Belang ist, mit der ‚infantia‘, also Kindheit, in der das Kind durch seine Hilflosigkeit mehr als Mängelwesen denn als Mensch gesehen wird. Weiterhin zeichnet sich die puerita (von puer=rein)  in mangelnder Geschlechtsreife aus, diese Phase erfordert Erziehung, um das Seelenheil der Kinder nicht zu gefährden und sie vor Sünde zu bewahren. Schon jetzt sollen Rollen und Werte vermittelt werden, wobei diese sich am Geschlecht orientieren. Diese Phase ist für die Analyse der Güte der Erziehung wichtig. In der ‚adolescentia‘, der herangereiften Phase, nimmt der Verstand des Kindes zu, doch untersteht es noch der väterlicher Gewalt; in dieser Phase zeigt sich die Vitalität aber auch Lasterhaftigkeit des Kindes. Sobald der Held nun die mütterliche Obhut verlässt, eine eigene Familie gründet und auf eigenen Füßen steht, hat er die ‚iuvenes‘ (=jung) Phase erreicht.<ref>Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007, S.68.</ref>
== Das Aetates-Modell ==
Insgesamt untersteht das menschliche Leben einzig dem Heilsplan Gottes, gleichzeitig ist die Entwicklung und der Übergang von Stadium zu Stadium schlecht am Alter festmachbar, sondern von der persönlichen Entwicklung abhängig.  
Siehe hierzu auch: [[Parzival als Entwicklungsroman (Wolfram von Eschenbach, Parzival)]]
Meist seien Biographien nach dem Aetas-Modell ausgerichtet, welches das Leben des Helden in verschiedene Abschnitte gliedert und dabei vor allem auf das ‚iuvenes‘ Alter Wert legt, in dem sich der Held in Rittertaten bewähren muss. Dieses Modell, so Sassenhausen, sei im Mittelalter an praktischen Erfahrungen des physiologischen Lebensalters orientiert. Es beginnt, was für die Analyse des Parzival wenig von Belang ist, mit der ‚infantia‘, also Kindheit, in der das Kind durch seine Hilflosigkeit mehr als Mängelwesen denn als Mensch gesehen wird. Weiterhin zeichnet sich die puerita (von puer=rein)  in mangelnder Geschlechtsreife aus, diese Phase erfordert Erziehung, um das Seelenheil der Kinder nicht zu gefährden und sie vor Sünde zu bewahren. Schon jetzt sollen Rollen und Werte vermittelt werden, wobei diese sich am Geschlecht orientieren. Diese Phase ist für die Analyse der Güte der Erziehung wichtig. In der ‚[[Adoleszenz in der Ritterwelt|adolescentia]]‘, der herangereiften Phase, nimmt der Verstand des Kindes zu, doch untersteht es noch der väterlicher Gewalt; in dieser Phase zeigt sich die Vitalität aber auch Lasterhaftigkeit des Kindes. Sobald der Held nun die mütterliche Obhut verlässt, eine eigene Familie gründet und auf eigenen Füßen steht, hat er die ‚iuvenes‘ (=jung) Phase erreicht. [Sassenhausen 2007:68]
Insgesamt untersteht das menschliche Leben einzig dem Heilsplan Gottes, gleichzeitig ist die Entwicklung und der Übergang von Stadium zu Stadium schlecht am Alter festmachbar, sondern von der persönlichen Entwicklung abhängig.
Das Aetates Modell setzt damit eine Entwicklung voraus, in der mittelalterlichen Vorstellung muss es ein Verständnis von der Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zum Tod gegeben haben. Nicht nur aus heutiger Perspektive ist damit konstitutiv, dass der Mensch auf seinem Lebensweg lernt und Erfahrungen sammelt, gleichzeitig ist ein gemeinsames Grundwissen einerseits über christlich-adelige Gesellschaft, andererseits über die eigene Identität nach Lienert vorausgesetzt. [Lienert 2014:52]


Mit der Primärliteratur verglichen verbringt Parzival also seine ‚puerita‘ in Soltane und auch vermutlich einen Teil seiner ‚adolescentia‘, das tatsächliche Alter des Helden bleibt jedoch unerwähnt. Um nun den Verlauf von Parzivals Jugend mit der mittelalterlichen Norm zu vergleichen, werde ich Kapitel drei beleuchten.
== Parzivals Jugend abgeglichen mit dem Aetates-Modell ==
Im Prolog des dritten Buches heißt es: „Wîpheit, dîn  ordenlîcher site, dem vert und fuor ie triwe mite“.(116,13-14) Der Erzähler fixiert also die Messlatte der Güte einer Frau an ihrer ‚triuwe‘ und legt damit den Grundstein für die Interpretation des Verhaltens Herzeloydes, es kann von nun an unter dem Aspekt der ‚triuwe‘ analysiert werden. Von der ‚triuwe‘, deren neuhochdeutsche Entsprechung Treue ist, heißt es weiterhin „die dolte ein wîp durch triuwe: das wart ir gâbe niuwe“. (116, 19-20) Der Grund für Herzeloydes Auszug in die Einöde und die Armut wird also direkt in Verbindung mit der ‚triuwe‘ gesehen, sie bringt sich selbst  in Armut und handelt somit aktiv um der Treue willen.
Mit der Primärliteratur verglichen verbringt Parzival also seine ‚puerita‘ in Soltane und auch vermutlich einen Teil seiner ‚adolescentia‘, das tatsächliche Alter des Helden bleibt jedoch unerwähnt. Um nun den Verlauf von Parzivals Jugend mit der mittelalterlichen Norm zu vergleichen, werde ich den Prolog und Kapitel drei beleuchten.
Allerdings, auf dieses Wort verweist auch Sassenhausen, ist dieser Umzug auch als „flühtesal“ (117,14) bezeichnet und damit zu neuhochdeutsch nicht nur als Flucht, sondern auch als Betrug (an ihrem Sohn) übersetzbar.<ref>Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007, S.106.</ref>
Einher damit geht das Handeln aus Eigeninteresse, als sie das Gesinde in Soltane zu Geheimhaltung verpflichtet, um ihren Sohn vor Kontakt zur Ritterschaft zu bewahren. Interessant in Bezug auf die Frage, ob dies nun Herzeloydes Egoismus manifestiert, ist auch der Protagonisten-wechsel, der sich ab Vers 117,29 vollzieht: Der Fokus des Werkes lag bis dahin auf Gahmuret und Herzeloyde, in der  sie als Fixpunkt natürlich auch Wünsche hat, an denen die Geschehnisse orientiert sind. So kann das eigenbezogene Handeln Herzeloydes im Kontext des Protagonisten also auch als berechtigt gelten und nicht negativ konnotiert werden. Mit dem Fokuswechsel auf ihren Sohn Parzival und vor allem auf dessen Erziehung findet eine Verschiebung der Perspektive statt.
Der Bezugspunkt schwingt nun auf Parzival mit dem Satz, „zer waste in Soltâne erzogn, an küneclîcher fuore betrogn“. (118, 1-2) Aus der Perspektive des neuen Protagonisten Parzival betrachtet wird konstatiert, dieser würde um königliche Lebensart gebracht. Trotzdem lernt er mit Pfeil und Bogen schießen, seine ‚art‘, die ihn als Erbe Gahmurets auszeichnet, macht sich bemerkbar. Auch der Charakterzug des Mitleids wird hervorgehoben, welcher in der Erziehung Herzeloydes begründet liegen mag.
In Vers 119,29-30 unterweißt Herzeloyde ihren Sohn dann, auf dessen Anfrage hin, in die Unterscheidung zwischen Licht und Dunkel und den christlichen Gott. Dies lässt die gedankliche Verbindung von Herzeloyde und Schuldhaftigkeit an der Unwissenheit Parzivals zu. An der Mangelhaftigkeit dieser Lehre, an christlichen Normen gemessen, entbehrt der Erzähler allerdings jeden Kommentars. Nach Sassenhausen gefährdet Herzeloyde mit dem Abweichen von christlicher  Erziehung Parzivals Seelenheil,<ref>Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007, S.120.</ref> das Seelenheil Parzivals wird allerdings im Text nicht thematisiert.
Statt dem Leser eine Wertung an die Hand zu geben, wie er es zumeist vornimmt, denn insgesamt versteht der Erzähler seine Rolle als moralische, kommentierende Instanz, geht es weiter im Geschehen. Ab Vers 122,23 lässt sich ein Kommentar des Erzählers als Fehlverhalten Herzeloydes deuten, als der dem Spott ausgesetzte Junge mit Herzeloyde in einem Satz genannt wird und damit eine gedankliche assoziative Verbindung zulässt.
Da Parzival Zeit seines Lebens nur von ‚juncfrouwen‘ (123,28) umgeben war und ihn keiner unterwiesen hat, kann er ein Gebilde aus Ringen nicht als Rüstung erkennen. Dies verweist auf den Mangel an geschlechtsspezifischer Erziehung zur Identität.
Der fremde Ritter resümiert sodann: ‚dir hete gott den Wunsch gegeben, das du mit witzen soldest leben’(124,19-20). Parzival verhalte sich ‚tump‘. ‚Tumpheit‘, ist allerdings nicht eins zu eins mit Dummheit zu übersetzten, sondern mehr mit Unverständigkeit, Torheit und jugendliche Unerfahrenheit.<ref>Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Aufl. Stuttgart 1992.</ref>  Parzival wirkt einfach zu jung. Zudem war es im Mittelalter bis zu einem Alter von 6 Jahren durchaus berechtigt, ein Kind von der Mutter erziehen zu lassen.<ref>Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007, S.109.</ref>  Parzival mit ‚tumpheit‘ zu attribuieren lässt ihn also vor allem in kindlichem Licht erscheinen, nicht gleich an eine fehlgeschlagene Erziehung denken.
Parzivals ‚tumpheit‘ wird augenfällig durch die Diskrepanz zwischen äußerlicher Erscheinung und kindlicher Unreife in Verhalten und Geist. Dies deutet also weniger auf einen Fehler in Parzival, denn auf eine langsame Entwicklung hin, die dem Fehlen einer Vaterfigur zugeschrieben werden kann. An diesem Fakt kann Herzeloyde kaum Schuld tragen, denn Gahmuret starb ohne ihren Einfluss. Unterstützt wird diese These auch im späteren Auftauchen von Gurnemaz, der zu Parzival wie ‚ein vater sinenn kinden‘ (165,10) spricht. Die Schuld in Parzivals Unreife wird also weniger in Herzeloydes Erziehung, als im Fehlen einer Vaterfigur artikuliert.
Als Herzeloyde schließlich, nach Parzivals Äußerung, er wolle Ritter werden, zu einer ‚list‘ (126,17) greift, ist dies nicht in der neuhochdeutschen Konnotation von Lüge zu sehen, sondern als weise Lehre zu verstehen.<ref>Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Aufl. Stuttgart 1992.</ref>  Auch bedauert der Erzähler Parzivals anschließende narrenhafte Erscheinung mehr, als eine Schuldzuweisung vorzunehmen. (126,30). Die nun folgenden Ratschläge Herzeloydes könnten auch gut gemeint sein, und zumindest der Rat bezüglich des weisen Mannes erweist sich später als hilfreich (siehe Gurnemaz). Die Mutter bezwecke die Unaufgenommenheit in der Rittergesellschaft Parzivals mit ihren Ratschlägen.<ref>  Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007, S.132.</ref>  Auch hier allerdings unterlässt der Erzähler einen solchen Vorwurf.  


Sodann stirbt Herzeloyde im Angesicht des davon reitenden Sohnes. Ihrem Ableben folgt ein positives Resümee über die treue und wunderbare Frau, ihr Tod habe sich nicht vermeiden lassen. Ihr wird nichts zur Last gelegt, sie hat die Aufgabe der Erziehung  mit dem Auszug des Sohns aus mütterlicher Obhut erledigt und ist nun im weiteren Verlauf der Geschichte nicht mehr von großer Bedeutung. Die einzigen weiteren Rekurrenzen auf Herzeloyde sind positiver Art, als jeder, dem Parzival begegnet, inhaltlich formuliert: ‚wol der muoter, die dich bar!‘(vgl. 146,7; 164,19; 166,16; 168,26-27). Erst Gurnemaz heißt Parzival von seiner Mutter schweigen, es verweise auf kindliches Verhalten. Die Mutterbindung wird also vor allem in Verbindung mit kindlichem Verhalten gebracht, nicht aber mit nicht wieder gut zu machenden Schäden. Parzival ist noch nicht reif und entwickelt genug, er scheint in der Erziehung am Punkt der ‚puerita‘ etwas länger zu verweilen. Gleichzeitig scheint er sich dieses Problems bewusst. Er beginnt, als Herzeloyde die singenden Vögel zu töten beginnt, seine Mutter in Frage zu stellen und wendet ihrer Welt schließlich den Rücken, um sich als Ritter zu versuchen.
=== Prolog über ''triuwe'' ===
Im Prolog des dritten Buches heißt es: „''Wîpheit, dîn  ordenlîcher site, dem vert und fuor ie triwe mite''“.(116,13-14) <ref>Es wird unter Angabe von Strophen und Verszahl zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.</ref> Der Erzähler fixiert also die Messlatte der Güte einer Frau an ihrer ‚''triuwe''‘ und legt damit den Grundstein für die Interpretation des Verhaltens Herzeloydes, es kann von nun an unter dem Aspekt der ‚''[[Triuwe (Wolfram von Eschenbach, Parzival)|triuwe]]''‘ analysiert werden. Von der ‚''triuwe''‘, deren neuhochdeutsche Entsprechung Treue ist, heißt es weiterhin „''die dolte ein wîp durch triuwe: das wart ir gâbe niuwe''“. (116, 19-20) Der Grund für Herzeloydes Auszug in die Einöde und die Armut wird also direkt in Verbindung mit der ‚''triuwe''‘ gesehen, sie bringt sich selbst  in Armut und handelt somit aktiv um der Treue willen.


Entgegen Sassenhausens sehr pädagogisch und psychologischem Fazit, Parzival wachse nicht kindgerecht auf, da sein kognitives, emotionales und soziales Wachstum auf die Mutter beschränkt  sei,<ref>Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007, S.111.</ref> bin ich der Meinung, die unleugbaren Anzeichen der Unwissenheit und Unreife Parzivals werden nicht unter dem Aspekt der Schadhaftigkeit Herzeloydes verhandelt, zudem wird die Tugendhaftigkeit Herzeloyde mehrmals unterstrichen und ihr so eine fehlerhafte Erziehung nicht unterstellt.
=== Herzeloydes Rückzug ===
Allerdings, auf dieses Wort verweist auch Sassenhausen, ist dieser Umzug auch als „''flühtesal''“ (117,14) bezeichnet und damit zu neuhochdeutsch nicht nur als Flucht, sondern auch als Betrug (an ihrem Sohn) übersetzbar. [Sassenhausen 2007: 106]
Einher damit geht das Handeln aus Eigeninteresse, als sie das Gesinde in Soltane zu Geheimhaltung verpflichtet, um ihren Sohn vor Kontakt zur Ritterschaft zu bewahren. Interessant in Bezug auf die Frage, ob dies nun Herzeloydes Egoismus manifestiert, ist auch der Protagonisten-wechsel, der sich ab Vers 117,29 vollzieht: Der Fokus des Werkes lag bis dahin auf Gahmuret und Herzeloyde, in der sie als Fixpunkt natürlich auch Wünsche hat, an denen die Geschehnisse orientiert sind. So kann das eigenbezogene Handeln Herzeloydes im Kontext des Protagonisten also auch als berechtigt gelten und nicht negativ konnotiert werden. Mit dem Fokuswechsel auf ihren Sohn Parzival und vor allem auf dessen Erziehung findet eine Verschiebung der Perspektive statt.
 
=== Parzivals Auftreten ===
Der Bezugspunkt schwingt nun auf Parzival mit dem Satz, „''zer waste in Soltâne erzogn, an küneclîcher fuore betrogn''“. (118, 1-2) Aus der Perspektive des neuen Protagonisten Parzival betrachtet wird konstatiert, dieser würde um königliche Lebensart gebracht. Trotzdem lernt er mit Pfeil und Bogen schießen, seine ‚''art''‘, die ihn als Erbe Gahmurets auszeichnet, macht sich bemerkbar. Auch der Charakterzug des Mitleids wird hervorgehoben, welcher in der Erziehung Herzeloydes begründet liegen mag.
In Vers 119,29-30 unterweißt Herzeloyde ihren Sohn dann, auf dessen Anfrage hin, in die Unterscheidung zwischen Licht und Dunkel und den christlichen Gott. Dies lässt die gedankliche Verbindung von Herzeloyde und Schuldhaftigkeit an der Unwissenheit Parzivals zu, die Erklärung ist missverständlich. An der Mangelhaftigkeit dieser Lehre, an christlichen Normen gemessen, entbehrt der Erzähler allerdings jeden Kommentars. Nach Sassenhausen gefährdet Herzeloyde mit dem Abweichen von christlicher  Erziehung Parzivals Seelenheil, [Sassenhausen 2007: 120] das Seelenheil Parzivals wird allerdings im Text nicht thematisiert.
Statt dem Leser eine Wertung an die Hand zu geben, wie er es zumeist vornimmt, denn insgesamt versteht der Erzähler seine Rolle als moralische, kommentierende Instanz, geht es weiter im Geschehen.
Ab Vers 122,23 lässt sich ein Kommentar des Erzählers als Fehlverhalten Herzeloydes deuten, als der dem Spott ausgesetzte Junge mit Herzeloyde in einem Satz genannt wird und damit eine gedankliche assoziative Verbindung zulässt.
 
Eine weitere Szene lässt sich hier analysieren: Nachdem Parzival einige Wegstunden zurückgelegt hat - er soll seine Mutter  gerade zum letzten Mal gesehen haben - gelangt er an einen Fluss. Er überquert diesen nicht, in Erinnerung an den Rat Herzeloydes: ‚''an ungebanten strâzen soltu tunkel fürte lâzen: die sihte und lûter sîn, dâ sollte als balde rîten în.''‘ (127,15-18) Nun reitet Parzival lange am Fluss hin und her, um nach einer geeigneten Stelle zu suchen, wobei der Autor ironisch bemerkt: ‚''er kom an einen bach geriten, den hete ein han wol überschritn''‘ (129,7-8) Dieser Rat Herzeloydes stellt sich also als fehlleitend und missverständlich heraus. Zusätzlich aber muss man an Parzivals Verstandskraft zweifeln dürfen. Statt sich Situationen selbst zu erschließen und eigene Schlüsse durch abwägende Denkprozesse zu ziehen, entfaltet der Rat der Mutter seine ganze Wirkungskraft. Die missverständliche Formulierung des Rates fällt bei Parzival auf fruchtbaren Boden, in naiver Übernahme des Rates stößt er somit auf seine erste Hürde auf der Reise. Noch mangelt es Parzival scheinbar an Reflexionsvermögen.
 
== Parzivals 'tunpheit' und die Hintergründe ==
Da Parzival Zeit seines Lebens nur von ‚''juncfrouwen''‘ (123,28) umgeben war und ihn keiner unterwiesen hat, kann er ein Gebilde aus Ringen nicht als Rüstung erkennen. Dies verweist auf den Mangel an geschlechtsspezifischer Erziehung zur Identität.
Der fremde Ritter resümiert sodann: ‚''dir hete gott den Wunsch gegeben, das du mit witzen soldest leben''’(124,19-20). Parzival verhalte sich ‚''tump‘. ‚Tumpheit''‘, ist allerdings nicht eins zu eins mit Dummheit zu übersetzten, sondern mehr mit Unverständigkeit, Torheit und jugendlicher Unerfahrenheit. [Lexer 1992]
Parzival wirkt einfach zu jung. Zudem war es im Mittelalter bis zu einem Alter von 6 Jahren durchaus berechtigt, ein Kind von der Mutter erziehen zu lassen.[Sassenhausen 2007:109]  Parzival mit ‚''tumpheit''‘ zu attribuieren lässt ihn also vor allem in kindlichem Licht erscheinen.
Parzivals ‚''tumpheit''‘ wird augenfällig durch die Diskrepanz zwischen äußerlicher Erscheinung und kindlicher Unreife in Verhalten und Geist. Dies deutet also weniger auf einen Fehler in Parzival, denn auf eine langsame Entwicklung hin, die dem Fehlen einer Vaterfigur zugeschrieben werden kann. An diesem Fakt kann Herzeloyde kaum Schuld tragen, denn Gahmuret starb ohne ihren Einfluss. Unterstützt wird diese These auch im späteren Auftauchen von Gurnemaz, der zu Parzival wie ‚''ein vater sinenn kinden''‘ (165,10) spricht, also beinah als Vaterersatz herangezogen wird. Die Schuld in Parzivals Unreife wird also weniger in Herzeloydes Erziehung, als im Fehlen einer Vaterfigur artikuliert.
Als Herzeloyde schließlich, nach Parzivals Äußerung, er wolle Ritter werden, zu einer ‚''list''‘ (126,17) greift, ist dies nicht in der neuhochdeutschen Konnotation von Lüge zu sehen, sondern als weise Lehre zu verstehen. [Lexer 1992]
Auch bedauert der Erzähler Parzivals anschließende narrenhafte Erscheinung mehr, als eine Schuldzuweisung vorzunehmen. (126,30). Die nun folgenden Ratschläge Herzeloydes könnten auch gut gemeint sein, und zumindest der Rat bezüglich des weisen Mannes erweist sich später als hilfreich (siehe Gurnemaz). Die Mutter bezwecke damit dagegen die Unaufgenommenheit in der Rittergesellschaft Parzivals mit ihren Ratschlägen. [Sassenhausen 2007:132]
Auch hier allerdings unterlässt der Erzähler einen solchen Vorwurf.
Festgehalten werden muss jedoch, dass die Ratschläge Herzeloydes missverständlich formuliert sind und Parzival erst durch Gurnemanz wichtige Konstituenten eines Ritterlebens erlernen wird. Eine weitere und beinahe wichtigere Quelle des Lernens von Rittertugenden ist des Weiteren in Selbsterfahrung zu sehen:
Ganz praktisch wird er mehr durch Heldentaten denn durch Erziehung sozialisiert, so Lienert. [Lienert 2007:253]
Diese These klingt plausibel, Parzival lernt vor allem durch Erfahrungen, die er selbst sammelt. Durch naive Übernahme der Ratschläge seiner Mutter begeht er Fehler, aus denen er Rückschlüsse zieht und durch die er lernt. Das Lernen dagegen werde "problematisiert und ambiguisiert", die Lehren der Mutter führen zu Missverständnissen, da sie "fragmentiert und dekontextualisiert"[Lienert 2014: 257] auftreten. Gehen wir dem auf den Grund, so kann festgehalten werden, dass die missverständlichen Ratschläge Herzeloydes (nur) die Basis der Fehler Parzivals sind. Auf dieser Basis wird Parzivals Naivität fruchtbar und führt zu höfisch inakzeptablen Fehlern. Gleichzeitig ist damit die Möglichkeit des Selbst-lernens gegeben, ein Erkenntnisprozess Parzivals wird initiiert gemäß dem Statement, aus Fehlern könne gelernt werden.
 
== Herzeloydes Verantwortung ==
Sodann stirbt Herzeloyde im Angesicht des davon reitenden Sohnes. Ihrem Ableben folgt ein positives Resümee über die treue und wunderbare Frau, ihr Tod habe sich nicht vermeiden lassen. Ihr wird nichts zur Last gelegt, sie hat die Aufgabe der Erziehung  mit dem Auszug des Sohns aus mütterlicher Obhut erledigt und ist nun im weiteren Verlauf der Geschichte nicht mehr von großer Bedeutung. Die einzigen weiteren Rekurrenzen auf Herzeloyde sind positiver Art, als jeder, dem Parzival begegnet, inhaltlich formuliert: ‚''wol der muoter, die dich bar!''‘(vgl. 146,7; 164,19; 166,16; 168,26-27). Erst Gurnemaz heißt Parzival von seiner Mutter schweigen, es verweise auf kindliches Verhalten. Die Mutterbindung wird also vor allem in Verbindung mit kindlichem Verhalten gebracht, nicht aber mit nicht wieder gut zu machenden Schäden. Parzival ist noch nicht reif und entwickelt genug, er scheint in der Erziehung am Punkt der ‚puerita‘ etwas länger zu verweilen. Gleichzeitig scheint er sich dieses Problems bewusst. Er beginnt, als Herzeloyde die singenden Vögel tötet, seine Mutter in Frage zu stellen und wendet ihrer Welt schließlich den Rücken, um sich als Ritter zu versuchen.
 
== Parzivals Kindheit in seiner Position in der Erzählstruktur ==
 
Inhaltlich kann vermerkt werden, dass Herzeloydes Erziehung kaum in ihrer Schuldhaftigkeit verhandelt wird. Ein Blick auf Metaebene des Textes kann allerdings noch weitere Einblicke in verhandeltes Thema geben. Hierzu muss nach der Funktion von Parzivals unbestreitbarem Erziehungsmanko gefragt werden. Außer Frage steht das Vorenthalten einer standesgemäßen Erziehung, Parzival ist in der Entwicklung stehen geblieben. [Baisch 2014:227] Vielmehr aber verpflichtet die Erzählstruktur zu einem Parzival, der auf Basis der 'tumpheit' noch lernen und der eine Entwicklung vor sich haben kann. In Bezug auf die Grâlsszene sagt Haug, es sei Parzival "nicht möglich,[zu fragen] weil die Gründe außerhalb jenes Zusammenhangs liegen, den Parzival mit seiner Vernunft durchschauen und mit seinem Wollen steuern kann." [Haug 2008:154] Auf die Frage, was denn außerhalb jenes Zusammenhangs liege, kann mit Hilfe von Haugs Text geantwortet werden, dass es die externe, sinnkonstituierende Planung des Dichters ist. Näheres zu dem Nichtstellen 'der Frage' auf der Grâlsbrug kann im Artikel [[Parzivals Faux Pas auf der Gralsburg: Die Rolle der Erziehung]] gefunden werden. Die "Paradoxie der schuldlosen Schuld" [Haug 2008:56] Parzivals liegt in der Struktur begründet. Auch Herzeloyde trägt eine, wenn auch anders ausgestaltete, schuldlose Schuld, insofern als ihre unbestreitbare Schuld nicht verhandelt wird. Herzeloydes Erziehung ist der Erzählstruktur unterworfen, nur durch ihr Defizit ist ein Wandeln und Lernen Parzivals möglich.
 
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Unwissenheit Parzivals, die in der meisten Forschungsliteratur mit Herzeloyde in Verbindung gebracht wird, resultiert die Frage nach der schuldlosen Schuld, nach einer Schuld, die im Text nicht verhandelt wird. Der hier verhandelte Lösungsansatz sieht nun ein Miteinbeziehen der extern konstruierten Rolle und des intern psychologisierten Individuums vor. Diese beiden Aspekte bedingen sich reziprok, einerseits gibt Herzeloyde missverständiche Ratschläge, andererseits ist eine ,''tumpheit'' ' Parzivals durch das Strukturschema begründet und die Bedingung für den Beginn einer Heldenreise.
 
== Fazit ==
Entgegen Sassenhausens sehr pädagogisch und psychologischem Fazit, Parzival wachse nicht kindgerecht auf, da sein kognitives, emotionales und soziales Wachstum auf die Mutter beschränkt  sei, [Sassenhausen 2007:111] bin ich der Meinung, die unleugbaren Anzeichen der Unwissenheit und Unreife Parzivals werden nicht unter dem Aspekt der Schuldhaftigkeit Herzeloydes verhandelt, zudem wird die Tugendhaftigkeit Herzeloydes mehrmals unterstrichen und ihr so eine fehlerhafte Erziehung nicht unterstellt. Stattdessen vollzieht sich im dritten Buch ein Perspektviwechsel. Nicht mehr Gahmuret und seine Frau Herzeloyde stehen im Vordergrund, sie werden abgelöst durch ihren Sohn Parzival. Dieser Protagonistenwechsel führt einen 'Privilegienwechsel' mit sich, will heißen, einen Wechsel des Fokus von den Wünschen Herzeloydes auf die ihres Sohnes Parzival. Herzeloyde handelte aus Treue. Aus Parzivals Perspektive vollzieht sich nun eine an höfischem Kontakt mangelende Erziehung, die sich vor allem in Parzivals noch lange kindlichem Verhalten widerspiegelt.
 
Auch das Stichwort "Subjektkonstitution" [Lienert 2014:266] soll an dieser Stelle in Bezug zur Schuldhaftigkeit Herzeloydes gesetzt werden. Denn anstatt einen fertig sozialisierten Helden auf ''aventiure'' zu schicken, besteht der Reiz des Stoffs zum Teil darin, dass Parzival erst lernen muss, wie ein Held zu agieren hat. Das ganze Werk ist ein metaphorisch gestalteter Weg der Konstitution eines gereiften, herrschaftsfähigen, göttlich gewollten Helden. Hier würde ich also deutlich den Aspekt des Lernens von Schuldhaftigkeit differenzieren und damit nicht miteinander verrechnen, sondern in den missverstänldichen Ratschägen Herzeloydes die Basis einer produktiven 'Heldenreise' sehen. Diese 'Heldenreise' obliegt der von Wolfram konstituierten Erzählstruktur, sodass die Frage nach Schuld weniger verhandelt wird, denn dass das Motiv in der Struktur zu finden ist.
Aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Unwissenheit Parzivals, die in der meisten Forschungsliteratur mit Herzeloyde in Verbindung gebracht wird, resultiert die Frage nach der schuldlosen Schuld, nach einer Schuld, die im Text nicht verhandelt wird. Der hier verhandelte Lösungsansatz sieht nun ein Miteinbeziehen der extern konstruierten Rolle und des intern psychologisierten Individuums vor. Diese beiden Aspekte bedingen sich reziprok, einerseits gibt Herzeloyde missverständiche Ratschläge, andererseits ist eine ,''tumpheit'' ' Parzivals durch das Strukturschema begründet und die Bedingung für den Beginn einer Heldenreise.
 
=Anmerkungen=
<References />
 
= Literaturverzeichnis =
<harvardreferences />
*[*Baisch 2014] Baisch, Martin: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. In: Wolfram-Studien 23. Berlin 2014. S.207-250.
<harvardreferences />
*[*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im SchneeTübingen 2001.
<harvardreferences />
*[*Haug 2008] Haug, Walter : Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? In: Positivierung von Negativität: letzte kleine Schriften. Tübingen 2008. S.141-156.
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*[*Lexer 1992] Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Aufl. Stuttgart 1992.
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*[*Lienert 2014] Lienert, Elisabeth: Können Helden Lernen?: Wissen und Subjektkonstitution in europäischen Parzivalromanen. In: Wolfram-Studien 23. Berlin 2014. S.251-267.
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*[*Sassenhausen 2007] Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007.
 
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Aktuelle Version vom 29. Februar 2016, 16:02 Uhr

– tugendhaft oder defizitär?

Übersicht

Der Artikel soll der Frage nachgehen, inwiefern nicht nur Parzivals Erziehung auf schmalem Grat zwischen tugendhaft und defizitär verläuft, sondern das Spannungsfeld auf einen 'Protagonistenwechsel' von Herzeloyde zu Parzival ausgeweitet werden kann. Dies soll eine Erklärung für die kaum thematisierte Schuld Herzeloydes an der anfänglichen Unwissenheit Parzivals über die Tugenden eines Ritters darstellen. Inwiefern wird auch Herzeloyde trotz der defizitären Erziehung und den unbestreitbaren Mängeln Parzivals, die daraus resultieren, weiterhin als tugendhafte Frau betrachtet?

Herzeloydes Fehlverhalten?

Herzeloyde zieht nach dem Tod Gahmurets in die Einöde von Soltane und erzieht dort – ohne jegliche Verbindung zu anderen Gutshöfen – den gemeinsamen Sohn Parzival. Näheres über den Sonderraum Soltane findet sich im Artikel Das Motiv des Niemandslands im Parzival (Funktion und Bedeutung). Der Held wächst somit ohne ritterliche Erziehung auf, ein Fakt, der ihn bei seinem Auszug zu Artus Tafelrunde zunächst vielen Lachern aussetzt. Joachim Bumke nun sieht die zentrale Schuld in diesem „Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens“ in der Pädagogik Herzeloydes und verweist damit auf eine defizitäre Erziehung. [Bumke 2001:56] Auf diese Sekundärliteratur rekurrierend heißt es auch in dem Artikel „Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen (Wolfram von Eschenbach, Parzival)“, Herzeloyde sei die Ursache für Parzivals Verhalten und damit einhergehend dem nicht Stellen der Frage in der Gralsburg. Auch Sassenhausen wendet eine pädagogisch-psychologische Herangehensweise an, in der sie beschreibt, Parzival wachse nicht kindgerecht auf, ihm fehle die Vaterfigur und andere identitätsstiftende Vorbilder, sowie sozialer und kultureller Boden für ein kindgerechtes Aufwachsen, welcher ihm durch Herzeloyde vorenthalten werde. [Sassenhausen 2007] Diesen Thesen möchte ich nun entgegenhalten, dass für ein kritisches Beleuchten des Verhaltens von Herzeloyde Textbelege rar sind. Hierzu werden zunächst die Konstituenten der verschiedenen Stufen in einem mittelalterlichen Entwicklungsroman von der Geburt bis zum Tod betrachtet, um einen Vergleich zu ermöglichen.

Das Aetates-Modell

Siehe hierzu auch: Parzival als Entwicklungsroman (Wolfram von Eschenbach, Parzival) Meist seien Biographien nach dem Aetas-Modell ausgerichtet, welches das Leben des Helden in verschiedene Abschnitte gliedert und dabei vor allem auf das ‚iuvenes‘ Alter Wert legt, in dem sich der Held in Rittertaten bewähren muss. Dieses Modell, so Sassenhausen, sei im Mittelalter an praktischen Erfahrungen des physiologischen Lebensalters orientiert. Es beginnt, was für die Analyse des Parzival wenig von Belang ist, mit der ‚infantia‘, also Kindheit, in der das Kind durch seine Hilflosigkeit mehr als Mängelwesen denn als Mensch gesehen wird. Weiterhin zeichnet sich die puerita (von puer=rein) in mangelnder Geschlechtsreife aus, diese Phase erfordert Erziehung, um das Seelenheil der Kinder nicht zu gefährden und sie vor Sünde zu bewahren. Schon jetzt sollen Rollen und Werte vermittelt werden, wobei diese sich am Geschlecht orientieren. Diese Phase ist für die Analyse der Güte der Erziehung wichtig. In der ‚adolescentia‘, der herangereiften Phase, nimmt der Verstand des Kindes zu, doch untersteht es noch der väterlicher Gewalt; in dieser Phase zeigt sich die Vitalität aber auch Lasterhaftigkeit des Kindes. Sobald der Held nun die mütterliche Obhut verlässt, eine eigene Familie gründet und auf eigenen Füßen steht, hat er die ‚iuvenes‘ (=jung) Phase erreicht. [Sassenhausen 2007:68] Insgesamt untersteht das menschliche Leben einzig dem Heilsplan Gottes, gleichzeitig ist die Entwicklung und der Übergang von Stadium zu Stadium schlecht am Alter festmachbar, sondern von der persönlichen Entwicklung abhängig. Das Aetates Modell setzt damit eine Entwicklung voraus, in der mittelalterlichen Vorstellung muss es ein Verständnis von der Entwicklung des Menschen von der Geburt bis zum Tod gegeben haben. Nicht nur aus heutiger Perspektive ist damit konstitutiv, dass der Mensch auf seinem Lebensweg lernt und Erfahrungen sammelt, gleichzeitig ist ein gemeinsames Grundwissen einerseits über christlich-adelige Gesellschaft, andererseits über die eigene Identität nach Lienert vorausgesetzt. [Lienert 2014:52]

Parzivals Jugend abgeglichen mit dem Aetates-Modell

Mit der Primärliteratur verglichen verbringt Parzival also seine ‚puerita‘ in Soltane und auch vermutlich einen Teil seiner ‚adolescentia‘, das tatsächliche Alter des Helden bleibt jedoch unerwähnt. Um nun den Verlauf von Parzivals Jugend mit der mittelalterlichen Norm zu vergleichen, werde ich den Prolog und Kapitel drei beleuchten.

Prolog über triuwe

Im Prolog des dritten Buches heißt es: „Wîpheit, dîn ordenlîcher site, dem vert und fuor ie triwe mite“.(116,13-14) [1] Der Erzähler fixiert also die Messlatte der Güte einer Frau an ihrer ‚triuwe‘ und legt damit den Grundstein für die Interpretation des Verhaltens Herzeloydes, es kann von nun an unter dem Aspekt der ‚triuwe‘ analysiert werden. Von der ‚triuwe‘, deren neuhochdeutsche Entsprechung Treue ist, heißt es weiterhin „die dolte ein wîp durch triuwe: das wart ir gâbe niuwe“. (116, 19-20) Der Grund für Herzeloydes Auszug in die Einöde und die Armut wird also direkt in Verbindung mit der ‚triuwe‘ gesehen, sie bringt sich selbst in Armut und handelt somit aktiv um der Treue willen.

Herzeloydes Rückzug

Allerdings, auf dieses Wort verweist auch Sassenhausen, ist dieser Umzug auch als „flühtesal“ (117,14) bezeichnet und damit zu neuhochdeutsch nicht nur als Flucht, sondern auch als Betrug (an ihrem Sohn) übersetzbar. [Sassenhausen 2007: 106] Einher damit geht das Handeln aus Eigeninteresse, als sie das Gesinde in Soltane zu Geheimhaltung verpflichtet, um ihren Sohn vor Kontakt zur Ritterschaft zu bewahren. Interessant in Bezug auf die Frage, ob dies nun Herzeloydes Egoismus manifestiert, ist auch der Protagonisten-wechsel, der sich ab Vers 117,29 vollzieht: Der Fokus des Werkes lag bis dahin auf Gahmuret und Herzeloyde, in der sie als Fixpunkt natürlich auch Wünsche hat, an denen die Geschehnisse orientiert sind. So kann das eigenbezogene Handeln Herzeloydes im Kontext des Protagonisten also auch als berechtigt gelten und nicht negativ konnotiert werden. Mit dem Fokuswechsel auf ihren Sohn Parzival und vor allem auf dessen Erziehung findet eine Verschiebung der Perspektive statt.

Parzivals Auftreten

Der Bezugspunkt schwingt nun auf Parzival mit dem Satz, „zer waste in Soltâne erzogn, an küneclîcher fuore betrogn“. (118, 1-2) Aus der Perspektive des neuen Protagonisten Parzival betrachtet wird konstatiert, dieser würde um königliche Lebensart gebracht. Trotzdem lernt er mit Pfeil und Bogen schießen, seine ‚art‘, die ihn als Erbe Gahmurets auszeichnet, macht sich bemerkbar. Auch der Charakterzug des Mitleids wird hervorgehoben, welcher in der Erziehung Herzeloydes begründet liegen mag. In Vers 119,29-30 unterweißt Herzeloyde ihren Sohn dann, auf dessen Anfrage hin, in die Unterscheidung zwischen Licht und Dunkel und den christlichen Gott. Dies lässt die gedankliche Verbindung von Herzeloyde und Schuldhaftigkeit an der Unwissenheit Parzivals zu, die Erklärung ist missverständlich. An der Mangelhaftigkeit dieser Lehre, an christlichen Normen gemessen, entbehrt der Erzähler allerdings jeden Kommentars. Nach Sassenhausen gefährdet Herzeloyde mit dem Abweichen von christlicher Erziehung Parzivals Seelenheil, [Sassenhausen 2007: 120] das Seelenheil Parzivals wird allerdings im Text nicht thematisiert. Statt dem Leser eine Wertung an die Hand zu geben, wie er es zumeist vornimmt, denn insgesamt versteht der Erzähler seine Rolle als moralische, kommentierende Instanz, geht es weiter im Geschehen. Ab Vers 122,23 lässt sich ein Kommentar des Erzählers als Fehlverhalten Herzeloydes deuten, als der dem Spott ausgesetzte Junge mit Herzeloyde in einem Satz genannt wird und damit eine gedankliche assoziative Verbindung zulässt.

Eine weitere Szene lässt sich hier analysieren: Nachdem Parzival einige Wegstunden zurückgelegt hat - er soll seine Mutter gerade zum letzten Mal gesehen haben - gelangt er an einen Fluss. Er überquert diesen nicht, in Erinnerung an den Rat Herzeloydes: ‚an ungebanten strâzen soltu tunkel fürte lâzen: die sihte und lûter sîn, dâ sollte als balde rîten în.‘ (127,15-18) Nun reitet Parzival lange am Fluss hin und her, um nach einer geeigneten Stelle zu suchen, wobei der Autor ironisch bemerkt: ‚er kom an einen bach geriten, den hete ein han wol überschritn‘ (129,7-8) Dieser Rat Herzeloydes stellt sich also als fehlleitend und missverständlich heraus. Zusätzlich aber muss man an Parzivals Verstandskraft zweifeln dürfen. Statt sich Situationen selbst zu erschließen und eigene Schlüsse durch abwägende Denkprozesse zu ziehen, entfaltet der Rat der Mutter seine ganze Wirkungskraft. Die missverständliche Formulierung des Rates fällt bei Parzival auf fruchtbaren Boden, in naiver Übernahme des Rates stößt er somit auf seine erste Hürde auf der Reise. Noch mangelt es Parzival scheinbar an Reflexionsvermögen.

Parzivals 'tunpheit' und die Hintergründe

Da Parzival Zeit seines Lebens nur von ‚juncfrouwen‘ (123,28) umgeben war und ihn keiner unterwiesen hat, kann er ein Gebilde aus Ringen nicht als Rüstung erkennen. Dies verweist auf den Mangel an geschlechtsspezifischer Erziehung zur Identität. Der fremde Ritter resümiert sodann: ‚dir hete gott den Wunsch gegeben, das du mit witzen soldest leben’(124,19-20). Parzival verhalte sich ‚tump‘. ‚Tumpheit‘, ist allerdings nicht eins zu eins mit Dummheit zu übersetzten, sondern mehr mit Unverständigkeit, Torheit und jugendlicher Unerfahrenheit. [Lexer 1992] Parzival wirkt einfach zu jung. Zudem war es im Mittelalter bis zu einem Alter von 6 Jahren durchaus berechtigt, ein Kind von der Mutter erziehen zu lassen.[Sassenhausen 2007:109] Parzival mit ‚tumpheit‘ zu attribuieren lässt ihn also vor allem in kindlichem Licht erscheinen. Parzivals ‚tumpheit‘ wird augenfällig durch die Diskrepanz zwischen äußerlicher Erscheinung und kindlicher Unreife in Verhalten und Geist. Dies deutet also weniger auf einen Fehler in Parzival, denn auf eine langsame Entwicklung hin, die dem Fehlen einer Vaterfigur zugeschrieben werden kann. An diesem Fakt kann Herzeloyde kaum Schuld tragen, denn Gahmuret starb ohne ihren Einfluss. Unterstützt wird diese These auch im späteren Auftauchen von Gurnemaz, der zu Parzival wie ‚ein vater sinenn kinden‘ (165,10) spricht, also beinah als Vaterersatz herangezogen wird. Die Schuld in Parzivals Unreife wird also weniger in Herzeloydes Erziehung, als im Fehlen einer Vaterfigur artikuliert. Als Herzeloyde schließlich, nach Parzivals Äußerung, er wolle Ritter werden, zu einer ‚list‘ (126,17) greift, ist dies nicht in der neuhochdeutschen Konnotation von Lüge zu sehen, sondern als weise Lehre zu verstehen. [Lexer 1992] Auch bedauert der Erzähler Parzivals anschließende narrenhafte Erscheinung mehr, als eine Schuldzuweisung vorzunehmen. (126,30). Die nun folgenden Ratschläge Herzeloydes könnten auch gut gemeint sein, und zumindest der Rat bezüglich des weisen Mannes erweist sich später als hilfreich (siehe Gurnemaz). Die Mutter bezwecke damit dagegen die Unaufgenommenheit in der Rittergesellschaft Parzivals mit ihren Ratschlägen. [Sassenhausen 2007:132] Auch hier allerdings unterlässt der Erzähler einen solchen Vorwurf. Festgehalten werden muss jedoch, dass die Ratschläge Herzeloydes missverständlich formuliert sind und Parzival erst durch Gurnemanz wichtige Konstituenten eines Ritterlebens erlernen wird. Eine weitere und beinahe wichtigere Quelle des Lernens von Rittertugenden ist des Weiteren in Selbsterfahrung zu sehen: Ganz praktisch wird er mehr durch Heldentaten denn durch Erziehung sozialisiert, so Lienert. [Lienert 2007:253] Diese These klingt plausibel, Parzival lernt vor allem durch Erfahrungen, die er selbst sammelt. Durch naive Übernahme der Ratschläge seiner Mutter begeht er Fehler, aus denen er Rückschlüsse zieht und durch die er lernt. Das Lernen dagegen werde "problematisiert und ambiguisiert", die Lehren der Mutter führen zu Missverständnissen, da sie "fragmentiert und dekontextualisiert"[Lienert 2014: 257] auftreten. Gehen wir dem auf den Grund, so kann festgehalten werden, dass die missverständlichen Ratschläge Herzeloydes (nur) die Basis der Fehler Parzivals sind. Auf dieser Basis wird Parzivals Naivität fruchtbar und führt zu höfisch inakzeptablen Fehlern. Gleichzeitig ist damit die Möglichkeit des Selbst-lernens gegeben, ein Erkenntnisprozess Parzivals wird initiiert gemäß dem Statement, aus Fehlern könne gelernt werden.

Herzeloydes Verantwortung

Sodann stirbt Herzeloyde im Angesicht des davon reitenden Sohnes. Ihrem Ableben folgt ein positives Resümee über die treue und wunderbare Frau, ihr Tod habe sich nicht vermeiden lassen. Ihr wird nichts zur Last gelegt, sie hat die Aufgabe der Erziehung mit dem Auszug des Sohns aus mütterlicher Obhut erledigt und ist nun im weiteren Verlauf der Geschichte nicht mehr von großer Bedeutung. Die einzigen weiteren Rekurrenzen auf Herzeloyde sind positiver Art, als jeder, dem Parzival begegnet, inhaltlich formuliert: ‚wol der muoter, die dich bar!‘(vgl. 146,7; 164,19; 166,16; 168,26-27). Erst Gurnemaz heißt Parzival von seiner Mutter schweigen, es verweise auf kindliches Verhalten. Die Mutterbindung wird also vor allem in Verbindung mit kindlichem Verhalten gebracht, nicht aber mit nicht wieder gut zu machenden Schäden. Parzival ist noch nicht reif und entwickelt genug, er scheint in der Erziehung am Punkt der ‚puerita‘ etwas länger zu verweilen. Gleichzeitig scheint er sich dieses Problems bewusst. Er beginnt, als Herzeloyde die singenden Vögel tötet, seine Mutter in Frage zu stellen und wendet ihrer Welt schließlich den Rücken, um sich als Ritter zu versuchen.

Parzivals Kindheit in seiner Position in der Erzählstruktur

Inhaltlich kann vermerkt werden, dass Herzeloydes Erziehung kaum in ihrer Schuldhaftigkeit verhandelt wird. Ein Blick auf Metaebene des Textes kann allerdings noch weitere Einblicke in verhandeltes Thema geben. Hierzu muss nach der Funktion von Parzivals unbestreitbarem Erziehungsmanko gefragt werden. Außer Frage steht das Vorenthalten einer standesgemäßen Erziehung, Parzival ist in der Entwicklung stehen geblieben. [Baisch 2014:227] Vielmehr aber verpflichtet die Erzählstruktur zu einem Parzival, der auf Basis der 'tumpheit' noch lernen und der eine Entwicklung vor sich haben kann. In Bezug auf die Grâlsszene sagt Haug, es sei Parzival "nicht möglich,[zu fragen] weil die Gründe außerhalb jenes Zusammenhangs liegen, den Parzival mit seiner Vernunft durchschauen und mit seinem Wollen steuern kann." [Haug 2008:154] Auf die Frage, was denn außerhalb jenes Zusammenhangs liege, kann mit Hilfe von Haugs Text geantwortet werden, dass es die externe, sinnkonstituierende Planung des Dichters ist. Näheres zu dem Nichtstellen 'der Frage' auf der Grâlsbrug kann im Artikel Parzivals Faux Pas auf der Gralsburg: Die Rolle der Erziehung gefunden werden. Die "Paradoxie der schuldlosen Schuld" [Haug 2008:56] Parzivals liegt in der Struktur begründet. Auch Herzeloyde trägt eine, wenn auch anders ausgestaltete, schuldlose Schuld, insofern als ihre unbestreitbare Schuld nicht verhandelt wird. Herzeloydes Erziehung ist der Erzählstruktur unterworfen, nur durch ihr Defizit ist ein Wandeln und Lernen Parzivals möglich.

Aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Unwissenheit Parzivals, die in der meisten Forschungsliteratur mit Herzeloyde in Verbindung gebracht wird, resultiert die Frage nach der schuldlosen Schuld, nach einer Schuld, die im Text nicht verhandelt wird. Der hier verhandelte Lösungsansatz sieht nun ein Miteinbeziehen der extern konstruierten Rolle und des intern psychologisierten Individuums vor. Diese beiden Aspekte bedingen sich reziprok, einerseits gibt Herzeloyde missverständiche Ratschläge, andererseits ist eine ,tumpheit ' Parzivals durch das Strukturschema begründet und die Bedingung für den Beginn einer Heldenreise.

Fazit

Entgegen Sassenhausens sehr pädagogisch und psychologischem Fazit, Parzival wachse nicht kindgerecht auf, da sein kognitives, emotionales und soziales Wachstum auf die Mutter beschränkt sei, [Sassenhausen 2007:111] bin ich der Meinung, die unleugbaren Anzeichen der Unwissenheit und Unreife Parzivals werden nicht unter dem Aspekt der Schuldhaftigkeit Herzeloydes verhandelt, zudem wird die Tugendhaftigkeit Herzeloydes mehrmals unterstrichen und ihr so eine fehlerhafte Erziehung nicht unterstellt. Stattdessen vollzieht sich im dritten Buch ein Perspektviwechsel. Nicht mehr Gahmuret und seine Frau Herzeloyde stehen im Vordergrund, sie werden abgelöst durch ihren Sohn Parzival. Dieser Protagonistenwechsel führt einen 'Privilegienwechsel' mit sich, will heißen, einen Wechsel des Fokus von den Wünschen Herzeloydes auf die ihres Sohnes Parzival. Herzeloyde handelte aus Treue. Aus Parzivals Perspektive vollzieht sich nun eine an höfischem Kontakt mangelende Erziehung, die sich vor allem in Parzivals noch lange kindlichem Verhalten widerspiegelt.

Auch das Stichwort "Subjektkonstitution" [Lienert 2014:266] soll an dieser Stelle in Bezug zur Schuldhaftigkeit Herzeloydes gesetzt werden. Denn anstatt einen fertig sozialisierten Helden auf aventiure zu schicken, besteht der Reiz des Stoffs zum Teil darin, dass Parzival erst lernen muss, wie ein Held zu agieren hat. Das ganze Werk ist ein metaphorisch gestalteter Weg der Konstitution eines gereiften, herrschaftsfähigen, göttlich gewollten Helden. Hier würde ich also deutlich den Aspekt des Lernens von Schuldhaftigkeit differenzieren und damit nicht miteinander verrechnen, sondern in den missverstänldichen Ratschägen Herzeloydes die Basis einer produktiven 'Heldenreise' sehen. Diese 'Heldenreise' obliegt der von Wolfram konstituierten Erzählstruktur, sodass die Frage nach Schuld weniger verhandelt wird, denn dass das Motiv in der Struktur zu finden ist. Aus dem Spannungsverhältnis zwischen der Unwissenheit Parzivals, die in der meisten Forschungsliteratur mit Herzeloyde in Verbindung gebracht wird, resultiert die Frage nach der schuldlosen Schuld, nach einer Schuld, die im Text nicht verhandelt wird. Der hier verhandelte Lösungsansatz sieht nun ein Miteinbeziehen der extern konstruierten Rolle und des intern psychologisierten Individuums vor. Diese beiden Aspekte bedingen sich reziprok, einerseits gibt Herzeloyde missverständiche Ratschläge, andererseits ist eine ,tumpheit ' Parzivals durch das Strukturschema begründet und die Bedingung für den Beginn einer Heldenreise.

Anmerkungen

  1. Es wird unter Angabe von Strophen und Verszahl zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

Literaturverzeichnis

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  • [*Baisch 2014] Baisch, Martin: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. In: Wolfram-Studien 23. Berlin 2014. S.207-250.

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  • [*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Die Blutstropfen im SchneeTübingen 2001.

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  • [*Haug 2008] Haug, Walter : Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? In: Positivierung von Negativität: letzte kleine Schriften. Tübingen 2008. S.141-156.

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  • [*Lexer 1992] Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Taschenwörterbuch. 38. Aufl. Stuttgart 1992.

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  • [*Lienert 2014] Lienert, Elisabeth: Können Helden Lernen?: Wissen und Subjektkonstitution in europäischen Parzivalromanen. In: Wolfram-Studien 23. Berlin 2014. S.251-267.

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  • [*Sassenhausen 2007] Sassenhausen, Ruth: Wolframs von Eschenbach Parzival als Entwicklungsroman. Köln 2007.