Parzivals Erziehung durch Herzeloyde und ihre Folgen (Wolfram von Eschenbach, Parzival)
Parzival wird nach seiner Geburt in der Wildnis von Soltane, fernab vom ritterlichen und königlichen Leben von seiner Mutter Herzeloyde erzogen. Die Erziehungsmaßnahmen Herzeloydes sind nach ritterlichen Maßstäben mangelhaft und bringen schwere Folgen mit sich, als Parzival seine Mutter in Soltane verlässt, um Ritter zu werden. Die Darstellung der Erziehung Parzivals in Soltane und ihre Folgen verortet sich in Wolframs von Eschenbach Roman Parzival primär in Buch III.
Die Erziehung
Parzivals Kindheit und Jugend in Soltane (116,5 - 129,4)[1]
Nach der Geburt Parzivals zieht sich Herzeloyde zusammen mit ihrem Sohn und einer geringen Zahl an Dienerschaft in den Schutzraum des Waldes von Soltane zurück. Durch das Rittertum ihres Gatten Gahmuret und dessen Tod ist Herzeloyde von den Gefahren des Ritterwesens geprägt. Aus "jâmer" (vgl. 117,7: Jammer) und "triuwe" (116,19: Treue) verlässt Herzeloyde ihre drei Reiche und wählt für sich und ihren Sohn ein Leben in "armuot" (116,15f.: Armut) abseits von Rittertum und höfischer Gesellschaft. Ihrem Gefolge in Soltane verbietet sie, unter Androhung der Todesstrafe, ihrem Sohn gegenüber, je ein Wort über die Ritterwelt verlauten zu lassen. Als Parzival singende Vögel staunend betrachtet, wird er von Herzeloyde beobachtet; sie erkennt, der Gesang der Vögel könnte Parzivals "art" (118,28: Natur, Abkunft) und seine "gelust" (118,28: Lust) wecken, welche in ihm aufgrund seiner edlen Abstammung von seinem Vater Gahmuret schlummern, und veranlasst, alle Vögel zu töten. Parzival wächst in einem künstlichen, durch seine Mutter erzeugten Schutzraum auf. Aufgrund der fehlenden Kenntnis seiner "art" (118,28: Art, Abkunft) und unter Ermangelung einer ritterlichen Erziehung und Einführung in die höfische Gesellschaft steht im Mittelpunkt der Beschäftigung Parzivals in Soltane das Jagen mit dem "gabilôte" (vgl. 120,2: Wurfspieß), einer Art Wurfspeer. Eines Tages, als Parzival auf der Jagd ist, begegnen ihm drei Ritter, welche Parzival aufgrund des Glanzes ihrer Rüstungen für Götter hält. Die Ritter klären den unwissenden Parzival über das Phänomen der Ritterschaft auf. Von der Erscheinung der Ritter und deren Ausführungen entbrannt, möchte Parzival ausziehen, um Ritter am Artushof zu werden. Alle Sicherheitsvorkehrungen Herzeloydes sind somit wirkungslos geblieben. Er erbittet von seiner Mutter ein Pferd, um seine Reise antreten zu können. Herzeloyde weiß sich nicht anders zu helfen und denkt sich eine "list" (126,17 und 127,14: List) aus: sie stattet ihren Sohn mit einem schlechten Pferd, "tôren kleider" (126,26: Narrenkostüm) und Bauernstiefeln aus, in der Hoffnung, dass Parzival dadurch Leid und Spott erfährt und zu ihr zurückkehrt. Parzival verlässt Soltane und der Kontakt zu seiner Mutter bricht ab. Erst bei Trevrizent erfährt er, dass seine Mutter aufgrund von "triuwe" (vgl. 128,23: Treue) bei seiner Abreise verstorben ist. Der Tod seiner Mutter wird Parzival im Verlauf der Handlung bei Trevrizent als seine erste "grôze sünde" (499,20: große Sünde) angelastet.
Die Lehren Herzeloydes
Innerhalb der Schilderung der Kindheit Parzivals in Soltane wendet sich Herzeloyde zwei Mal in direkter Rede an ihren Sohn Parzival, um ihn zu belehren. In dem ersten Fall antwortet Herzeloyde auf Parzivals Frage nach dem Wesen Gottes und gibt ihm eine bruchstückhafte Religionsunterweisung, welche im folgenden Abschnitt dargestellt wird. Im zweiten Fall unterrichtet Herzeloyde Parzival vor seiner Abreise über die wichtigsten Verhaltensregeln und gibt ihm knappe Informationen bezüglich seiner Ländereien. Beide Unterweisungen durch Herzeloyde sind fragmentarisch und damit prädestiniert, in ihrer wörtlichen Bedeutung missverstanden zu werden. Im Folgenden werden Herzeloydes Gotteslehre und Herzeloydes Ratschläge dargestellt.
Herzeloydes Gotteslehre (119,12 - 119,30)
Herzeloydes Gotteslehre beruht auf der im Mittelalter vorherrschenden dualistischen Teilung in Gut und Böse, Gott und Teufel. Die Entgegensetzung dieser beiden Mächte wird in Herzeloydes Rede durch eine Hell-Dunkel-Symbolik [Haas 1964: vgl. S. 62.] untermauert: Während Gott "noch liehter denne der tac" (119, 19: noch heller als der Tag) ist, beschreibt Herzeloyde den Teufel als "swarz" (119, 26: schwarz). Auf diese Weise scheidet sie "daz vinster unt das lieht gevar" (119,30: die Finsternis vollends von dem Licht), Gott und den Teufel voneinander. Herzeloydes religiöse Unterrichtung beinhaltet einen zentralen Lehrsatz in der Form eines Imperativs [Haas 1964: vgl. S. 62.]:
119,22 | sun, merke eine witze, | Mein Sohn, merke dir die Lehre: |
und flêhe in umbe dîne nôt: | Zu ihm sollst du flehen, wenn dir etwas fehlt; | |
sîn triuwe der werlde ie helfe bôt. | Seine Treue hat noch nie den Menschen Hilfe verweigert. |
Aus diesen Worten gehen Treue und die Hilfsbereitschaft als die zwei wesentlichen Eigenschaften Gottes hervor, welche Gott allen Menschen erweist und welche im Kontrast zu der "untriuwe" (vgl. 119,26: Untreue) des Teufels stehen. Diese Gotteslehre Herzeloydes vermittelt Parzival ein kindlich-naives Bild Gottes, das bei der Verfluchung Parzivals durch Cundrie am Artushof einen zentralen Grund für Parzivals Zweifel an Gott darstellt.
Herzeloydes Ratschläge (127,13 - 128,10)
Herzeloydes Ratschläge und Informationen lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen. Als Erstes rät Herzeloyde ihrem Sohn, dunkles Gewässer zu meiden und nur an seichten Stellen einen Fluss zu überqueren. Außerdem soll Parzival auf seiner Reise höflich sein und die Menschen grüßen. Wenn Parzival einem weisen und grauen Mann begegnet, soll er von ihm lernen. Anschließend fügt Herzeloyde eine kurze Minnelehre an und rät ihm, er solle, wenn er einer lieben Frau begegnet, ihren Ring nehmen und sie küssen, klärt ihn aber nicht darüber auf, was es bedeutet von einer Frau einen Ring zu erhalten. Des Weiteren informiert sie Parzival über seinen Anspruch auf die zwei von Ritter Lahelin im Krieg eroberten Länder Waleis und Norgals. Parzivals Aussage, er wolle dies rächen, lässt den Schluss zu, dass Parzival vorhat, auch die anderen Ratschläge zu befolgen. [Haas 1964: vgl. S. 70.] Der darauffolgende Erzählablauf des Buches III ist durch die wörtliche Befolgung der Ratschläge Herzeloydes durch Parzival motiviert. [Haas 1964: vgl. S. 70.]
Die Folgen
Der vorliegende Abschnitt beschäftigt sich mit den Folgen der Erziehung Parzivals durch Herzeloyde. In einem ersten Abschnitt werden anhand einzelner Episoden des dritten Buchs die Auswirkungen der Erziehung durch Herzeloyde aufgezeigt, um dann in einem zweiten Abschnitt Parzivals tumpheit als die zentrale Folge der Erziehung durch Herzeloyde zu diskutieren.
Einzelne Episoden des dritten Buches
Herzeloydes untypische Erziehungsmaßnahmen bringen "komisch-katastrophale Folgen" [Dallapiazza 2009: S. 40.] mit sich, welche sich an Hand ausgewählter Episoden innerhalb des Buches III aufzeigen lassen.
Die Begegnung mit den Rittern (120,11-124,21)
Bereits bei der Begegnung mit den drei Rittern in den Wäldern von Soltane kommt es zu komisch anmutenden Geschehnissen. Aufgrund des Hufgetrampels der herannahenden Ritter hält Parzival diese zunächst für Teufel. Als Parzival jedoch dem Glanz ihrer Rüstungen ansichtig wird, meint er göttliche Wesen zu erblicken, und wirft sich ehrfurchtsvoll vor diesen nieder. Parzivals Unwissenheit gegenüber dem Rittertum und die missverständliche Hell-Dunkel-Symbolik der Gotteslehre Herzeloydes führen dazu, dass Parzival von der Außenwelt als "tœrsch" (121,5: töricht, närrisch) angesehen wird und Spott erntet. Das Missdeuten der Gotteslehre Herzeloydes führt im Verlauf der Handlung, nachdem Cundrie Parzival vor der Artusgesellschaft aufgrund seines Versagens auf der Gralsburg verflucht hat, auch zu dessen Hass gegenüber Gott. Die Begegnung mit den Rittern in den Wäldern von Soltane ist Parzivals erster Kontakt mit der Ritterwelt. Sie versinnbildlicht den Gegensatz zwischen der Welt in und außerhalb Soltanes und prophezeit weitere Komplikationen in der Begegnung mit der Welt außerhalb Soltanes.
Der Ritt nach Nantes (129,5-147,10)
Nachdem Parzival Soltane verlässt, reitet er - den Rat seiner Mutter befolgend, nicht durch dunkles Gewässer zu reiten - an einem dunklen Fluss entlang, der jedoch nur von Blumen und Gras beschattet wird. Dieser unnötige Umweg kostet Parzival einen Tag seiner Reise. Auch den zweiten Ratschlag Herzeloydes versucht Parzival zu befolgen. Er grüßt bei jeder Gelegenheit die Menschen, welche ihm begegnen, und fügt hinzu: "sus riet mîn muoter" (138,8: das hat meine Mutter mich gelehrt). Dieses Verhalten spiegelt Parzivals Autoritätshörigkeit wieder, welche gegenüber Gurnemanz eine weitere Rolle spielen und Folgen für die gesamte Gralshandlung mit sich bringen wird.
Jeschute (129,18-138,4)
Parzivals Umweg führt ihn zu dem Ort, an dem er Jeschute trifft. Die Minnelehre seiner Mutter missverstehend entwendet Parzival Jeschute einen Fingerring und eine Hemdspange, küsst sie, vergreift sich an ihren Speisen und verschwindet. Diese Szene ist bewusst in erotischen Zweideutigkeiten formuliert, sodass der Leser nicht genau weiß, ob Parzival Jeschute nur die Gegenstände entwendet und einen Kuss eingefordert hat oder ob er intimer wurde. [Dallapiazza 2009: vgl. S. 11.] Die Folgen des Auftretens Parzivals sind fatal: Orilus de Lalander, der Gatte Jeschutes, bestraft im Glauben an einen Ehebruch seine Frau Jeschute hart und gibt sie der öffentlichen Schande ein Jahr lang preis. Parzival jedoch ist sich seiner Gräueltat nicht bewusst.
Der Artushof (147,11- 153,20)
Am Artushof in Nantes angekommen, erntet Parzival Gelächter auf Grund seines Narrenkostüms und seiner Annahme, jeder Ritter auf dem Artushof sei ein Artus. Cunneware de Lalant, welche niemals lachte, bis ihr der begegnete, der den "hôhsten prîs hete od solt erwerben" (151,14f.: höchsten Ruhm hätte oder gewinnen sollte), bricht bei dem Anblick Parzivals in Lachen aus und wird dafür von Keye mit Schlägen bestraft. Auch hier macht sich Parzival durch sein Verhalten und seinen Aufzug indirekt mitschuldig.
Ither (153,21-161,8)
Im Kampf gegen Ither tötet Parzival diesen durch einen Wurfspeer. Anschließend versucht er ihm seine Rüstung zu rauben, um sich diese anzulegen. Trotz der Tragik dieser Szene mutet es komisch an, als Parzival in "tumber nôt" (156,10: Klemme seiner Dummheit) es nicht versteht, Ithers Rüstung abzunehmen. Erst durch die Hilfe Iwanets gelingt es Parzival, die Rüstung zu entfernen und sich anzuziehen. Äußerlich mag Parzival nun ein Ritter sein, unter der Rüstung jedoch trägt er nach wie vor seine Narrenkleidung. Parzivals Vergehen an Ither lastet als zweite goße Sünde auf ihm (vgl. 499,20f.). Er hat nicht nur Ither einen unehrenvollen Tod durch den Wurfspeer beschert, sondern in Ither auch einen Verwandten ermordet. Der Erzähler verweist in diesem Zusammenhang auf die "grôziu tumpheit" (156,24: große Dummheit) Parzivals und bezeugt: "sît dô er sich paz versan, ungerne het erz dô getân" (161,8f.: später, als er es besser wusste, wäre es ihm lieber gewesen, er hätte es nicht getan). [Bumke 2004: vgl. S. 59.]
Parzivals tumpheit
Parzivals tumpheit ist das hervorstechendste Charaktermerkmal, welches ihm insbesondere in dem Buch III zugeordnet wird und ihn von anderen Helden mittelhochdeutscher Romane unterscheidet. Die oben geschilderten Szenen und Fehlhandlungen Parzivals lassen sich im Wesentlichen aus der Eigenschaft der tumpheit erklären. Bei der tumpheit Parzivals handelt es sich jedoch nicht um einen "Naturzustand" [Bumke 2004: S. 56.], sondern um einen "künstlich hergestellte[n] Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens" [Bumke 2004: S. 56.] als zentrale Folge der Pädagogik Herzeloydes. Diesen könnte man vor allem zu Beginn der Handlung als Weltfremdheit bezeichnen. Nur auf Grund der Erziehungsmethoden Herzeloydes, welche diametral zu der höfischen Lehre stehen, [Dallapiazza 2009: vgl. S. 39.] wird Parzival von der Welt außerhalb Soltanes, als von der Norm abweichend wahrgenommen und als tump bezeichnet. Das mittelhochdeutsche Wort tump ist jedoch nicht mit dem neuhochdeutschen Äquivalent "dumm" zu übersetzten, sondern im Sinne von "unerfahren", "unwissend" und "ungelehrt" zu verstehen. Gleichzeitig ist daraufhin zu weisen, dass die Erziehung in Soltane und ihre Folgen, das heißt die tumpheit des Protagonisten, erst den "springende[n] Punkt und de[n] Anreiz des Erzählens" [Haas 1964: S. 55.] bilden, von welchem aus sich die Romanhandlung entwickelt. Ohne Parzivals Mangel wäre die Erzählung weder romanhaft noch erzählenswert. [Haas 1964: vgl. S. 60.] Vor dem Hintergrund des Diskurses über Parzivals tumpheit stellt sich auch die Frage nach der Schuld bezüglich Parzivals Fehlhandlungen neu. Sie lässt sich mit der paradoxen Struktur beantworten, welche die Eigenschaft der tumpheit aufweist. Parzivals tumpheit ist die Ursache, wodurch er Fehlhandlungen begeht und Schuld auf sich lädt und zugleich ist sie die Eigenschaft, welche ihn von jeglicher Schuld befreit. Die tumpheit des Titelhelden ist damit der Ausgangspunkt sowohl von dessen Schuld als auch von dessen Unschuld. [Haas 1964: vgl. S. 78.] Joachim Bumke bemerkt dazu, dass die Parzivalhandlung "nicht auf Entwicklung angelegt ist, sondern auf Kontinuität der tumpheit." [Bumke 2001: S. 360.] Parzival kann jegliche Lehren, die er empfängt nicht richtig verarbeiten, da ihm die Fähigkeit, den Verstand richtig zu gebrauchen, nie vermittelt wurde. [Bumke 2001: vgl. S. 356f.]
Quellennachweise
- ↑ Alle Versangaben beziehen sich auf die Ausgabe: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
[*Bumke 2001] Bumke, Joachim: Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach, in: Text und Kultur. mittelalterliche Literatur 1150 - 1450 (DFG-Symposion 2000), hrsg v. Ursula Peters, Stuttgart/Weimar 2001, S. 355-370.
[*Bumke 2004] Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8. Aufl., Stuttgart/Weimar 2004 (Sammlung Metzler 36).
[*Dallapiazza 2009] Dallapiazza, Michael: Wolfram von Eschenbach: Parzival, Berlin 2009 (Klassiker-Lektüren 12).
[*Haas 1964] Haas, Alois M.: Parzivals Tumpheit bei Wolfram von Eschenbach, Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 21).