Parzivals Faux Pas auf der Gralsburg: Die Rolle der Erziehung
Pazival stellt die Frage nach dem Wohlergehen des Gralskönigs zunächst nicht. Warum?
Analyse
Nachdem Parzival[1] den nur für wenige geebneten Weg zur Gralsburg Munsalvaesche findet und dort die Gastfreundschaft genießt, stellt er nicht die lange erwartete Frage. Der Rezipient erfährt erst im neunten Buch, durch die Begegnung Parzivals mit Trevrizent, was genau es mit dieser Frage auf sich hat:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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dar solde ein rîter komn: | Es soll ein Ritter kommen: |
wurd des frâge aldâ vernomn | sobald die Frage vernommen wurde, |
sô solde der kumber ende hân: | soll der Kummer ein Ende haben. |
ez waere kint magt ode man, | Sei es Kind, Mädchen oder Mann - |
daz in er frâge warnet iht, | soll bloß nicht vor dem Fragen warnen, |
sone solt diu frâge helfen niht, | sonst werde die Frage nicht helfen. |
(483,21ff.)
Der schmerzleidende Gralskönig Anfortas soll also darauf vertrauen, dass ein Ritter kommen würde, der, ohne darauf aufmerksam gemacht zu werden, nach dem Wohlergehen des Königs fragt. Erst dann sollte er von seinem Schmerz erlöst werden. Bis dahin jedoch wird er durch das wöchentliche Anschauen des Grâls am Leben erhalten. Fragt jemand nach dem Verdruss des Königs, dann bestimmt der Gral einen neuen Gralskönig und Anfortas muss nicht länger leiden. Parzival findet, wie von einer höheren Macht geleitet, den Weg nach Munsalvaesche, stellt aber entgegen der Hoffnungen des Hofes nicht die ersehnte Frage nach dem Wohlergehen. Inwiefern das mit seiner Erziehung zusammenhängt, mit jener durch seine Mutter Herzeloyde in der Einöde von Soltane, oder der zweiten, höfischen, durch Gurnamanz soll im Folgenden analysiert werden. Joachim Bumke untersuchte den Zusammenhang zwischen Nicht-Fragen und der Erziehung in der Einöde von Soltâne. Er kommt zu den Schluss, die Erziehung hätte maßgebliche Auswirkungen auf das spätere Versäumnis der Frage.[Bumke 2001: 77] Walter Haug dagegen bestreitet, dass die Erziehung gänzlich die Verantwortung für das Nicht-Fragen tragen kann. Er verweist vielmehr auf das "Verhältnis von Subjektivität und Handlungsschema" [Haug 2008: 154], womit der Held, also Parzival, der Willkür des Dichters ausgeliefert ist und nicht selbst um die Ausmaße seiner Handlung weiß. Dieser Gedanke wird durch die göttliche Gnade unterstütz, die scheinbar willkürlich wirkt und ebenfalls für den Held nicht nachzuvollziehen ist. Im Folgenden soll nun auch der Frage nachgegangen werden, welche Forschung denn, nach dem Text, eher recht behält. Weiß Parzival von der Wichtigkeit der Frage, oder liegt es an seiner Erziehung in der Einöde, dass er sie zunächst nicht stellt.
Kindheit in Soltâne
Nach dem Tod ihres Gattens Gahmuret zieht Herzeloyde mit dem gemeinsamen Sohn Parzival von Kanvoleiz in die Einöde von Soltâne (Niemandsland). Sie spricht dabei ein Verbot aus, das verhindern soll, dass Parzival seinem Vater die Rittertaten nachtun könnte:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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ê daz sich der versan, | Bevor er [Parzival] vernünftig denken konnte, |
ir volc si gar für sich gewan: | ließ sie alle Leute kommen, |
ez waere man oder wîp, | es waren Männer und Frauen, |
den gebôt sie allen an der lîp, | denen sie bei Androhung der Todesstrafe verbot |
daz se immer ritters wurde lût. | von Rittern und Rittertum auch nur einen Ton zu sprechen. |
(117, 19-23)
Sie spricht sich damit nicht gegen Erziehung im Allgemeinen aus, sondern nur um Erziehung in höfisch-ritterlicher Tradition. Dies könnte einer gewissen Neugierde und damit der Lösung der Problematik in Munsalvaesche, neugierig zu sein und die Frage zu stellen, auch begünstigen. Lienert sieht die Neugierde für einen Grundstein des Lernens. [Lienert 2014: 266] Im Folgenden wird deutlich, dass das Erziehungskonzept Herzeloydes Fragen in keinem Fall ausschließt: Nachdem Herzeloyde versucht sämtliche Vögel in Sontâne umzubringen, da diese Parzival traurig machen (vgl. 118, 7 -119, 30), fragt er sie nach dem Grund.
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Der knappe sprach zer künnegîn | Der Knappe sprach zur Königin: |
‚waz wîzet man den vogelîn?‘ | „Was haben die Vögelchen verbrochen, dass man sie straft?“ |
er gert in friedes sâ zerstunt. | Er verlangte, man müsse sofort Frieden schaffen. |
(119, 9-11)
Die Frage Parzivals steht hier als direkte Frage, wodurch sie eindeutig als Frage charakterisiert wird und nicht etwa als Aussage. Parzival sieht also ein Problem, das er verstehen will und mit einer Frage zu lösen versucht. Auch weiterhin ist seine Neugierde zu erkennen: Nach der Erklärung Herzeloydes fragt er frei heraus: „‘ôwê muoter, waz ist got?‘“ (119, 17). Auch diese Frage ist in direkter Rede beschrieben. Parzival ist also durchaus fähig Fragen zu stellen, die für ihn zum Verständnis der Situation beitragen. Bumke spricht in diesem Kontext von einem durch die Erziehung „künstlich hergestellte[n] Zustand des Nicht-Wissens und Nicht-Verstehens“ [Bumke 2004: 56]. Dieser ist im Text jedoch kaum zu erkennen: Parzival erwirbt durch seine Fragen Wissen, die zum Verständnis dieser Situation beitragen. Auch kann an dieser Stelle nicht gesagt werden: „Pädagogisch macht Herzeloyde alles falsch“ [Bumke 2004: 55]. Denn Herzeloyde begünstigt durch ihr Eingehen auf die Fragen und eine genaue Erläuterung weiteres Fragen und somit weiteren Wissenserwerb. Hier ist viel eher die Überlegung angebracht ob die alternative Erziehung Herzeloydes Parzival nicht viel besser auf die Situation auf der Gralsburg vorbereitet als eine höfisch-ritterliche, denn sie fördert seine Neugierde und seine Fragen mit Antworten.
Die erste Begegnung mit Rittern
Als Parzival durch den Wald streift trifft er zufällig auf Ritter (vlg. 120, 11 – 126, 30). Auch die Erzählung dieser Szene ist von direkter Rede und vielen Fragen durchzogen. Zunächst fragen die Ritter „‘wer irret uns den wec?‘“ (121, 28), und ob er noch andere Ritter gesehen hätte, erhalten aber von Parzival zunächst keine Antwort, weil dieser sie für Gott hält. Er wendet hier das an, was er bei Herzeloyde über Gott lernte, nämlich: „er ist liehter denne der tac“ (119, 19). Die durch die Reflexion der Sonne hell glänzende Rüstung ist für ihn somit ein Hinweis auf Gott. Parzival bemerkt seinen Irrtum jedoch recht schnell und fragt, um ihn aufklären zu können.
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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der knappe frâget fürbaz | Der Knabe fragte weiter: |
‚du nennest ritter: waz ist daz? | „Du redest von Ritterschaft: Was ist das? |
hâstu nicht gotlîcher kraft, | Wenn es nicht göttlich ist , was an dir so glänzt, |
sô sage mir, wer gît ritterscahft?‘ | dann sage mir: Von wem kann man Ritterschaft bekommen? |
(123, 3-6)
Parzival fragt hier gleich mehrfach um sein erkanntes Missverständnis auszuräumen. Auch seine Neugierde kann hier exemplarisch beobachtet werden: Er fragt nicht nach einer Definition und wartet die Antwort ab, sondern hängt gleich die nächste Frage an, die auf den Ursprung abzielt. Auch inspiziert er die Rüstung der Ritter, vergleicht sie mit etwas Bekanntem und fragt danach, als er feststellt dass es sich nicht um das Bekannte handelt: „ay ritter gout, waz mahtu sîn?“ (123, 21). Auch weiter analysiert er die Rüstung:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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der knappe sprach durch sînen muot | Dem Knaben kam noch etwas in den Sinn, er sprach |
zem fürsten ‚war zuo ist diz gout, | zum Fürsten: „Wozu ist das gut, |
daz dich sô wol kann schicken? | dass du so schick aussiehst? |
ine mages niht ab gezwicken.‘ | Ich kann kein Ringlein abzwicken.“ |
(124, 1-4)
Hier wird ersichtlich, dass Parzival sehr wohl einen Teil der höfischen Erziehung genossen hat, denn er erkennt das Glänzende, das er vorhin noch für gottgleich hielt als schön an, was auf die generelle mittelalterliche Tradition des Hellen als Schönen verweist. Er selbst wir von den Ritter als schön bezeichnet (vgl. 124, 18). Die tumpheit, die Parzival von den Rittern zugesprochen wird, bezieht sich mit Sicherheit nur auf seiner Unkenntnis des Ritterlich-Höfischens, die für sie unverständig scheint. Generell kann jedoch festgehalten werden, dass es sich hier lediglich um die Unkenntnis von etwas Fremden handelt. Dieses Fremde will Parzival jedoch sofort erforschen und verstehen, was nicht für eine allgemeine tumpheit spricht. Parzival kehrt nach dieser Begegnung zunächst zu Herzeloyde zurück, berichtet davon und fasst den Beschluss, Ritter zu werden:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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'muoter, ich sach vier man | "Mutter, ich habe vier Männer gesehen, |
noch liehter dann got getân: | die sahen noch lichter aus als Gott. |
die sagten mir von ritterschaft. | Die erzählten mir von Ritterschaft. |
Artûs küneclîchiu kraft | Des Artûs königliche Kraft |
sol mich nâch rîters êren | soll mich in ritterliche Ehren |
an schildes ambet kêren,' | und zum Schildamt bringen." |
(126, 9-14)
Hier begründet Parzival seinen Wunsch Ritter zu werden allerdings nicht mit seiner Neugierde, sonder mit dem Streben nach Ehre, so wie sein Vater Gahmuret. In diesem Punkt hat die Herzeloydes Erziehung in Soltâne mit Sicherheit versagt, was aber auch nötig ist, damit die folgende Handlung sich entwickeln kann. Die Versagung der Erziehung kann also nicht generell festgemacht werden, sondern lässt sich strukturell begründen. [Haug 2008: 154] Die Erziehung Herzeloydes förderte aber, das lässt sich festhalten, Neugierde und Fragen und kann somit für das Nicht-Stellen der Frage in Munsalvaesche nicht verantwortlich gemacht werden.
Höfische Erziehung durch Gurnamanz
Nachdem Parzival den roten Ritter Ither tötet, ausraubt und danach am Arthushof vorstellig wird, stellt man seine fehlende höfische Erziehung fest. Bei Gurnamanz absolviert er anschließend quasi einen Knappendienst im Schnelldurchlauf und lernt alle wichtigen Benimmregeln bei Hofe. Allerdings wird hier auch Parzivals Neugierde und seine oft unpassend erscheinenden Fragen, die scheinbar seine tumpheit bekunden, zu unterdrücken versucht.
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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irn sult niht vil gevrâgen: | Ihr sollt nicht viel fragen. |
ouch sol iuch niht betrâgen | Auch sollt Ihr nicht zögern |
bedâhter gegenrede, diu gê | besonnen Antwort zu geben, |
reht als jenes vragen stê, | die der Frage des Stellers angemessen ist - |
der iuch wil mit worten spehen. | der will Euch mit Worten prüfen. |
ir kunnet hoeren unde sehen, | Ihr könnt hören und sehen, |
entseben unde draehen: | schmecken und riechen: |
daz solt iuch witzen naehen. | Das sollte Euch Weisheit näher bringen. |
(171, 17ff.)
Grunamanz lehrt Parzival ausdrücklich, weniger Fragen zu stellen und rät ihm, sich stattdessen auf seine Sinne zu verlassen, die ihm erlauben, das Geschehen zu beobachten und zu interpretieren. Er kann so beurteilen, was passiert, ohne unhöflich zu fragen. Parzival lernt damit in Hinblick auf die rettende Frage in Munsalvaesche aber genau das Falsche. Denn während des Essens auf der Gralsburg wundert er sich über das Leiden und die scheinbare Bedrücktheit des Hofes, versucht aber mithilfe stiller Beobachtung das Geschehen zu ergründen. Sein höflich gemeintes Benehmen schlägt hier aber fehl, denn er sollte genau das tun, was Gurnamanz ihm ausredet: Frei heraus zu fragen. Es wird also deutlich, dass Parzival, wäre er nicht von Gurnamanz unterrichtet worden, sondern auf dem Stand seiner Erziehung in Soltâne geblieben, die Frage wahrscheinlich gestellt hätte.
Das Frageversäumnis in Munsalvaesche
Dem Handlungsbericht aus der Gralsburg (V. Buch) vorgeschaltet ist die Szene der ersten Begegnung Parzivals mit Anfortas, bei der Anfortas als Fischerkönig beschrieben wird. Hier scheut sich Parzival nicht zu fragen, denn er möchte wissen, wo er unterkommen kann.
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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den selben vischaere | Diesen Fischer sprach er an |
begunder vrâgen maere, | und bat ihn um Hilfe: |
daz er im riete durch got | Er möge ihm um Gottes |
und durch sîner zühte gebot, | und seiner courtoise willen sagen |
wa er herberge möhte hân. | wo er eine Herbege finden könnte. |
(225, 13-17)
Auffällig ist hier, dass die Frage Parzivals lediglich in indirekter Rede steht, was im Vergleich zu den bisherigen Fragesituationen ein entscheidender Unterschied ist. Es scheint, als würde das durchaus vorhandene Vermögen Parzivals Fragen zu stellen, versteckt werden. Anfortas weißt ihm den Weg nach Munsalvaesche. In dieser Szene ist eine Frage-Antwort Situation auszumachen, wie sie für die Frage nach dem Wohlergehen des Grahlkönigs vorbildich ist. Parzival steht den Fischerkönig alleine gegenüber, hat ein Anliegen und kommuniziert es mithilfe einer Frage, ähnlich wie bei der Begegnung mit den Rittern im Wald von Soltâne. In Munsalvaesche dreht sich das Frageverhältnis um Parzival um: Anstatt erneut nach Quartier zu fragen begegnet er einem Knappen, der ihn "vrâgte in waz er suochte / od wann sîn reise waere" (226, 24f.). Auch hier, ähnlich wie durch die Benutzung der indirekten Rede, eine einfache Frage-Antwort-Situation scheinbar vermieden um das spätere Nicht-Fragen im Kontext glaubwürdig zu machen. Die in Zeiten der Trauer ungewöhnlichen Anstrengungen des Hofes im Musalvaesche um Parzivals Kommen scheinen ihn vielmehr zu verwirren, als ihm dabei zu helfen, das Richtige zu tun und die Frage zu stellen. Auch das Gralsritual versteht er nicht, traut sich aber nicht danach zu fragen:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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wol gemarcte Parzivâl | Parzival bemerkte wohl |
die rîcheit unt daz wunder grôz: | die Pracht und das große Wunder; |
durch zuht in vrâgens doch verdrôz. | doch wollte er nicht ungezogen sein und scheute sich zu fragen. |
er dâhte 'mir riet Gurnamanz | Er dachte:'Gurnamanz hat mir beigebracht |
mit grôzen triwen âne schranz, | - er ist mir gut und seine Treue ohne Scharte - |
ich solte viel gevrâgen niht. | dass ich nicht viel fragen soll. |
waz op mîn wesen hie geschiht | Könnte es nicht sein, dass alles hier von alleine geschieht, |
die mâze als dort pî im? | ähnlich wie bei ihm dort? |
âne vrâge ich vernim | Auch ohne Fragen werde ich erfahren |
wiez dirre massenîe stêt.' | was es mit diesen Leuten auf sich hat. |
(239, 9-17)
Hier wird deutlich, dass Parzival sich aufgrund der Erziehung durch Gurnamanz scheut die Frage zu stellen, und nicht etwa aufgrund der lange zurückliegenden Instruktionen seiner Mutter Herzeloyde. Er merkt zunächst auch nicht, dass er durch das Versäumnis einen Fehltritt getan hat, anders als ihm bei dem ersten Anblick der Ritter noch schnell klar wurde, dass er falsch liegt. Er kann sein Handeln nicht einschätzten und beginnt erst später, aufgrund der Instruktionen anderer, sich zu schämen und sein falsches Handeln zu bereuen. Da es dem Hof durch die Prophezeiung des Grâls verboten ist, ihn auf das Stellen der Frage hinzuweisen, kann die Problematik dieser Situation nicht aufgelöst werden. Walter Haug merkt jedoch an, dass das erste Versäumnis der Frage in Munsalvaesche jedoch strukturell bedingt ist und einen "stufenweisen Lernprozess" [Haug : 152] erst möglich macht. Der Held allerdings weiß von der Bedeutung seiner Lernprozesses für den Roman ja nichts und kann somit auch nicht darauf reagieren. Parzival weiß in diesem Teil des Romans auch nicht, was genau der Grâl ist und schätzt diese Situation somit nicht als wichtiger ein als andere. Klar wird an dieser Stelle aber, dass seine Neugierde hier immer noch vorhanden ist, von der höfischen Erziehung allerdings entscheidend gehemmt wird.
Hinweise durch Frauen
Nachdem Parzival Munsalvaesche verlässt, bekommt er zunächst ausschließlich Hinweise von Frauen, die ihm sein Fehlverhalten vorwerfen.
Sigûne
Direkt nachdem er aus Munsalvaesche fortgeritten ist, trifft Parzival auf Sigûne. Sie fragt ihn nach dem Grâl, so erfährt er den Namen der Gralsburg. Als sie ihn nach der wichtigen Frage fragt, heißt es "Er sprach 'ich hân gevrâget niht.' (255, 1). Darauf beschimpft sie Parzival und verweigert ihm jegliche Erklärung. Zunächst schein es, als wäre Sigûne emotional überfordert, doch später löst sich durch die Erklärung Trevrizents auf, warum sie Parzival nicht einfach von der bestehenden Problematik um Anfortas erzählt hat: Da sie zu der Gralsfamilie gehört, ist sie in die Prophezeiung eingeweiht. Würde sie Parzival alles erklären, wäre sein Chance erneut zu fragen gleich dahin. Parzival bereut sein Schweigen zwar, weil er weiß, dass er falsch gehandelt hat, aber was was es mit der Frage auf sich hat weiß er immer noch nicht.
Cundrîe
Die Gralsbotin Cundrîe stört die Feierlichkeiten zu Parzivals Aufnahme in die Artusgesellschaft. Sie verflucht Parzival, weil er es versäumte in Munsalvaesche zu fragen:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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ir sâht ouch für iuch tragen den grâl, | Ihr saht den Grâl, als man ihn für euch hintrug |
und snîdnde silbr und bluotic spre. | und schneidendes Silber und blutigen Speer. |
ir freuden letze, ir trûrens wer! | Dem Glück macht ihr den Graus, Trauer habt ihr zu schenken. |
waer zu Munsalvaesche iu vrâgen mite, | Wäre es euch eingefallen zu fragen in Munsalvaesche, |
in heidenschaft zu Tabronite | so hätte euch das reicher gemacht als bei den Heiden in Tabronite zu holen wäre. |
(316, 26-30)
Durch die Verfluchung wird erneut klar, dass Parzival versäumt hat nach etwas zu fragen, die Erklärung wird aber wiederum nicht wirklich geliefert. So weiß weder Parzival, noch der Rezipient wonach genau Parzival in Munsalvaesche denn hätte fragen sollen. Beide Frauen fungieren hier nur zur Deklaration seines Fehltritts, geben ihm aber keine Verbesserungsvorschläge. Interessant ist nun, dass der sonst so neugierige Parzival nicht danach fragt, was er denn hätte fragen soll, was nicht seinen sonst üblichen Frageverhalten entspricht. Allerdings ist das strukturell nötig, da sonst Trevrizent als religiöser Ratgeber nicht fungieren könnte.
Instruktion durch Trevrizent
Bei einem Einsiedler kehrt Parzival ein und revidiert sein verlorenes Vertrauen in Gott (IX.Buch). Er lebt für kurze Zeit in der Klause und lernt das durch Verzicht geprägte Leben kennen. Trevrizent klärt Parzival nicht nur über die Zusammenhänge des Leides auf der Gralsburg auf, er instruiert ihn auch, durch den Bericht über den Ritter, der nicht fragte, aktiv zu einer Frage.
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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sît kom ein rîter dar gerîten: | Seitdem kam ein Ritter dorthin geritten: |
der möhtez gerne hân vermiten; | der das lieber hätte vermeiden sollen; |
von dem ich dir ê sagte, | von dem ich dir bereits erzählte, |
unprîs der dâ bejagte, | der dort keine Ehre erstreiten konnte, |
sît er den rehten kumber sach, | als er den rechten Kummer sah, |
daz er niht zuo dem wirte sprach | und trotzdem nicht den Wirt fragte: |
'hêrre, wie stêt iwer nôt?' | "Herr, was ist's mit eurer Not?" |
(484, 21ff.)
Hier wird ersichtliche, dass er ihm sogar eine mögliche Formulierung in direkter Rede anbietet, die Parzival genau so weiter verwenden könnte, was er allerdings im weiteren Verlauf nicht tut. Trevrizent legt Parzival nach einiger Zeit auch die familiären Verknüpfungen offen. So erfährt Parzival, dass er direkt mit dem Hof in Munsalvaesche verwandt ist, da seine Mutter Schwester des Gralskönigs war. Aus dem Gespräch mit Trevrizent schöpft er neues Gottvertrauen und versteht nun die Problematik der der Frage. Er möchte erneut nach Munsalvaesche um das Versäumnis nachzuholen. Allerdings wird dieses Vorhaben durch die Raumkonzeption akut erschwert, denn Munsalvaesche kann nicht einfach gefunden werden, sonder bestimmt selbst, wer die Burg finden darf.
Der Kampf der Brüder
Im Wald trifft Parzival zufällig und nichtwissend auf seinen Halbbruder Feirefîz, gegen den er kämpft. Hier würde eine einfache Frage nach der Herkunft die Situation enorm erleichtern und aufklären können. Stattdessen kämpfen die Brüder auf Leben und Tod, erst der Eingriff Gottes bewirkt, dass sie sich als Brüder erkennen. Dieser Kampf zeigt explizit wie sich das Frageverhalten Pazivals seit seiner Ankunft auf Munsalvaesche verändert hat: Er befolgt die höfischen Regeln, die er bei Gurnamanz gelernt hat und verdrängt darüber seine Neugierde. Während auf der Gralsburg in der stillen Analyse der Situation noch Neugierde mitschwang, ist diese im Folgenden nicht mehr zu erkennen. Die Situationen werden zwar mit göttlicher Hilfe gelöst, nicht aber durch Parzival selbst. So könne man viel eher in diesem Kontext von einer tumpheit Parzivals sprechen, durch die Zweiterziehung am Hofe Gurnamanz' verursacht.
Die zweite Chance: Oeheim, waz wirret dir?
Erneut stößt die Gralsbotin Cundriê bei einer Zusammenkunft des Artushofes dazu. Allerdings hat sie diesmal eine gute Nachricht vorzubringen und entschuldigt sich für die vorangegangene Verfluchung:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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daz epitafjum ist gelesen: | Das Epitafium ist gelesen: |
du solt des grâles hêrre wesen. | Du sollst er Herr des Grâls sein. |
Condwîr âmûrs daz wîp sîn | Côndwîr âmûrs, deine Frau |
und dîn sun Loherangrîn | und dein Sohn Lohenangrîn |
sint beidiu mit dir dar benant. | sind beide mit dir berufen. |
dô du rûmdes Brôbanz daz lant, | Als du das Land Brôbanz verließest, |
zwên süne si lenbendec dô truoc. | da trug sie im Leib zwei lebendige Söhne. |
Kardeiz hât och dort genuoc. | Kardeiz wird dort ein großer Herr sein. |
(781, 15-22)
Wiederum wird die Situation durch einen Eingriff Gottes gelöst: Denn der Grâl stellt quasi einen direkten Draht zu Gott her. Durch die Berufung Parzivals sind all seine Probleme gelöst, ohne dass er zu seiner Neugierde zurückgefunden hat. Allerdings muss er immer noch - proforma - die Wohlergehensfrage an Anfortas stellen:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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er warp daz müese werden rât | Er bat, es möge ihm geholfen werden, |
des trûrgen mannes herzesêr. | dem traurigen Mann, aus seiner Herzesqual. |
er riht sich ûf und sprach sô mêr | Er stand auf und sprach die Worte: |
'oeheim, waz wirret dier?' | "Oheim, was tut dir weh?" |
(795, 26-30)
Deutlich wird an dieser Stelle einerseits, dass er die Aufgabe nicht alleine vermag zu lösen, sondern nur mit der Hilfe Gottes, und andererseits, dass diese Frage wieder in direkter Rede steht und damit vergleichbar mit den neugierigen Fragen aus Soltâne wird. Auch verwendet Parzival nicht die Wendung, die Trevrizent ihm in der Klause als Vorlage lieferte. So wird am Ende klar, dass Parzival seine Neugierde und sein Fragevermögen, die unter der höfischen Erziehung durch Gurnamanz gelitten hatten, zwar zu einem Teil wiedererlangt, die Situation jedoch nur mit der Hilfe Gottes gelöst werden kann. Die Gnade Gottes steht somit vor Neugierde und persönlichem Erkenntnisvermögen.
Das Frageverbot
Nach der Berufung Parzivals zu Gralskönig und der Taufe Feirefîz' erscheint eine Schrift auf den Grâl, die ein zukünftiges Reglement für das Fragen vorgibt:
mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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nâch der toufe geschihte | Nachdem die Taufzeremonie beendet war, |
ame grâle man geschriben vant, | sah man am Grâl eine Schrift: |
swelhen templeis diu gotes hant | Wenn die Hand Gottes einen Tempelritter |
gaeb ze hêrren vremder diete, | fremden Leuten zum Herren gebe, |
daz er vrâgen widerriete | so solle der sie davor warnen zu fragen |
sînes namen od sîns geslehtes, | nach seinem Namen oder seinem Abkunft, |
unt daz erin hulfe rehtes. | und er solle jedem sein Recht zukommen lassen. |
Sô diu vrâge wirt gein im getân, | Sobald jemand ihn frage, |
sô mugen sis niht langer hân. | dürfen sie ihn nicht länger bei sich behalten. |
durch daz der süeze Anfortas | Weil der liebe Anfortas |
sô lange sin sûren pînen was | sich so lange quälen musste |
unt diu vrâge lange meit, | und die Frage lange Zeit nicht zu ihm kommen wollte, |
in ist immer mêr nu vrâgen leit. | sind sie nun immerfort sehr empfindlich gegenüber Fragen. |
als des grâles pflihtgesellen | Die Ritter der Gralsgesellschaft |
von in vrâgens niht enwellen. | wollen keine Fragen hören. |
(818, 25 - 819, 8))
Interessant ist nun, dass das Frageverbot des Grâls einer liberalen Frageverordung eigentlich entgegenwirkt. So wird genau das in feste Regeln gefasst, was Parzival daran hinderte die erlösende Frage zu stellen. Das Frageverbot wirkt somit nicht in Richtung einer Erleichterung der Regeln des Fragens, sondern verkompliziert diese weiter. Auch resultiert das Verbot nicht etwa aus Parzivals Versäumnis die Frage zu stellen, sondern vielmehr aus einer Angst vor Konkurrenz. Das wird durch die Erzählungen in der Klause von Trevrizent deutlich, in der er erwähnt, dass "der lebe heiden was gewis, / sîn ellen solde den grâl haben." (479, 18f.). Das Verbot bezweckt also einzig, dass die Herkunft der Gralsritter geheim bleibt und somit keine Gefahr durch fremde Angriffe für Munsalvaesche besteht. Die Problematik, die durch Parzivals Nicht-Fragen aufgeworfen wird, wird durch den Grâl also nicht aufgelöst. Dieser versucht lediglich dafür zu sorgen, dass es nicht erneut zu einem Angriff auf den Gralskönig kommen kann.
Fazit
In der vorangehenden Analyse wurde deutlich, dass die Erziehung Parzivals in der Einöde von Soltâne durch seine Mutter Herzeloyde keinesfalls für das Versäumnis der Frage nach dem Wohlergehen des Gralskönigs verantwortlich ist. So wurde vielmehr deutlich, dass die ritterlich-höfische Erziehung durch Gurnamanz, die vom Artushof nach der Tötung eines Verwandten für Parzival angeordnet wurde, seine eigentlich vorhandene Neugierde und den damit verbunden Hang zum Fragen unterbindet. Parzival stellt die Frage in Munsalvaesche nicht, weil er daran denkt, dass dieses Verhalten nicht den Benimmregeln entsprechen würde, die er bei Gurnemanz erlernt hat. Das Nicht-Stellen der Frage ermöglicht jedoch, wie Walter Haug richtig beschreibt, dass der Roman sich im Folgenden mit dem Lernprozess Parzivals auseinandersetzt. Das Versagen des Helds an dieser Stelle ist also sicherlich strukturell manifestiert. Jedoch passiert durch die analysierte Verteilung von Fragen in direkter und indirekter Rede eine Kurve der Neugierde Parzivals, die sich ähnlich wie der im Prolog beschriebene Bogen verhält: Er erleidet in der Mitte der Erzählung einen Tiefpunkt. Erst mit dem durch das in der Unterredung bei Trevrizent zurückgekehrte Gottvertrauen Parzivals werden problematische Situationen gelöst und Parzival nähert sich seiner Neugierde erneut an. Erst ganz zum Schluss, bei der Erlösung des Gralskönigs traut er sich wieder (direkt) zu fragen und auch seine eigene Fragen zu stellen. Somit wird deutlich, dass das Fragen und Nicht-Fragen im Parzival zwar eine wichtige Rolle einnimmt, die des Gottvertraues aber sehr eng damit verwoben ist. Reiner Neugierde wird somit nicht unbedingt zugesprochen, jedoch wird dir Einschränkung durch höfische Erziehung eindeutig negativ dargestellt.
Anmerkungen
- ↑ Es wird unter Angabe von Strophen und Verszahl zitiert nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.
Literaturverzeichnis
<harvardreferences />
- [*Bumke 2001] Bumke, Joachim, 2001: Die Blutstropfenszene im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach.
- [*Bumke 2004] Bumke, Joachim, 2004: Wolfram von Eschenbach. 8. Auflage.
- [*Haug 2008] Haug, Walter, 2008: Warum versteht Parzival nicht, was er hört und sieht? Erzählen zwischen Handlungsschematik und Figurenperspektive bei Hartmann und Wolfram. In: (ders.) Positivierung und Negativität: letzte kleine Schriften. S. 141-156.
- [*Lienert 2014] Lienert, Elisabeth, 2014: Können Helden Lernen?: Wissen und Subjektkonstitution in europäischen Parzivalromanen. In: Wolfram-Studien XXIII. S.251-267.
Weiterführende Literatur
- Baisch, Martin, 2014: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. In: Lutz, Eckart Conrad u.a. (Hrsg.): Wolfram-Studien XXIII. S. 207-250.
- Michaelis, Beatrice, 2007: Das Schweigen Parzivals - oder: Alles eine Frage der Erlösung?. In: Glawion, Sven u.a. (Hrsg.): Erlöser. Figuration männlicher Hegemonie. S. 29-40.
- Ridder, Klaus, 2002 : Narrheit und Heiligkeit. Komik im 'Parzival' Wolframs von Eschenbach. In: Haubrichs, Wolfgang u.a. (Hrsg.): Wolframstudien XVII. S. 136-156.
- Schnetz, Wolf Peter, 2005: Im Zweifel für die Frage. Die Bedeutung der Frage in Wolframs "Parzival". In: Literatur in Bayern 80. S. 19-24.