Täter und Opfer (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen

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Es kann nicht ausschließlich davon ausgegangen werden, dass Reinhart stets konzentriert bei der Sache ist. Auch Reinhart zeigt Schwächen, indem er sich von der Einbildung seiner Geliebten verwirren lässt. Denn, so begründet es beispielsweise Ruh, "auch ein listiger Fuchs [könne] Erkenntnistrübungen [haben] und Minne [sei] es, die sie [bewirke]" [Ruh 1980: 21]. Es wird so auch eine Ambivalenz des Fuchses deutlich, ob er wirklich klar als ''Täter'' bezeichnet werden kann oder ebenfalls als ''Opfer'' seiner Gelüste und Triebe.
Es kann nicht ausschließlich davon ausgegangen werden, dass Reinhart stets konzentriert bei der Sache ist. Auch Reinhart zeigt Schwächen, indem er sich von der Einbildung seiner Geliebten verwirren lässt. Denn, so begründet es beispielsweise Ruh, "auch ein listiger Fuchs [könne] Erkenntnistrübungen [haben] und Minne [sei] es, die sie [bewirke]" [Ruh 1980: 21]. Es wird so auch eine Ambivalenz des Fuchses deutlich, ob er wirklich klar als ''Täter'' bezeichnet werden kann oder ebenfalls als ''Opfer'' seiner Gelüste und Triebe.
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== Begrifflichkeit ''Täter'' und ''Opfer'' ==
== Begrifflichkeit ''Täter'' und ''Opfer'' ==
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'''Rache, Vergeltung, Gier''' - diese Motive begleiten nicht ausschließlich den vermeintlich alleinigen Bösewicht Reinhart, den listigen Fuchs. Die Mittel der potenziellen Täter - beispielsweise '''Gift, physische wie psychische Gewaltanwendung, Lügen, Intrigen''' - werden ebenfalls nicht nur von Reinhart Fuchs allein angewandt. Sie ist bei vielen Figuren allgegenwärtig. Untersucht wurden etwas intensiver die vier zentralen Figuren des Werks: Isengrin, Hersant, Vrevel und Reinhart. Viel mehr ist also verdeutlicht worden, wie amibivalent auch die Wölfe Isengrin und Hersant oder der Löwenkönig Vrevel betrachtet werden können. Zudem finden auch die Nebenfiguren ihre Erwähnung. Sei es der Ameisenkönig, der einen erheblichen Anteil daran hat, dass letztendlich Reinhart mit seinen Intrigen erfolgreich seine Gegenspieler samt König ausschalten kann, indem er aus Rache in den Kopf des Löwen eingedrungen ist. Oder die Gefolgschaft des Königs, die zwar wie auch die Wölfe nach Vergeltung und Rache gegen den listigen Fuchs trachten, jedoch viele genau das mit ihrem Leben bezahlen, weil sie Opfer ihrer Triebe und Gier wurden. Von diesen Verirrungen bleibt allerdings auch der Fuchs nicht verschont (vgl. Brunnen-Szene). Ihm wird zudem ein ungerechter Prozess gemacht. <br />
'''Rache, Vergeltung, Gier''' - diese Motive begleiten nicht ausschließlich den vermeintlich alleinigen Bösewicht Reinhart, den listigen Fuchs. Die Mittel der potenziellen Täter - beispielsweise '''Gift, physische wie psychische Gewaltanwendung, Lügen, Intrigen''' - werden ebenfalls nicht nur von Reinhart Fuchs allein angewandt. Sie ist bei vielen Figuren allgegenwärtig. Untersucht wurden etwas intensiver die vier zentralen Figuren des Werks: Isengrin, Hersant, Vrevel und Reinhart. Viel mehr ist also verdeutlicht worden, wie amibivalent auch die Wölfe Isengrin und Hersant oder der Löwenkönig Vrevel betrachtet werden können. Zudem finden auch die Nebenfiguren ihre Erwähnung. Sei es der Ameisenkönig, der einen erheblichen Anteil daran hat, dass letztendlich Reinhart mit seinen Intrigen erfolgreich seine Gegenspieler samt König ausschalten kann, indem er aus Rache in den Kopf des Löwen eingedrungen ist. Oder die Gefolgschaft des Königs, die zwar wie auch die Wölfe nach Vergeltung und Rache gegen den listigen Fuchs trachten, jedoch viele genau das mit ihrem Leben bezahlen, weil sie Opfer ihrer Triebe und Gier wurden. Von diesen Verirrungen bleibt allerdings auch der Fuchs nicht verschont (vgl. Brunnen-Szene). Ihm wird zudem ein ungerechter Prozess gemacht. <br />
Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Opferrollen, die es nicht zu beschönigen gibt: das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die schamlose Vergewaltigung Hersants durch Reinhart mit all ihren Folgen. Oder all die kleinen Tiere, welche beinahe dem Hunger des Fuchses zum Opfer gefallen wären. Ein Huhn musste dies tatsächlich mit ihrem Leben bezahlen (V. 1471 f., RF). <br /> <br/>
Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Opferrollen, die es nicht zu beschönigen gibt: das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die schamlose Vergewaltigung Hersants durch Reinhart mit all ihren Folgen. Oder all die kleinen Tiere, welche beinahe dem Hunger des Fuchses zum Opfer gefallen wären. Ein Huhn musste dies tatsächlich mit ihrem Leben bezahlen (V. 1471 f., RF).  
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Die klare Herausarbeitung der Opferrollen ist wichtig, weil im Werk Reinhart Fuchs die Gewaltakte teilweise sehr stark polemisiert und ironisiert, geradezu euphemistisch dargestellt werden. Diese Gewaltstilisierung verdeutliche einen eher löwischen und füchsischen Blick auf Gewalt, welche diese als legitim zu vermitteln versuchten (vgl. [Dietl 2010: 53 f.]) <br /> <br/>
Abschließend gibt es einen interessanten Forschungsansatz, der die Ambivalenz in der grundsätzlichen Beurteilung, welche Figur inwiefern für was verantwortlich ist und einer Täter- oder Opferrolle zugeordnet werden kann, noch einmal ganz anders betrachtet. Karl Bertau beschäftigt sich mit der Erzählstruktur im Reinhart Fuchs und wie sich diese auch letztendlich auch auf vermeintlich klare Zuweisungen gewisser Erzählabfolgen auch auf die Zuweisung sämtlicher Täter- oder Opferrollen auswirken könnten. Allein schon in der Unterschiedlichkeit der vorhandenen Überlieferungen ließen sich Erzählordnung und Handlungsstruktur ambivalent betrachten. Dies könnte die Frage aufwerfen, ob dann nicht auch eine klare Zuweisung jeglicher zu verantwortbaren Taten und Handlungen nicht auch infrage gestellt werden könnten (vgl. [Bertau 1983: 19-29]).  
Abschließend gibt es einen interessanten Forschungsansatz, der die Ambivalenz in der grundsätzlichen Beurteilung, welche Figur inwiefern für was verantwortlich ist und einer Täter- oder Opferrolle zugeordnet werden kann, noch einmal ganz anders betrachtet. Karl Bertau beschäftigt sich mit der Erzählstruktur im Reinhart Fuchs und wie sich diese auch letztendlich auch auf vermeintlich klare Zuweisungen gewisser Erzählabfolgen auch auf die Zuweisung sämtlicher Täter- oder Opferrollen auswirken könnten. Allein schon in der Unterschiedlichkeit der vorhandenen Überlieferungen ließen sich Erzählordnung und Handlungsstruktur ambivalent betrachten. Dies könnte die Frage aufwerfen, ob dann nicht auch eine klare Zuweisung jeglicher zu verantwortbaren Taten und Handlungen nicht auch infrage gestellt werden könnten (vgl. [Bertau 1983: 19-29]).  
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*[*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.
*[*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.
*[*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
*[*Dimpel 2013] Dimpel, Friedrich Michael: Füchsische Gerechtigkeit. des weste Reinharte niman danc, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Jahrgang 135, de Gruyter (3), Berlin und New York 2013, S. 399-422.
*[*Dimpel 2013] Dimpel, Friedrich Michael: Füchsische Gerechtigkeit. des weste Reinharte niman danc, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Jahrgang 135, de Gruyter (3), Berlin und New York 2013, S. 399-422.
*[*Düwell et al. 2018] Düwell, Susanne / Bartl, Andrea / Hamann, Christof / Ruf, Oliver: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien - Geschichte - Medien, Springer-Verlag, Stuttgart 2018.
*[*Düwell et al. 2018] Düwell, Susanne / Bartl, Andrea / Hamann, Christof / Ruf, Oliver: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien - Geschichte - Medien, Springer-Verlag, Stuttgart 2018.

Aktuelle Version vom 17. Februar 2021, 23:11 Uhr

Der folgende Artikel stellt dar, inwieweit nicht nur die Hauptfigur des von Heinrich dem Glîchezâren verfassten Tierepos Reinhart Fuchs [1] in eine ambivalente Täter- und Opferrolle einzuordnen ist (vgl. hierzu erste Täter-Opfer-Analysen in Reinharts Figurencharakteristik). Vielmehr wird auch der Fokus auf die anderen nennenswerten Figuren des Werkes gerichtet und interpretiert, warum auch sie ambivalente Rollen besitzen können. Zu Beginn folgt eine kurze Einordnung in die Problematik der Täter- und Opferzuteilung anhand der Brunnen-Szene (RF, V. 831-848) aus Reinhart Fuchs (kurz RF). Anschließend werden die nennenswerten Figuren des Werkes - ganz konkret Isengrin, Hersant, König Vrevel und Reinhart Fuchs - und ihre mögliche/n Rolle/n erörtert. Abschließend werden zentrale Ergebnisse zur Rolleneinordnung und ihre mögliche Ambivalenz zusammengefasst.

Hinführung zur Problematik der Täter- und Opferzuweisung

Um zu verstehen, warum die Rollenzuweisung in Täter oder Opfer durchaus schwierig sein kann, gilt es zunächst einmal die Szene aus RF zu betrachten, in welcher Reinhart in den Klosterbrunnen stürzt.

Kontext der Handlung
Reinhart, ein Fuchs, der mit Hinterhältigkeit und etlichen Intrigen zahlreiche Tiere eines Königreiches in Bedrängnis bringt, scheitert bislang mehrfach, sowohl den Wolf Isengrin als ebenbürtigen Kontrahenten als auch andere Tiere erfolgreich zu hintergehen. Bislang scheint es nicht sein Tag zu sein ("doch ist hevte niht sin tac", RF V. 218). Allerdings gelingt ihm im weiteren Verlaufe der Handlung König Vrevel zu manipulieren und seine Ankläger Schritt für Schritt mundtot zu machen, zuletzt auch den König selbst. Im Gesamtzusammenhang befinden wir uns noch in der zunächst sehr erfolglosen Phase seiner Intrigen (vgl. Reinhart der Verlierer).

Vorausgegangene Handlung der Szene
Der Wolf Isengrin und Reinhart waren zuvor gemeinsam auf der Jagd nach frischen Aalen auf einem gefrorenen See. Auch hier beginnt Reinhart bereits seine nächste List umzusetzen. Reinhart lässt Isengrin den schweren Eimer voller Beute tragen und beabsichtigt, dass er (der Wolf) mit seinem Schwanz allmählich an dem Eis festfriert. Reinhart macht sich aus dem Staub und lässt ihn mit dem schweren Eimer allein. Isengrin ist durch seinen festgefrorenen Schwanz dem nahenden Jäger und seinen Hunden schutzlos ausgeliefert. Der Jäger scheitert allerdings mit seinem Versuch, den Wolf zu fassen und trifft den Wolf lediglich mit seinem Schwert am Schwanz. Glücklicherweise gelingt es dadurch Isengrin, wenn auch nun ohne Schwanz, sich zu befreien und zu flüchten. Reinhart dagegen sucht sich bereits einen neuen Ort, um durch List an Nahrung zu gelangen und nähert sich einem Kloster.

Ausschnitt aus RF (V. 831-848): Reinharts tiefer Fall in den Klosterbrunnen

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Reinhart begunde umbe gan. Reinhart ging umher.
vor dem tor sach er stan Er stand vor dem Tor und sah
einen sot dief unde wit, einen Brunnen tief und breit,
da sach er in, daz gerovwlin sit: daraufhin blickte er hinein, was er später bereuen sollte:
sinen scatin er drinne gesach. er sah darin seinen Schatten.
ein michel wunder nv gesach, Es geschah nun ein großes Wunder,
daz der ergovchete hie, so dass er jetzt zum Toren wurde,
der mit listen wunders vil begie. der sonst mit Listen viele Ungeheuerlichkeiten beging.
Reinhart wande sehin sin wib, Reinhart meinte seine Geliebte zu sehen,
div was ime lieb alsam der lib, welche er ebenso liebt wie er sich liebte,
wan daz er sih doh niht wolte unthaben, jedoch wollte er sich nicht abhalten lassen,
ern mvoste frivndinne haben, trotzdem mehrere Geliebte zu haben,
wande minne git hohen muot; weil Minne ihn zu Hochmut führt;
davon duhte si in guot. dadurch sie ihm kostbar erschien.
Reinhart lachete darin, Reinhart lachte hinunter,
do zannete der scate sin. da bewegte sich sein Schatten
des wister ime michelin danch: deshalb bedankte er sich sehr:
vor liebe er in den sot spranch. vor Liebe sprang er in den Brunnen.


Nachfolgende Handlung der Szene
Reinhart kann sich im Brunnen gerade noch retten und kommt dem Tod davon. Als sich dann auch Isengrin dem Kloster und dem Brunnen nähert, nutzt Reinhart die nächste Chance für einen Hinterhalt. Als der Wolf daraufhin einen Schatten im Brunnen erkennt, täuscht Reinhart ihm vor, dass unten im Brunnen sich die Seele des vermeintlich toten Reinharts befände. Der Fuchs beabsichtigt, wieder aus seiner Not zu entkommen und den Brunnen zu verlassen, weshalb er alles daran setzt, Isengrin zu manipulieren und ihn letztlich durch einen Trick in einen Eimer zu bringen. Als der geblendete Isengrin hinabsteigt, gelingt es Reinhart gleichzeitig, mit dem anderen Eimer empor zu steigen und lässt den Wolf erneut seinem Schicksal überlassen.

Zwischenfazit aus der Brunnen-Szene
Es kann nicht ausschließlich davon ausgegangen werden, dass Reinhart stets konzentriert bei der Sache ist. Auch Reinhart zeigt Schwächen, indem er sich von der Einbildung seiner Geliebten verwirren lässt. Denn, so begründet es beispielsweise Ruh, "auch ein listiger Fuchs [könne] Erkenntnistrübungen [haben] und Minne [sei] es, die sie [bewirke]" [Ruh 1980: 21]. Es wird so auch eine Ambivalenz des Fuchses deutlich, ob er wirklich klar als Täter bezeichnet werden kann oder ebenfalls als Opfer seiner Gelüste und Triebe.

Begrifflichkeit Täter und Opfer

Bevor die zentralen Figuren des RF in Täter und/oder Opfer eingeordnet werden können, werden die jeweiligen Rollen und ihre wortwörtliche wie semantische Bedeutung näher definiert. Hier wird schon deutlich, dass selbst die Begrifflichkeiten ambivalenter nicht sein können.

Definition des Täters

Der Duden definiert rein sprachgeschichtlich und syntaktisch den Täter als maskulines Substantiv, welches sich ursprünglich aus dem mittelhochdeutschen -tæter bzw. dem althochdeutschen tāt und tuon herleite. Ein Täter sei jemand, welcher eine Tat begangen habe. Es werden auch juristische Analogien zu Straftaten hergestellt. [2] [3]
Das Wort kann allerdings auch literaturwissenschaftlich betrachtet werden. Zunächst einmal sei jemand laut Definition von Düwell et al. ein Täter, welcher niedere Beweggründe habe, eine Tat zu begehen. Beispiele könnten hierfür Hass, Neid, Gier, Eifersucht, Rachegedanken, Gewinnstreben oder Missgunst sein. Mögliche Mittel des dort definierten Täters könnten bloße Hände, Waffen, Gift, Gas oder Alltagsgegenstände sein. Besonders im Kontext der moderneren Kriminalliteratur könne der Täter sehr ambivalente Rollen einnehmen: Einerseits könne sich solch ein Täter in Detektivromanen unauffällig verhalten, der anfangs als Verdächtiger angesehen und erst später als Täter entlarvt werden könne. Andererseits werde ein Täter in Thrillern auch ganz bewusst als skrupelloser Gegenspieler bzw. Antagonist mit der Besonderheit, dass seine Beweggründe transparent und so für den Rezipienten durchaus nachvollziehbar erscheinen, dargestellt und definiert. (vgl.[Düwell et al. 2018: 254 f.]).

Definition des Opfers

Der Duden definiert rein sprachgeschichtlich und syntaktisch das Opfer als neutrales Substantiv, welches vom mittelhochdeutschen opfer bzw. dem althochdeutschen opfar abstamme. Komplexer wird es hier jedoch, wenn es um die klare semantische Bedeutung geht. Je nach Kontext kann das Substantiv anders definiert werden. Als Opfer werden hier im religiösen Kontext bestimmte Gaben wie z.B. ein Tier für eine höhere göttliche Instanz bezeichnet. Außerdem könne es als immaterielle Hingabe verstanden werden, welche eine Person zugunsten einer anderen Person aufbringe. Ein aktueller und sehr negativ konnotierter jugendlicher Ausdruck wird es, wenn jemand dadurch als Schwächling oder Verlierer beleidigt werde. Die gängigere Version eines Opfers ist die einer Person, welche aufgrund der Handlung eines anderen oder eines unglücklichen Umstandes zu Schaden komme. [4]
Im Zuge der Kriminalliteratur findet sich ebenfalls eine differenziertere Definition des Opfers, die Ähnlichkeiten zu den obigen Duden-Definitionen aufweist. Aufgegriffen werden hier zusätzlich die lateinischen Herleitungen sacrificium und victima, weil diese eine andere semantische Bedeutung pflegten. Im Deutschen hingegen werden beide Begriffe als Opfer übersetzt, was eine semantische Ambiguität erzeuge. Der erste Begriff beziehe sich dabei vielmehr auf den bereits erwähnten religiös-kulturellen Kontext, in welchem das Opfertum literarisch ebenfalls seine Erwähnung finde. Doch die neuzeitliche Loslösung des Opfer-Begriffes von seiner religiösen Bedeutung hin zum dominanten juristisch-kriminologischen Begriff victima sei von primärer Bedeutung. Hier werde als Opfer bezeichnet, wer durch eine Straftat oder eines Ereignisses, das unmittelbar oder mittelbar physisch und/oder psychisch wie auch gegebenenfalls materiell geschädigt werde (vgl. [Düwell et al. 2018: 237]).

Auch wenn es sich beim RF nicht um einen modernen Kriminalroman oder eine ähnliche Romangattung handelt, können diese Definitionen helfen, eine gewisse Differenzierung des Täter- und Opferbildes zu unterstützen und unscheinbare Handlungen der Figuren differenzierter zu analysieren. Beide Definitionen sollen moderne und historische Erklärungsansätze für die Unterschiedlichkeit der Wortbedeutungen liefern. Deshalb berufen sich alle möglichen ambivalenten Einordnungen auf die ausgeführten Erklärungen der Begriffe.

Einordnung der Figuren in Täter und/oder Opfer


Im Folgenden werden nicht alle Figuren des RF einzeln und ausführlich aufgeführt. Dennoch finden sie im Folgenden ihre Erwähnung, weil sie beispielsweise in der Einordnung Reinharts oder des Löwenkönigs Vrevel als mögliches Opfer eine zentrale Rolle der Einordnung einnehmen. Die vier zentralen Figuren des Tierepos RF weisen Ambivalenzen auf, die ausführlicher zu vertiefen sind. Dopplungen bei den Einordnungen von gewissen Handlungen sind nötig, um diese auch noch einmal differenzierter mehreren Personen zuzuordnen und mögliche Gründe für die Täter- und Opferzuteilung zu erläutern.

Der Fuchs Reinhart

Reinhart als Täter

Reinhart hat zwei zentrale Motive, welche seine Handlungen und Taten vorantreiben: Zum einen zusammengefasst das Motiv des Hungers und der Gier nach Beute (instinktive, naturbedingte Motive), zum anderen jedoch auch das Bedürfnis nach Rache und Vergeltung (rein boshafte Motive), welches gerade im weiteren Verlauf der Handlung ein zentrales Tatmotiv ist.
Es beginnt zunächst mit den gescheiterten, aber dennoch vorsätzlich begangenen Versuch, den Hahn Scantecler zu töten. Reinhart kennt die Lücken des vermeintlich sicheren Gartenzauns des Menschen Lanzelin (V. 40-172, RF) und weiß auch den sich in Sicherheit wiegenden Hahn zu hintergehen. Er gibt sich als treuen Verwandten aus und lockt den Hahn bewusst zu ihm, was jedoch letztlich scheitert. Einen weiteren Versuch startet Reinhart auch bei einer Meise, bei welcher er sich ebenfalls als vermeintlichen Gefährten und Gleichgesinnten ausgibt und nach einem Kuss von seinem "Kusinchen" (V. 178, RF) verlangt. Er bezwecke damit, dass sich die Meise ihm nähert und er so zubeißen könne. Eine ähnliche List schlägt jedoch auch beim Raben fehl, welchen er zunächst dazu motiviert, seinen erbeuteten Käse fallen zu lassen. Allerdings hat Reinhart nicht genug und möchte sich ebenfalls den Raben schnappen, indem er ihn mit List in seine Nähe locken möchte. Doch auch dieser Versuch scheitert letztlich (vgl. [Dimpel 2013: 403-408]).
Ab der Begegnung mit dem Kater Diepreht änderten sich allerdings die Beweggründe seiner Taten. Beim Kater schienen die Gründe nicht der Hunger, sondern reine Boshaftigkeit und Listigkeit zu sein, weil er lediglich den Kater herausfordern und bei einem Wettrennen mutwillig in eine gefährliche Falle treiben wollen würde (vgl. [Dimpel 2013: 408 ff.]). Beim Wolf Isengrin ist mehr das Motiv der Rache und Vergeltung der Fall. Zunächst schließen sie sich zusammen, doch ihr Verhältnis ist durch Brüche ihrer Gevatterschaft geprägt. Als der Wolf den von Reinhart durch List ergaunerten Schinken nicht mit ihm teilt, schwört er Rache und räche sich deshalb mit zahlreichen Intrigen an ihm. Reinhart verpasst ihm mit kochend heißem Wasser eine Tonsur, lässt Isengrins Schwanz absichtlich auf dem See festfrieren, um ihn in Lebensgefahr zu bringen. Zudem lockt er den Wolf in einen Brunnen, um selbst wieder herauszukommen (vgl. obiges Kapitel der Brunnen-Szene) (vgl. [Mecklenburg 2017: 74]). Er begeht Ehebruch an seiner Frau, der Wölfin Hersant, und vergewaltigt sie zudem auch noch auf demütigende Art und Weise auch vor Isengrin und seinen Jungen. (vgl. [Dimpel 2013: 411]).
Die Liste seiner Taten reiche jedoch noch weiter. Die Ursache der Erkrankung des Löwenkönigs Vrevel sei ihm bekannt und er nutze dies, um von seiner Todesstrafe auf dem Hoftag zu entkommen (vgl. [Neudeck 2016: 21 f.]). Auch die damit verbundenen Häutungen, die angeblich dem Löwen zur Heilung verhelfen würden, ließen sich den Intrigen des Fuchses als vermeintlicher Arzt zuschreiben. Die Unterstützer des Gerichtsverfahrens, u.a. der Bär und der Kater, verfielen auch hier durch mutwillige Verlockungen von Seiten des Fuchses ihren Gelüsten und würden gedemütigt (vgl. [Huebner 2016: 93]). Die Mittel, die Reinhart für seine Taten benötige, reichten dabei nicht ausschließlich auf bloße Lügen. Viel mehr am Beispiel Hersant oder Isengrin werde auch das Gewaltpotenzial des Fuchses, der sich auch mit physischen Mitteln währen könne, deutlich. Die Vergiftung des Königs durch Reinhart sei das verheerende Ende der Geschichte Heinrichs (vgl. [Ruh 1980: 26]).
Keine eindeutigen Rachemotive seien bei den Intrigen an den Elefanten und dem Kamel festzustellen. Auch wenn diese eine vermeintliche Beförderung erhielten und in ihren neuen Gebieten gewaltvoll gepeinigt und geschändet würden, intrigiere hier Reinhart vergleichsweise mild. Dies könne an der Unterstützung für einen fairen Prozess liegen (vgl. [Dimpel 2013: 418]).

Reinhart als Opfer

Der Fuchs sei jedoch nicht ausschließlich ein Täter, soviel auch dafür sprechen mag. Er könne zu Beginn der Geschichte auch durchaus als Opfer wahrgenommen werden, weil er verzweifelt versucht, an Nahrung zu gelangen. Die anfängliche Erzählweise ließe hier Interpretationsspielraum zu (vgl. [Dimpel 2013: 406]). Zu differenzieren sind hier ebenfalls zwei leitende Gründe für seine Opferrolle: Zum einen, dass er Opfer seiner eigenen Triebe und Gier ist und zum anderen die mutwilligen Täuschungen von Seiten der anderen Tiere, auf die er persönlich keinen direkten Einfluss hat. Diese Intrigen provozieren jedoch sein Bedürfnis nach Rache und Vergeltung.
Der Hahn schafft es durch Provokation des Fuchses, dass sich dieser doch vor dem Bauern zu behaupten wüsste, aus dem Maul des Fuchses zu entkommen. Die Meise demütigt ihn, indem er vor lauter Gier und Hunger sich von der Meise täuschen lässt, er seine Augen schließen und auf einen Kuss warten soll. Stattdessen erhält er einen Haufen Mist. Die kleineren Tiere hätten also durchaus ebenfalls Listen, mit denen sie sich vor Reinhart zu behaupten wüssten und sein Opferpotenzial untermalten. Der Rabe verspottet ihn sogar, da dieser aus Reinharts Klauen entkommt und die nahenden Jagdhunde, die Reinhart zu fassen drohen, auf ihn hetzt (vgl. [Dimpel 2013: 403-411]). In der Brunnenszene verfällt er zudem dem Minnegesang seiner Geliebten und fällt in den Brunnen, was ihn beinahe das Leben kostet. Hier zeige Reinhart, dass auch er in die Situation kommen könne, getäuscht zu werden und Opfer seiner eigenen Gier und Gelüste werden könne (vgl. [Ruh 1980: 21]). Der Kater spiele mit Reinhart ein ungleiches Spiel, weil der Fuchs nicht durch den gleichen Körpereinsatz der Falle entgehen könne wie Diepreht. Beim Fuchs hätte es sich zudem, wenn man es juristisch betrachtet, um eine vorsätzliche Schädigung des Katers gehandelt, welche nicht eingetreten sei. Der Kater wiederum sorge nun für eine bewusste Schädigung, was Reinhart nun auch ein gewisses Opferpotenzial zuschreiben könne (vgl. [Dimpel 2013: 409]). Der Bruch der gemeinsamen Bruderschaft zwischen dem Wolf und dem Fuchs wegen des Schinken-Verrats oder des Versuches, Reinhart durch einen bissigen Rüden zu töten, seien ebenfalls Fälle, in denen Reinhart keine bewusste Schuld treffe (vgl. [Dimpel 2013: 417]). Der einberufene Hoftag und der Prozess gegen Reinhart sei ebenfalls kritisch zu betrachten. Das zentrale Anliegen der unter Reinharts Intrigen gebeutelten Tiere sei kein fairer Prozess, sondern eine rasche Verurteilung Reinharts zum Tod. Auch hier könnte man meinen, Reinhart, bei aller Schuld, die er begangen habe, wäre einem ungerechten Prozess unterworfen ohne die faire Chance, sich zu verteidigen (vgl. [Huebner 2016: 90]).

Der Wolf Isengrin

Isengrin als Täter

Der Schein trübt, zu urteilen, Isengrin sei lediglich Opfer in der gesamten Handlung des RF. Zum einen habe auch Isengrin das Tatmotiv des Hungers, der Gier und seine Triebe, welche ihm ein gewisses Täterpotenzial verschaffen würden. Zum anderen gebe es auch noch Motive wie Vergeltung und Rache, die er gegen Reinhart pflegte. In den Vordergrund seiner Taten, die letztlich Reinhart dazu motivierten, Rache an ihm zu üben, sei der Verrat auf der Suche nach Nahrung, welche beide ersehnten. Reinhart gelingt es zwar durch List einen Schinken von einem Menschen zu stehlen, jedoch überwiege hier Isengrins Fressgier und seine Entscheidung, Reinhart nichts davon abzugeben. Außerdem planen nach der Vergewaltigung seiner Frau Hersant beide Wölfe einen Vergeltungsschlag mit der sogenannten Rüden-List. Der Wolf würde um jeden Preis die Ehre wiederherstellen und seinen ehemaligen Gevatter für seine Untaten bestrafen wollen. Es existiere durchaus der Interpretationsansatz, Isengrin wolle nicht die Ehre seiner Frau wiederherstellen, sondern instrumentalisiere sie und ihr Leid, um eine möglichst harte Strafe für den Fuchs er erreichen. Dabei sei ihm auch physische Gewalt in Form des bissigen Rüden recht, um seinen Feind ein Geständnis zu entlocken und dennoch zu töten (vgl. [Dimpel 2013: 412-417]).

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Isengrin hatte sich wol bedacht, Isengrin hatte sehr gut geplant
hern Reizen hatter dare bracht, und Herrn Reize mitgebracht,
einen rvden vreslich. einen bissigen Rüden.
vf des zennen solde sich Auf dessen Zähnen sollte sich
Reinhart enschvldiget han. Reinhart seiner Schuld bekennen,
den rat hatte her Brvn getan. den Rat hatte Herr Brun gegeben.
si hiezen Reizen liegen vur tot, Sie forderten Reize dazu auf sich tot zu stellen,
da was nach vberkvndigot wodurch der überaus listige
Reinhart, der vil liste pflac. Reinhart beinahe überlistet worden wäre.

(V. 1121-1129, RF)

Doch seine Amoralität gipfelt in dem intriganten Plan, einen vermeintlich fairen Prozess gegen Reinhart zu erreichen. Die einzige zentrale Absicht sei jedoch, dass er ganz klar als schuldig betitelt und möglichst mit dem Tode vom König bestraft wird. Ein fairer gerichtlicher Prozess sei jedoch nicht vorgesehen (vgl. [Neudeck 2016: 19]). Ohne das Eingreifen des Dachses Crimel oder dem Kamel wäre es nicht zu solch einer Anhörung Reinharts gekommen (vgl. [Ruh 1980: 24]). Zusammenfassend greife auf Isengrin in der Handlung zu unmoralischen und gewalttätigen Mitteln, um eine gewisse Gerechtigkeit herzustellen, sprich Selbstjustiz zu betreiben. Dies ähnelt möglichen Eigenschaften eines Täters.

Isengrin als Opfer

Es ist festzuhalten, dass Isengrin Opfer unzähliger Intrigen des Fuchses Reinhart wurde. Dies fängt mit dem Ehebruch seiner Frau Hersant mit Reinhart an, was er durch Kuonin schmerzlich erfahren habe. Die gebrochene Bruderschaft zwischen Reinhart und ihm sorge für großes Konfliktpotenzial. Reinhart füge ihm vehement physische Gewalt durch die Verbrühung des Kopfes zu (Tonsur), oder das Festfrieren des Schwanzes auf dem See bei dem Versuch, gemeinsam ein paar Aale zu fangen (vgl. [Ruh 1980: 20]). In der Forschungsliteratur wird alternativ auch vom Verlust des Genitals, nicht nur des Schwanzes, gesprochen. Dies habe im übertragenen Sinne die Folge des Verlustes der Männlichkeit und dem Geltungsanspruch in der eigenen Wolfsfamilie, was für ihn persönlich durchaus auch als großes Opfer angesehen werden könne (vgl. [Mecklenburg 2017: 77]). Durch diese geschickt eingefädelte Intrige würde Isengrin in Gefahr geraten, weil Jagdhunde ihn zu töten drohen. Zudem fällt er durch die List Reinharts und der Täuschung Isengrins in den Brunnen (vgl. [Ruh 1980: 21]). Sein Tod schließlich am Ende der Geschichte durch eine Häutung, die den König heilen soll, sei die letzte Tat, welcher er zum Opfer falle (vgl. [Neudeck 2016: 22]). Das Verlangen nach Gerechtigkeit für den persönlichen Ehrverlust und der seiner Wolfsfamilie ist geleitet von Rachemotiven, die ihm letztlich mit dem Tod endet.

Der Löwenkönig Vrevel

Vrevel als Täter

König Vrevel, ein Löwe, der über das Land der Tiere herrscht, zerstört ein kleines Herrschaftsgebiet eines Ameisenkönigs, weil er es für sich beanspruchen will. Der Ameisenkönig des Gebietes, welches der Löwe zerstört hat, war nicht anwesend und kehrte erst danach zurück. Die Machtdemonstration und die Gier nach Herrschaft verleitete den König, ein Ameisenvolk mutwillig zu zerstören (vgl. [Huebner 2016: 92]). Dies beweise eine physische Gewaltbereitschaft, die den Eigenschaften eines Täters entspricht. Der blanke Egoismus und Eigennutz des Löwenkönigs werde auch deutlich, als er einen Hoftag einberuft, mit dem Ziel, Landfrieden über sein Herrschaftsgebiet um jeden Preis herzustellen. Er fürchte bei seiner plötzlichen Erkrankung eine Strafe Gottes und setze alle Hebel in Bewegung, Ordnung und Ruhe in sein Königreich einkehren zu lassen (vgl. [Neudeck 2016: 21] und [Huebner 2016: 90]).
Als ein möglicher Prozess gegen Reinhart thematisiert und Konfliktpotenzial deutlich werde, lasse sich der König durch die Überzeugung der meisten Tiere verleiten, Reinhart zu aufgrund der vorgebrachten möglichen Schandtaten des Fuchses zum Tode zu verurteilen. Der König berücksichtige zunächst nicht die berechtigten Zweifel, ob dies ein faires Rechtsverfahren sei. Laut Kamel und Dachs sei es erst fair, wenn man Reinhart dreimal vorlade und zudem die Möglichkeit der Verteidigung gäbe. Wutentbrannt fordert Vrevel, Reinhart solle sein Land verlassen und für seine Untaten verurteilt werden (vgl. [Neudeck 2016: 16-21]):

Mittelhochdeutsch Übersetzung
vnde sprach: ,sam mir min bart, (...) und sprach: ,,Bei meinem Barte,
so mvz der vuchs Reinhart so soll der Fuchs Reinhart
gewislichen rovmen ditz lant, gewiss dieses Land verlassen
oder er hat den tot an der hant.' oder er ist des Todes.

(V.1477-1480, RF)

Der König selbst letztlich bricht mit seinem eigenen Urteil, den Fuchs für seine Taten zur Verantwortung zu ziehen. Durch seine Krankheit handele er rein egoistisch und seinem Heil und glaube leichtsinnig Reinhart, dass er ihm helfen könne, wieder zu Kräften zu kommen. Dafür nehme der König in Kauf, zahlreiche seiner Gefolgsleute zu häuten und damit aufzuopfern. (vgl. [Ruh 1980: 23]). Gewaltbereitschaft, Egoismus und Leichtgläubigkeit machen den Löwenkönig Vrevel durchaus zum Mittäter an seinem eigenen Volk.

Vrevel als Opfer

Man könnte jedoch bei den Taten des Löwen berücksichtigen, dass er aufgrund des Fuchses und seines Wissens über die Rache des Ameisenkönigs in der Notlage schamlos ausgenutzt wurde, als Mittel zum Zweck. Er werde so Opfer von Reinharts Intrigen, die gleichzeitig die Doppelmoral des Königs offenbarten. Tatsache sei die Vergiftung des Löwen durch den Fuchs Reinhart, die letzten Endes auch für den qualvollen Tod des Löwen sorge (vgl. [Ruh 1980: 26]). Der König werde schlussendlich zum Opfer seiner Taten. Zwar sei er selbst nicht für seine Vergiftung und Ermordung verantwortlich, was für die Rolle des Opfers spricht. Dennoch sei seine absichtliche aus reinem Eigennutz begangene Tat am Ameisenvolk der Auslöser für eine Reihe von Intrigen, welche Reinhart für sich zu wissen wüsste und so den König für seine Intrigen indirekt einspanne (vgl. [Neudeck 2016: 21 f.]).

Die Wölfin Hersant

Hersant als Täter

Hersant kann auch als Täter betrachtet werden. Die Wölfin lässt sich trotz der anfänglichen Abweisung gegenüber Reinhart auf einen Ehebruch ein, was ihr Mann durch Kuonin erfährt (vgl. [Ruh 1980: 14]). Zudem finden sich Interpretationsansätze, dass von vornherein das mögliche Potenzial eines Ehebruchs vorhanden gewesen wäre. Wenn ihr Gegenüber mächtiger und stärker sei als ihr Mann, wäre dies ein möglicher Grund für einen Ehebruch. Dies sei aber angeblich bei Reinhart nicht der Fall und weist ihn zunächst ab. Sie ist gemeinsam mit ihrem Mann Isengrin an der Rüden-List beteiligt, um sich an der Vergewaltigung und dem Spott Reinharts an ihr zu rächen. Auch hier existiere also ein mögliches Tatmotiv aus Rache, die mit einem gewalttätigen Vergeltungsschlag gerächt werden solle. Diese einberufene Verhandlung, die den Konflikt zwischen den kleinen Tieren und Reinhart eigentlich beilegen solle, diene dem Versuch, Reinhart durch einen bissigen Rüden zu einem Geständnis zu bewegen und ihn zudem noch zu töten. Jedoch scheitert der Versuch durch den Dachs, der Reinhart rechtzeitig warnen und ihm zur Flucht verhilft. Sie fordert genauso wie ihr Mann und die anderen Tiere beim Hoftag den Tod des Fuchses (vgl. [Dimpel 2013: 412]). Abschließend sind hier Motive wie Hass, der Wunsch nach Vergeltung und Selbstjustiz aus Rachegelüsten allgegenwärtig.

Hersant als Opfer


Mittelhochdeutsch Übersetzung
do gewan sie schiere schande genuc: Da erwartete sie die größte Schande:
sine mochte hin noch her, weil sie weder hin noch her konnte,
Reinhart nam des gvuten war, nahm Reinhart die Chance wahr
zv eime andern loche er vz spranc, sprang aus einem anderen Loch hinaus
vf sine gevateren tet er einen wanc. und schwang sich auf seine Gevatterin.
Isengrine ein herzen leit geschach: Isengrins Herz verursachte es großes Leid
er gebrvtete si, daz erz an sach. als er sah, dass er sie begattete.
Reinhart sprach: ,vil libe vrvndin, Reinhart sagte: ,,Liebste Freundin,
ir schvlt talent mit mir sin. ihr solltet heute bei mir bleiben.
izn weiz niman, ob got wil, Um Gottes Wille, es weiß niemand etwas
dvrch ewer ere ich iz gerne verhil.' und eurer Ehre willen wäre ich gern verschwiegen.
vern Hersante schande was niht cleine, Frau Hersants Schande war groß,
si beiz vor zorne in die steine, sie bis vor lauter Zorn in die Steine,
ir kraft konde ir nicht gefrvmen. doch ihre Kraft konnte ihr nicht (mehr) helfen.

(V.1170-1183, RF)

Eine der zentralsten Handlungen des RF sei die Vergewaltigung der Wölfin Hersant durch den Fuchs und die darauffolgende starke Demütigung. Zudem, wie eingangs bei Isengrin erwähnt, stehe nicht die Wiederherstellung ihrer Ehre als Misshandelte im Fokus der Verhandlung, sondern würde sie von ihrem Mann bewusst als Opfer Reinharts zur Schau gestellt, um zu erreichen, dass Reinhart zur Verantwortung gezogen werde. Zumindest könnte dies so interpretiert werden (vgl. [Dimpel 2013: 414 f.]). Auch wenn bei Hersant wesentlich weniger Anhaltspunkte für ihre Opferrolle vorhanden sind, ist die Vergewaltigung und der Spott, der ihr widerfuhr, zentraler Bestandteil der Geschichte und von besonderer Bedeutung für den Handlungsverlauf.

Sonstige Figuren und mögliche Rollen

Einige Figuren wie Hahn, Meise, Rabe oder Kater wurden bereits erwähnt. Sie hätten durchaus mit ihrem Gegenlisten gegenüber Reinhart Täterpotenzial und seien ebenfalls in der Lage, aus Rache es dem Fuchs heimzuzahlen (vgl. [Dimpel 2013: 403-411]). Die Verbündeten des Fuchses, zu denen Elefant, Kamel und Dachs zählen, sind differenzierter zu betrachten. Während der Elefant und das Kamel lediglich auf eine möglichst faire Gerichtsverhandlung für den Fuchs beharren und nicht zwingend als Mittäter bezeichnet werden könnten, sehe es beim Dachs anders aus. Der Dachs sei mehrmals Unterstützer Reinharts, indem er ihn vorwarnt, zur Flucht verhelft und ihn mit nötigen Informationen versorgt. Zudem verleugne er die Vergewaltigung der Wölfin Hersant vor dem Hoftag und verleumde damit eine begangene Tat des Fuchses (vgl. [Ruh 1980: 14 und 24]). Der Bär sei auch durchaus daran beteiligt, Reinhart so schnell wie möglich als Täter zu verurteilen und den Tod durchzusetzen. Auch dies werde ihm zum Verhängnis und sei Opfer seiner Gier nach Honig, als Reinhart ihn bei seinem Aufsuchen verführt. Der Ameisenkönig könnte ebenfalls sowohl als Täter am König, als auch als Opfer durch Vrevels Zerstörung seines Ameisenhaufens eingeordnet werden (vgl. [Huebner 2016: 92 f.]).

Fazit


Rache, Vergeltung, Gier - diese Motive begleiten nicht ausschließlich den vermeintlich alleinigen Bösewicht Reinhart, den listigen Fuchs. Die Mittel der potenziellen Täter - beispielsweise Gift, physische wie psychische Gewaltanwendung, Lügen, Intrigen - werden ebenfalls nicht nur von Reinhart Fuchs allein angewandt. Sie ist bei vielen Figuren allgegenwärtig. Untersucht wurden etwas intensiver die vier zentralen Figuren des Werks: Isengrin, Hersant, Vrevel und Reinhart. Viel mehr ist also verdeutlicht worden, wie amibivalent auch die Wölfe Isengrin und Hersant oder der Löwenkönig Vrevel betrachtet werden können. Zudem finden auch die Nebenfiguren ihre Erwähnung. Sei es der Ameisenkönig, der einen erheblichen Anteil daran hat, dass letztendlich Reinhart mit seinen Intrigen erfolgreich seine Gegenspieler samt König ausschalten kann, indem er aus Rache in den Kopf des Löwen eingedrungen ist. Oder die Gefolgschaft des Königs, die zwar wie auch die Wölfe nach Vergeltung und Rache gegen den listigen Fuchs trachten, jedoch viele genau das mit ihrem Leben bezahlen, weil sie Opfer ihrer Triebe und Gier wurden. Von diesen Verirrungen bleibt allerdings auch der Fuchs nicht verschont (vgl. Brunnen-Szene). Ihm wird zudem ein ungerechter Prozess gemacht.
Auf der anderen Seite gibt es jedoch auch Opferrollen, die es nicht zu beschönigen gibt: das wohl bekannteste Beispiel hierfür ist die schamlose Vergewaltigung Hersants durch Reinhart mit all ihren Folgen. Oder all die kleinen Tiere, welche beinahe dem Hunger des Fuchses zum Opfer gefallen wären. Ein Huhn musste dies tatsächlich mit ihrem Leben bezahlen (V. 1471 f., RF).
Die klare Herausarbeitung der Opferrollen ist wichtig, weil im Werk Reinhart Fuchs die Gewaltakte teilweise sehr stark polemisiert und ironisiert, geradezu euphemistisch dargestellt werden. Diese Gewaltstilisierung verdeutliche einen eher löwischen und füchsischen Blick auf Gewalt, welche diese als legitim zu vermitteln versuchten (vgl. [Dietl 2010: 53 f.])

Abschließend gibt es einen interessanten Forschungsansatz, der die Ambivalenz in der grundsätzlichen Beurteilung, welche Figur inwiefern für was verantwortlich ist und einer Täter- oder Opferrolle zugeordnet werden kann, noch einmal ganz anders betrachtet. Karl Bertau beschäftigt sich mit der Erzählstruktur im Reinhart Fuchs und wie sich diese auch letztendlich auch auf vermeintlich klare Zuweisungen gewisser Erzählabfolgen auch auf die Zuweisung sämtlicher Täter- oder Opferrollen auswirken könnten. Allein schon in der Unterschiedlichkeit der vorhandenen Überlieferungen ließen sich Erzählordnung und Handlungsstruktur ambivalent betrachten. Dies könnte die Frage aufwerfen, ob dann nicht auch eine klare Zuweisung jeglicher zu verantwortbaren Taten und Handlungen nicht auch infrage gestellt werden könnten (vgl. [Bertau 1983: 19-29]).

Dieses Beispiel zeigt noch einmal recht ausdrücklich, dass es in der Täter- und Opferproblematik kein schwarz oder weiß gibt. Schließlich ist keine klare einseitige Einordnung möglich. Die Frage nach Schuld, Moral und Handlungsmotiven der Figuren lassen sich alles andere als einfach klären und einem klassischen Täter oder unschuldigen Opfer zuordnen. Dennoch soll dieser Artikel einen Beitrag dazu leisten, die Täter-Opfer-Konstellationen vertiefter zu analysieren und ihnen einen angemesseneren Rahmen zu bieten.

Literaturverzeichnis

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  • [*Bertau 1983] Bertau, Karl: 'Reinhart Fuchs'. Ästhetische Form als historische Form, in: ders.: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983, S. 19-29.
  • [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. von Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S. 41-54.
  • [*Dimpel 2013] Dimpel, Friedrich Michael: Füchsische Gerechtigkeit. des weste Reinharte niman danc, in: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur, Jahrgang 135, de Gruyter (3), Berlin und New York 2013, S. 399-422.
  • [*Düwell et al. 2018] Düwell, Susanne / Bartl, Andrea / Hamann, Christof / Ruf, Oliver: Handbuch Kriminalliteratur. Theorien - Geschichte - Medien, Springer-Verlag, Stuttgart 2018.
  • [*Huebner 2016] Hübner, Gert: Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Techniken der Sympathiesteuerung in Erzähltexten der Vormoderne. Potentiale und Probleme, hg. von Friedrich M. Dimpel und Hans Rudolf Velten, Heidelberg 2016, S. 77-96.
  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Aventiuren (12), Göttingen 2017, S. 73-98.
  • [*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des Politischen in der europäischen Tierepik, hg. von Jan Glück, Kathrin Lukaschek und Michael Waltenberger, De Gruyter Oldenbourg (6), Berlin und Boston 2016, S. 10-26.
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Grundlagen der Germanistik (25), Berlin 1980, S. 13-33.
  1. Alle Originaltexte, die im Zuge einer Übersetzung Gegenstand dieses Artikels sind, stammen, falls nicht anders gekennzeichnet, aus: Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, Hg. Karl-Heinz Göttert, Reclam, Stuttgart 1976.
  2. Täter: Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Taeter, zugegriffen am 09.01.2021.
  3. Tat: Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Tat, zugegriffen am 09.01.2021.
  4. Opfer: Duden online. URL: https://www.duden.de/rechtschreibung/Opfer, zugegriffen am 09.01.2021.