Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst): Unterschied zwischen den Versionen
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*[Herchert 2010]Herchert, Gaby: Einführung in den Minnesang, Darmstadt 2010. | *[*Herchert 2010]Herchert, Gaby: Einführung in den Minnesang, Darmstadt 2010. | ||
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Version vom 1. Juni 2013, 11:38 Uhr
Der Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein ist trotz eines Ich-Erzählers, der behauptet Ulrich von Liechtenstein zu sein, kein rein biografisches Werk. Es enthält zwar autobiografische Elemente, aber auch zahlreiche Hinweise auf Fiktionales. Im Folgenden sollen einige dieser Fiktionalitätssignale genauer analysiert werden, um die Erzählstruktur nachvollziehen zu können und die Bedeutung der Fiktion für den Frauendienst näher zu bestimmen. Zuvor müssen allerdings die erzähltheoretischen Begrifflichkeiten definiert werden.
Definitionen
Um über fiktionale Elemente im Frauendienst sprechen zu können, muss zunächst einmal geklärt werden, was überhaupt "fiktional" bedeutet und wie sich dieser Begriff zu verwandten Begriffen abgrenzen lässt. Grundsätzlich kann eine Erzählung real oder fiktiv sein, was den ontologischen Status der Erzählung erfasst, und sie kann fiktional oder faktual sein, was sich auf den pragmatischen Status bezieht.[Martínez/Scheffel 2012: 15/16]
Real vs. fiktiv
Das Begriffspaar real/fiktiv beschreibt zwei Eigenschaften, die sich auf die Verhältnisse innerhalb der erzählten Welt beziehen. Wenn beispielsweise der Bote Ulrichs spricht si hat enboten iu bi mir, daz ir für war sült chomen ir von hiute reht über zweinzic tage [...] so wil si iuch enpfahen so, des ir sült immer wesen vro (FD 1288, 1-6)[1], so ist dies eine fiktive Botschaft, da der Bote sich diese nur ausgedacht hat, um Ulrich an einem mögichen Selbstmord zu hindern (vgl. FD 1304). Die Erzählung des Boten ist folglich ein fiktives Element innerhalb der Erzählung des Frauendienstes.
Fiktional vs. faktual
Anders verhält es sich mit dem Gegensatzpaar fiktional und faktual. Diese beziehen sich auf den Modus des Erzählens, was bedeutet, dass die Art und Weise wie etwas erzählt wird, ausschlaggebend ist. Fiktional und faktual beschreiben damit keine innerliterarischen Eigenschaften, sondern das Verhältnis zur realen Außenwelt (der Welt des Rezipienten). Entscheidend ist, was der Rezipient aufgrund der Art der Erzählung von dieser erwartet. Die Frage ist hier also nicht, was wahr oder falsch ist, sondern mit welchen Signalen der Erzähler seine Rede versieht, um sie entweder als fiktional oder faktual zu kennzeichnen.[Martínez/Scheffel 2012: 17] In faktualen Texten produziert ein realer Autor einen Text, der vom Rezipienten durch bestimmte Hinweise des Autors als wirkliche Aussage desselben aufgefasst wird - folglich ist dies eine reale Kommunikationssituation zwischen Autor und Rezipient.[Martínez/Scheffel 2012: 19] In fiktionalen Texten jedoch behauptet der Autor nichts, er produziert lediglich einen fiktiven Erzähler, der wiederum behauptet, dass das was er (der fiktive Erzähler) sagt, wahr sei.[Martínez/Scheffel 2012: 19]Durch bestimmte Textsignale wird so im Idealfall ein "Fiktionalitätsvertrag"[Chinca 2010: 317] zwischen Erzähler und Rezipient geschlossen. Welche Fiktionssignale im Frauendienst zum Tragen kommen, soll in diesem Artikel näher untersucht werden.
Die Ich-Erzählsituation im Frauendienst
Im Frauendienst liegt die besondere Situation vor, dass erstens ein Ich-Erzähler spricht, der zweitens noch gleichnamig mit dem Autor ist. So entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, dass der Autor keinen fiktiven Erzähler erschaffen hat, sondern dass die historische Person Ulrich von Liechtenstein sowohl Autor als auch Erzähler ist. Oder anders gesagt erscheint es so, dass der Autor, der in der außerliterarischen Welt angesiedelt ist, identisch ist mit dem erzählenden und dem erlebenden Ich der innerliterarischen Welt. In mittelalterlichen Ich-Erzählungen ist das erzählende Ich, also der Autor im Text, im Gegensatz zum erlebenden Ich nicht fiktiv. Trotzdem wollen erzählendes Ich und erlebendes Ich identisch sein.[Glauch 2010: 173] Die Problematik der Bestimmung von fiktionalen Elementen im Frauendienst ergibt sich gerade aus diesem Verhältnis. Denn während normalerweise in fiktionalen Texten deutlich wird, dass das erzählende Ich eine Erfindung des Autors und damit fiktiv ist, behauptet das erzählende Ich im Frauendienst identisch mit dem erlebenden Ich zu sein.
Fiktionale Elemente
Das Wechselspiel zwischen der Minneepik und der Minnelyrik Ulrichs
Das Ich in der Minnesanglyrik erscheint allgemein gesagt oft austauschbar.[Hübner 2008: 10/11] Es handelt sich daher weniger um ein individuelles Ich, als um einen höfischen Diskurs über gesellschaftliche Konventionen.[Hartmann 2012: 48] Der Autor des Frauendienstes bedient sich 58 in den versepischen Text eingefügter Lieder, die zum Teil Minne-Erlebnisse des erlebenden Ichs reflektieren (z.B. FD Lied 2, 110-111) oder sich mit Ausführungen über die Minne beschäftigen (z.B. FD Lied 16, 1351-1352). Betrachtet man diese Liedpassagen losgelöst vom epischen Teil, so würde man in diesen kaum von einem individuell erlebenden Ich sprechen. Ganz anders hingegen in den versepischen Teilen des Frauendiensts: Hier wird die literarische Person Ulrich von Liechtenstein durch ihre unvergleichlichen Taten durchaus als eine individuelle, d.h. nicht einfach austauschbare, Persönlichkeit wahrgenommen.[Kartschoke 2001: 71] Folglich gibt es zwei Ulrichs, den Autor und das erzählende/erlebende Ich, aber darüberhinaus noch ein weiteres Ich, dass in den Liedern auftritt und angibt, ebenfalls mit Ulrich identisch zu sein. Denn bereits das erste Lied für die Dame wird vom epischen Ulrich-Ich als sein eigenes ausgegeben: Guout niuwe liet ich von ir han gesungen (FD 66, 1-2). Diese Diskrepanz zwischen der Beliebigkeit des lyrischen Ulrichs in den Liedabschnitten und den mit individueller Personalität angefüllten Passagen über die Erlebnisse des epischen Ulrichs führt zu einem Glaubwürdigkeitsverlust in Bezug auf die Autobiografie. Das Spannungsfeld zwischen Beliebigkeit und Individualität,[Kartschoke 2001: 67/78] das aus dem Verhältnis von Minnesanglyrik und Minneepik herrührt, stellt somit ein Fiktionalitätssignal dar. Denn für den Rezipienten sind der lyrische Ulrich und der epische Ulrich nur schwer in einer Person zu vereinen, auch wenn diese Einheit im Text behauptet wird (s.o.). Es entsteht der Eindruck, dass es sich beim Frauendienst um eine Biografie handelt, die zwar nicht die reine Autobiografie Ulrichs von Liechtenstein ist, aber durchaus die Biografie eines beliebigen "Minnenden". Dieser wurde vom Autor-Ulrich so erschaffen, dass sich in der an sich fiktiven Person auch autobiografische und historische Bestandteile entdecken lassen. Für eine solche allgemeine Minnesängerbiografie spricht auch, dass es dafür bereits literarische Vorbilder gab, an denen Ulrich sich orientieren konnte. Die altprovenzialischen Vidas (kurze biografische Angaben zum Sänger) und Razos (inhaltliche Liedkommentare) könnten Ulrich bei seiner Arbeit beeinflusst haben.[Peters 1970: 162] Doch er geht noch einen Schritt weiter und kommentiert nicht nur einzelne Lieder sondern schafft eine komplette Biografie im Rahmen derer er Lieder einfügt, die er wiederum versucht in das Leben des Ulrich-Ichs einzubetten.
Die Übernahme anderer Identitäten
Grundsätzlich ist jeder ein Mensch ein Individuum, aber erst durch individuelle Handlungen und im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld entsteht Identität.[Kartschoke 2001: 62/63] Das erlebende Ich im Frauendienst charakterisiert sich selbst in erster Linie durch seinen höfischen, hingebungsvollen Dienst, den er von Kindheit an an der von ihm verehrten Dame verrichtet: Kintlich ich ir diente vil, [...] swaz so ein kint gedienen mac, daz dient ich ir unz uf den tac. (FD 26,1-4) Daran lässt sich zunächst noch keine Identität ausmachen, denn in ritterlicher Manier der auserwählten Dame in Treue und Stetigkeit zu dienen, entspricht den gesellschaftlichen Konventionen. Identität bekommt das Ich erstmals, als es von der Dame als her Ulrich [...] ich meine den von Liehtenstein (FD 44,5/8) benannt wird und sich darauf folgend durch individuelle Taten und Eigenschaften auszeichnet. Dazu gehört beispielsweise die Mundoperation, die Ulrich auf sich nimmt, weil der Dame sin ungefüege stenter munt (FD 80,6) missfällt oder das Abschlagen des Fingers, das das erlebende Ich ebenfalls für die Dame auf sich nimmt. Dem Rezipienten ist die "wahre" innerliterarische Identität Ulrichs also bekannt als dieser beginnt, weitere Identitäten zu übernehmen. Zunächst verkleidet Ulrich sich auf dem Turnier zu Friesach für kurze Zeit als grüner Ritter (vgl. FD 215). Er selbst kommentiert: daz niemen da erkande mich, des freut min tumbes herze sich (FD 221,1-2). Was aber bedeutet die Übernahme einer anderen Identität in Bezug auf die Fiktionalität? Verkleidungen wie die des grünen Ritters führen dazu, dass eine Kunstfigur mit einer künstlichen Identität geschaffen wird. Angenommen, Ulrich von Liechtenstein hat sich nie in seinem realen Leben als grüner Ritter verkleidet, so ist diese Begebenheit fiktional. Auf innerliterarischer Ebene weiß der außerliterarische Rezipient darüberhinaus ganz genau, dass der grüne Ritter keine individuelle Person ist, sondern nur Ulrich, der sich verkleidet hat. Diese Tatsache eröffnet eine Art Fiktionalität zweiter Stufe, da der grüne Ritter ein fiktionales Element innerhalb der Fiktion ist.
Die Venusfahrt
Als werde kuneginne Venus, gottinne über die minne (FD 479, Brief B 1-2) verkleidet zieht Ulrich von einem großen Gefolge begleitet durch die Länder und wil si leren, mit wiegetanen dingen si werder vrowen minne verdienen oder erwerben suln. (FD Brief B 7-9) Dieses Verkleidungsspiel hat genau genommen Rezipienten auf drei Ebenen. Einmal das fiktive Publikum [Bennewitz 1999: 352] der innerliterarischen Welt, das mit der Ulrich-Venus direkt in Kontakt tritt, einmal das höfische Publikum für das Ulrich höchstwahrscheinlich seine Literatur verfasst hat und zuletzt der heutige Leser, der nicht mehr aus dem mündlichem Vortrag des Dichters, sondern nur noch schriftlich von dessen angeblichen Erlebnissen erfährt. Das innerliterarische Publikum erkennt, dass Ulrich sich nur verkleidet hat. Mehrmals wird auf sein Auftreten mit Lachen reagiert.[Bennewitz 1999: 352] Spätestens als die Gräfin verlangt, Ulrich möge zum Friedenskuss in der Kirche den Schleier lüften, wird seine wahre Identität aufgedeckt (FD 537) - und dies geschieht bereits kurz nach Beginn der Fahrt. Die Erzählung der Venusfahrt ist also ein bewusstes Spiel, das vom innerliterarischen ebenso wie vom außerliterarischen Publikum auch als solches wahrgenommen wird und werden sollte. Ulrich greift mit der Figur Venus' eine Frauenrolle auf, die eine lange Tradition hat. Die römische Göttin der Liebe und des erotischen Verlangens wird spätestens seit dem vierten Jahrhundert vor Christus verehrt.[2] Ulrich inszeniert sich als Venus, um in ihrer Rolle seine Vorstellungen von Minne zu verbreiten und zu lehren, wie die Gunst der Frauen zu erwerben ist (vgl. FD Brief B 7-8). Verkleidet als die Personifikation der Liebe schlechthin unterstreicht er damit seine Autorität in Liebesangelegenheiten. Natürlich ist es nicht völlig unmöglich, dass sich ein Mann tatsächlich in Frauenkleider gehüllt auf ritterliche Turnierfahrt begab, allerdings ist es in diesem Fall aus den bereits genannten Gründen wesentlich wahrscheinlicher, dass der Autor hier die Figur der Venus allegorisch verwendet. Mit dem bewussten Einsatz einer Allegorie und dem literarischen Bezug zu einer antiken Göttin, die einen reich ausgestalteten mythologischen Hintergrund hat, setzt der Autor folglich ein deutliches Fiktionalitätssignal.
Die Artusfahrt
Laut neuhochdeutschem Text beginnt die Artusfahrt nach dem 37. Lied in Strophe 1400. In dieser Übersetzung ist der Vermerk "Artusfahrt" eingefügt. In der mittelhochdeutschen Ausgabe fehlt dieser Verweis und es findet sich nur die Textlücke des Originals. Ulrich befindet sich zu dieser Zeit bereits im 2. Dienst. Er lobt seine neue Herrin zuvor in mehreren Liedern. Der inhaltliche Wechsel lässt sich daher leicht erkennen, wenn ab der 1400. Strophe die Vorbereitungen zum Ausritt begonnen werden und Ulrich in Strophe 1440 mit den Worten "herre chünic Artus" (FD 1440) angesprochen wird. Dass es solche Artusfahrten, bzw. die Gemeinschaften gegeben haben könnte, darauf verweist Ursula Peters bereits in ihrer Dissertation: "Diese sogenannten Artushöfe, deren Mitglieder kulturell und politisch eine feste Gemeinschaft - mit einem Mittelpunkt, dem Artushof - bildeten, sind für das 14. und 15. Jh. u.a. in Thorn, Culm, Elbing, Braunsberg, Königsberg, Danzig, Riga und Strahlsund bezeugt."[Peters 1970: 173]
Aufgrund der Textlücke erfährt man weder die Intention Ulrichs noch eine Beschreibung, wie die Fahrt verlaufen soll und von wem sie motiviert ist. Ist es Ulrichs freie Entscheidung, oder ein Befehl seiner neuen Herrin? Man erfährt erst aus der Handlung, dass Ulrich verkleidet als König Artus durchs Land zieht. Von Beginn an hat er bereits eine kleinere Gruppe an Rittern bei sich. Er nimmt weitere Ritter in seine "Tafelrundengesellschaft"[Peters 1970: 196] auf, wenn es ihnen gelingt, drei Speere gegen Ulrich-Artus zu verstechen.
Peters untersucht die Artusfahrt hinsichtlich ihrer historischen und dichterischen Belegbarkeit. Sie kommt zu dem Schluss, dass "Ulrichs Artusturnier [...] mit den historischen und dichterischen Tafelrundenturnieren des 13. und 14. Jhs. darin überein[stimmt], daß eine Gruppe von Rittern in einem abgetrennten Kampfring ihre Gegner erwartet und mit ihnen jeweils Einzelkämpfe austrägt."[Peters 1970: 198] Nach Vergleichen mit anderen höfischen Romanen, in denen ebenfalls die vom Artusbild motivierten Turniere thematisiert werden, kommt Peters letztlich zu dem Schluss, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Ulrichs Bericht über die Artusfahrt auf historischen Grundlagen beruht.[Peters 1970: 199]
Folglich habe der historische Ulrich entweder tatsächlich ein solches Turnier veranstaltet bzw. daran teilgenommen oder aber er habe zumindest ein solches mit eigenen Augen gesehen.[Peters 1970: 199] Dabei wird außer Acht gelassen, dass König Artus (Wolfram von Eschenbach, Parzival), ebenso wie Venus, eine mythologisch-literarisch vorgestaltete Figur ist. Wiederum greift Ulrich also eine dem kulturell gebildeten, höfischen Publikum höchstwahrscheinlich gut bekannte literarische Person auf. Artus ist der Inbegriff ritterlich-höfischer Tugenden.[Herchert 2010: 38] Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Verkleidung Ulrichs auf einer ganz anderen Ebene deuten, denn indem er sich als Artus ausgibt und ihm sogar von höher gestellten Personen (z.B. Fürst Friedrich von Österreich) als Artus gedient wird,(FD 1456ff.) erhöht Ulrich sich vor seinem höfischen Publikum selbst. Diese Selbstinszenierung lässt zu, dass Ulrich in seiner Rolle als Artus und unterstützt durch diese seine eigenen Taten und Tugenden hervorheben und loben kann, ohne gegen den ritterlichen Bescheidenheitskodex zu verstoßen. Dieser Interpretationsansatz sieht in dem Annehmen der Identität Artus' ein literarisches Spiel mit dem literarischen Zweck der Selbstinszenierung. Die Frage, ob Ulrich tatsächlich Verbindungen zu einem solchen Turnier hatte oder ob er sich die Vorgänge nur ausgedacht hat, tritt damit in den Hintergrund.
Die Redewiedergabe Dritter
Wenn im Frauendienst neben Ulrich noch weitere Personen zu Wort kommen, so geschieht dies ausnahmslos in direkter Rede. Zunächst mag dies besonders authentisch erscheinen, denn der Erzähler greift nicht als Vermittlungsinstanz ein und gibt die Rede wieder, sondern er lässt die Personen für sich selbst sprechen. Andererseits ist es völlig unmöglich, dass die "zitierten" Personen, selbst wenn sie historisch belegt sind, tatsächlich genau in dieser Situation die vom Autor-Ulrich notierten Sätze sprachen. Denn um eine solche Präzision zu erreichen, hätte Ulrich alle Gespräche sofort niederschreiben müssen, was unmöglich gewesen sein dürfte. Selbst wenn der Autor-Ulrich nicht wie der literarische Ulrich Analphabet war (FD, 169), erscheint die Redewiedergabe so als ein zumindest in Teilen fiktionales Element. Eindeutig im Bereich der Fiktionalität anzusiedeln sind dagegen solche Textpassagen, in denen der literarische Ulrich gar nicht am Ort des Geschehens ist, sondern beispielsweise seinen Boten zu der verehrten ersten Dame schickt und trotzdem das Gespräch der beiden in direkter Rede wiedergibt. Stellvertretend für alle Boten-Stellen wird im Folgenden näher auf die Textpassage eingegangen, in der die Dame dem Boten ihre Sicht auf Ulrich offenbart und gesteht, dass sie ihn nicht erhören wird (FD, 1090-1106). Er hat min hulde wol, für war ich dir daz sagen sol, ich bin für war im niht gehaz; du suolt aber mir gelouben daz: des er von mir ze lone gert, des ist er immer ungewert, daz sol er niht für übel han, wan ichs gewern wil nimmer man. (FD 1097) Zwar berichtet der Bote Ulrich später, dass er sich keine Hoffnungen auf die körperliche Zuneigung der Dame machen solle (FD, 1116), die Begründung aber, dass auch sonst keinem Mann diese Gunst widerfährt, wird nicht überbracht. An dieser Stelle spaltet sich deutlich die behauptete Einheit zwischen erzählendem und erlebenden Ich, denn der Erzähler hat gegenüber dem erlebenden Ulrich einen Wissensvorsprung, den er mit den Rezipienten teilt. In den Passagen, in denen Dritte bei körperlicher Abwesenheit des erlebenden Ichs zu Wort kommen, hebt sich der Ich-Erzähler selbst auf, denn ein nicht anwesendes Ich kann auch nicht aus seiner Perspektive berichten. An seine Stelle tritt ein Erzähler, der diesen Namen kaum verdient hat, denn eine Vermittlungsleistung im eigentlichen Sinne findet nicht statt. Stattdessen kommt es zu einer bloßen Wiedergabe eines Dialogs zwischen der Botenfigur und der Dame.
Das Lachen als Fiktionssignal?
Lachstellen:
- (537/8): Dame in Kirche erkennt sein wahres Geschlecht (auf Venusfahrt), lacht darüber.
Primärtext
- Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen 1987. (Mittelhochdeutscher Text)
- Liechtenstein, Ulrich von: Frauendienst, übers. v. Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec 2000.
Forschungsliteratur zum Thema
- Chinca, Mark: Der Frauendienst zwischen Fiktivität und Fiktionalität. Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Linden, Sandra/Young, Christopher: Ulrich von Liechtenstein. Leben-Zeit-Werk-Forschung, Berlin/New York 2010, S. 305-323.
- Kartschoke, Dieter: Ich-Darstellung in der volkssprachlichen Literatur, in: van Dülmen, Richard (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 61-78.
- Müller, Jan-Dirk: Ulrich von Liechtenstein, in: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon Bd. 9, Berlin 1995, Sp. 1274-1282.
- Müller, Jan-Dirk: Lachen - Spiel - Fiktion. Zum Verhältnis von literarischem Diskurs und historischer Realität im "Frauendienst" Ulrichs von Lichtenstein, in: von Bloh, Ute/Schulz, Armin (Hgg.): Minnesang und Literaturtheorie, Tübingen 2001, S. 1-38.
- Peters, Ursula: Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung, Berlin 1970.
- Rischer, Christelrose: wie süln die vrowen danne leben? Zum Realitätsstatus literarischer Fiktion am Beispiel des Frauendienstes von Ulrich von Liechtenstein, in: Hahn, Gerhard (Hg.): Grundlagen des Verstehens mittelalterlicher Literatur. Literarische Texte und ihr historischer Erkenntniswert, Stuttgart 1992, S. 133-157.
Textnachweise
<HarvardReferences />
- [*Kartschoke 2001]Kartschoke, Dieter: Ich-Darstellung in der volkssprachlichen Literatur, in: van Dülmen, Richard (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 61-78.
<HarvardReferences />
- [*Martínez/Scheffel 2012]Martínez, Matías/Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie, München 92012.
<HarvardReferences />
- [*Chinca 2010]Chinca, Mark: Der Frauendienst zwischen Fiktivität und Fiktionalität. Probleme und Perspektiven der Forschung, in: Linden, Sandra/Young, Christopher: Ulrich von Liechtenstein. Leben-Zeit-Werk-Forschung, Berlin/New York 2010, S. 305-323.
<HarvardReferences />
- [*Glauch 2010]Glauch, Sonja: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte, in: Haferland, Harald/Meyer Matthias (Hgg.): Historische Narratologie - Mediaevistische Perspektiven, Berlin/New York 2010, S. 149-185.
<HarvardReferences />
- [*Hübner 2008]Hübner, Gert: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008.
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- [*Hartmann 2012]Hartmann, Sieglinde: Deutsche Liebeslyrik vom Minnesang bis zu Oswald von Wolkenstein, Wiesbaden 2012.
<HarvardReferences />
- [*Bennewitz 1999]Bennewitz, Ingrid: Eine Dame namens Ulrich. Oder: Über den pragmatischen Nutzen von Frauenkleidern für die literarischen Helden des Mittelalters, in: Spechtler, Franz Viktor/Maier, Barbara (Hgg.): Ich - Ulrich von Liechtenstein. Literatur und Politik im Mittelalter, Klagenfurt 1999, S. 349-369.
<HarvardReferences />
- [*Peters 1970]Peters, Ursula: Frauendienst. Untersuchungen zu Ulrich von Liechtenstein und zum Wirklichkeitsgehalt der Minnedichtung, Berlin 1970.
- [*Herchert 2010]Herchert, Gaby: Einführung in den Minnesang, Darmstadt 2010.
<HarvardReferences />