Die Fingerepisode (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)

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Neben der Mundoperation und der Urinepisode ist das Abhacken eines Fingers eine der Textpassagen, in denen die Körperlichkeit im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein[1] am deutlichsten hervortritt. Dabei fügen sich die genannten Episoden zu keiner kohärenten "Körperbiografie"[Kiening 1998: 235] zusammen. Deshalb ist es durchaus sinnvoll, eine dieser "körperlichen" Passagen isoliert zu betrachten. Dieser Artikel gibt zunächst einmal den Inhalt der Fingerepisode wieder, bevor verschiedene Interpretationsansätze vorgestellt werden. Abschließend wird untersucht, inwiefern auch die Fingerepisode ein fiktionales Element innerhalb des Frauendienstes darstellt. Eine Einordnung der Fingerepisode in den Gesamtzusammenhang des Frauendienstes bietet zudem die Inhaltsangabe.

Einordnung in den Textzusammenhang

Die Fingerepisode beginnt bei Strophe 340.[2] Gleich zu Beginn des Turniers von Brixen wird "Ulrich" ein Finger von Ulschalk von Bozen von der Hand gestochen. Zunächst hängt der Finger noch "an einer ader" (FD 345); nachdem der dortige Meister diesen aber nicht adäquat behandeln konnte und der Finger sich schwarz verfärbte (FD 347,5-8), zieht "Ulrich" nach Bozen, um den dort ansässigen Meister um Hilfe zu fragen. Dieser kann "Ulrich" versorgen, er muss jedoch sieben Tage ruhen. In dieser Zeit kommuniziert "Ulrich" über einen Boten mit der Dame und sendet ihr auch mehrere Lieder. Zwar ist der Schmerz für ihn kaum auszuhalten, der seelische Schmerz aber überwiegt, da er während dieser Zeit nicht im Namen seiner Herrin kämpfen kann. Er versichert ihr über den Boten, dass er den Finger in ihrem Dienst verloren habe und dass dies ein besonderes Zeichen der Stetigkeit seines Dienstes sei (FD 374ff.). Die Dame erfährt später jedoch, dass "Ulrich" seinen Finger gar nicht wirklich verloren hat, sondern dass dieser, wenn auch krumm, wieder an seiner Hand angewachsen ist. Sie hält dies dann dem Boten vor:

Mittelhochdeutscher Text

Neuhochdeutsche Übersetzung

430 "Ir künnet bede losens vil,
eines ich dir doch sagen wil:
du sagtest mir (daz ist mir zorn),
daz er het einen finger vlorn
in minem dienst - des ist niht.
min munt von wahrheit des giht:
er hat in noch, ist mir geseit,
da von ist mir din mengen leit." [...]

"Ihr könnt nun schmeicheln wie ihr wollt,
das eine sage ich euch noch:
Du sagtest mir (ich hasse das),
dass er den Finger hat verlor'n
in meinem Dienst - das ist nicht wahr
ich sage dir die Wahrheit gleich:
Er hat ihn noch, wurd' mir gesagt,
du mischst dich ein, das tut mir leid."

432 "Ich gan im sines vingers wol,
wan daz man mir niht liegen sol.
er hat in noch, des hastu mir
ein teil gelogen; daz wize ich dir:[...]

"Ich gönn' ihm seinen Finger wohl,
doch liebe ich das Lügen nicht.
Er hat ihn noch, da hast du doch
zum Teil gelogen; das sag ich dir: [...]

Der Bote kann die Dame nicht beschwichtigen und so teilt er "Ulrich" ihren Unmut postwendend mit. Daraufhin lässt dieser sich tatsächlich den Finger abhacken (vgl. FD 440) und nimmt sich vor, ihn ihr zu schicken. Er dichtet schließlich das zweite Büchlein, verpackt es prächtig und schickt ihr, den Finger darin eingearbeitet, das Büchlein zu (FD 444ff.).
Als die Dame das Präsent vom Boten erhält, bezeichnet sie die Tat zunächst als "tumpheit" (FD 448). Als sie das Büchlein aber liest, wird sie traurig:

Mittelhochdeutscher Text

Neuhochdeutsche Übersetzung

450 [...]"mir tuot das vingers sterben we,
doch durch dins herren liebe niht,
wan daz din munt gein mir des giht,
er hab in von den schulden min
verlorn, des muoz ich truric sin."

[...] "Mir tut des Fingers Sterben weh,
nicht wegen deines Herren Liebe,
da mir dies doch dein Mund gesagt,
dass er ihn wegen mir verlor,
darüber muss ich traurig sein."

453 "Nu rite hin wieder und sage im daz,
er möhte den vrowen verre baz
gedienen ob er in hete noch,
den vinger sin; und sage im doch,
daz ich in welle hie behaben
in miner lade also begraben,
daz ich in sehe wol alle tage-
uf min warheit im daz sage."

"Nun reit hin und sag' ihm das,
er könnt' den Damen weiterhin
so dienen, wie wenn er ihn doch
noch hätte; sag' ihm dieses auch,
dass ich den Finger hier behalt'
und ihn in meiner Lade hab',
dass ich ihn sehe jeden Tag,
auf meine Wahrheit sag' ihm das.

Auf der einen Seite also weist sie die Zuneigung "Ulrichs" wieder ab, bezeichnet seine Tat als Dummheit und stellt klar, dass sie ihn nie erhören wird. (FD 454,6-8) Auf der anderen Seite jedoch behält sie den Finger als "Andenken".

Interpretationsansätze

Das ambivalente Verhältnis zwischen "Ulrich" und der Dame

Die Fingerepisode ist beispielhaft für den Aufopferungswillen und die Unterwerfung "Ulrichs". Als Minnediener erträgt er Leid und Schmerz, die er durch die Abweisung der Herrin erfährt. Das Ertragen des Leides und des Schmerzes ist ein üblicher Bestandteil des Minnedienstes und wird als Beweis für die Aufrichtigkeit und Beständigkeit der Liebe gesehen.[Hübner 2008: 5] „Ulrichs“ Leid und Schmerz, sowie seine Bereitschaft diese zu ertragen, werden durch die Fingerepisode jedoch auf ein anderes Niveau gehoben. Das ursprünglich rein psychische Leiden wird durch das Abschneiden des Fingers auch zu einem physischen. Der Minnedienst erweitert sich um ein körperliches Leidenskonzept. Das bestehende ambivalente Verhältnis zwischen "Ulrich", dem Minnediener, und seiner Herrin wird in dieser Episode noch einmal verdeutlicht: Die Dame will einerseits den Finger in ehrenvollem Andenken aufbewahren, andererseits weist sie "Ulrichs" Dienst weiterhin ab. (FD 450-453) "Ulrich" stößt im Frauendienst immer wieder auf Abweisung, die sich vor allem in den Aufforderungen zum Abbruch des Minnedienstes zeigt (FD 400). Aber er wird auch ermutigt, zum Beispiel in Form von Melodien, zu denen er ein Lied schreiben soll, oder in Form eines einfachen Lobes (FD 1101,3-8). So lobt die Herrin "Ulrichs" Lied, aber bittet trotzdem um ein Ende des Werbens. (FD 404,4 - 406,8) Dadurch wird ein ambivalentes Verhältnis erzeugt, das "Ulrich" immer in einer unklaren Position lässt. Er befindet sich in einer Art Schwebezustand, in einem Zwischenraum von Zuneigung und Abneigung. Er wird abgelehnt, aber erhält immer genau so viel Ermunterung, dass er nie seine Hoffnung auf einen Minnelohn verliert. Diese Situation hält den Minnedienst in Gang und macht die Konstruktion eines Frauendienstes auf der Ebene der hohen Minne über viele Jahre hinweg erst möglich. Die Herrin äußert im oben genannten Zitat ihre Traurigkeit über "Ulrichs" Fingerverlust, für den sie sich verantwortlich fühlt. Sie behält den Finger bei sich, sodass sie ihn jeden Tag sehen kann. Gleichzeitig weist sie jedoch wörtlich seine Liebe zurück. (FD 450-453) Dies veranschaulicht genau das widersprüchliche Verhalten der Herrin, das in sich nicht stimmig ist. Das könnte dadurch erklärt werden, dass die Herrin "Ulrich" nicht ganz abgeneigt ist, sondern lediglich die gesellschaftlichen Regeln nicht verletzen möchte, was mit dem Gewähren eines Minnelohnes geschehen würde. Dieses Verhalten ist typisch für den hohen Minnesang, in dem gesellschaftliche Normen das Gewähren des Lohns nicht gestatten.[Hübner 2008: 5] Dass die Herrin diese Normen nicht übertreten möchte, zeigt sich zum Beispiel auch im Anschluss an die Urinepisode. Dort begründet die Herrin die Verweigerung des Minnelohns vor allem mit ihrer „ere“. (FD 1210,1-8)

Fragmentierung des Körpers

Der Einfluss auf die Subjektivität "Ulrichs"

Durch die Fragmentierung von "Ulrichs" Körper kann eine mittelbare Nähe zwischen dem Körper der Dame und ihm, vertreten durch den Finger, hergestellt werden.[Ackermann o. J.: 152] Somit erreicht erst die Spaltung des Subjekts eine Einheit mit dem Objekt.[Ackermann 2009: 248] Was bedeutet aber dieser Vorgang für die Subjektivität Ulrichs? Allgemein lässt sich ein Subjekt als ein "seiner selbst bewusste[s] Individuum"[Kartschoke 2001: 63] definieren. Dieses Bewusstsein generiert sich über die "Wahrnehmung eines Du"[Kartschoke 2001: 63], also in Auseinandersetzung mit der Umgebung. Leider erfahren wir im Frauendienst nicht, wie das weitere soziale Umfeld auf "Ulrichs" fehlenden Finger reagiert. Berichtet werden nur die Reaktionen des von Hasendorf, der "Ulrich" den Finger abschlägt, des Boten und der Dame. Von Hasendorf und der Bote reagieren zunächst ablehnend auf den Akt des Abschlagens (FD 438 bzw. 441) und auch der Dame "tout das vingers sterben we" (FD 450,4). Trotz der ablehnenden Reaktionen verzichtet "Ulrich" weder auf das Abschlagen noch bereut er später den Verlust. Das macht ihn nicht nur zu einem "seiner selbst bewusste[n] Individuum"[Kartschoke 2001: 63], sondern auch zu einem selbstbestimmten und eigenwilligen Ich. Zudem hat "Ulrich" mit einem fehlenden bzw. absichtlich verlorenen Finger sicherlich ein Alleinstellungsmerkmal unter seinen Zeitgenossen. Wenn Subjektivität durch Auseinandersetzung mit der sozialen Umwelt zustande kommt[Kartschoke 2001: 63], so erhöht die Tatsache eines fehlenden Fingers damit die Subjektivität des Individuums "Ulrich". Es lässt sich folglich festhalten, dass die Spaltung des Subjekts der Person "Ulrich" eine erhöhte Subjektivität verleiht.

Der Einfluss auf die Individualität "Ulrichs"

Subjektivität und Individualität sind miteinander verwandte Begriffe. Die Individualität kann als Steigerung der Subjektivität verstanden werden, denn sie beschreibt, inwiefern sich das Subjekt als einzigartig und besonders darstellt und auch selbst wahrnimmt.[Kartschoke 2001: 63] "Ulrich" tritt im Frauendienst eher als ein zurückhaltender Erzähler auf, denn das erzählende Ich tritt in den Hintergrund und wirkt eher unindividuell.[Glauch 2010: 177f.] Allerdings individuiert sich das erlebende Ich auf der Handlungsebene und hier vor allem in Bezug auf den Körper.[Glauch 2010: 178] Das Abhacken des Fingers ist eine einzigartige Tat und wird von allen Beteiligten auch als solche wahrgenommen. Selbst die ansonsten über alles erhabene Dame wird dadurch kurzzeitig aus der Fassung gebracht und schwankt zwischen Ablehnung und Zuneigung. (FD 450/454) Glauch zieht daraus den Schluss, dass "solches erzählte Geschehen [...] als narrative Einkleidung eines allgemeinen Erfahrungswissens in unbestimmbarem Grad imaginär und exemplarisch [ist]. Somit sind die Ich-Erzähler als Erzählende schwach profiliert, und als Erlebende verschwimmt ihre Kontur im Beispielhaft-Allgemeinen."[Glauch 2010: 178] Zuzustimmen ist ihr in der Aussage, dass das erzählende Ich wenig individuell ist und dies auch durch die Fingerepisode keine Änderung erfährt. Anders als Glauch das sieht, tritt meiner Meinung nach das erlebende Ich durch den körperlichen Eingriff aber als ein individuelleres in den Vordergrund. Das Abhacken eines Fingers führt zu einer bewussten "Profilierung des Körpers"[Kiening 1998: 219] des erlebenden Ichs, "durch die es sich von den anderen absetzt".[Kiening 1998: 219] Auch Schmid sieht das Abhacken eines Fingers als eine "Differenzierung der Identität"[Schmid 1988: 196] und damit als Individualisierung.

Autonomie und Fremdbestimmung

Wie zuvor bereits dargelegt wurde, handelt es sich bei der Fragmentierung des Körpers "Ulrichs" um eine bewusst getroffene Entscheidung. Natürlich ist nicht außer Acht zu lassen, dass die Dame mit ihrer Bezichtigung der Lüge einen gewissen Druck auf "Ulrich" ausübt. (FD 432) Nirgendwo im Frauendienst wird allerdings der radikale Akt der Fingeramputation von der Dame gefordert. Und "Ulrich" hat nicht nur zum Ziel, den Vorwurf der Lüge auszuräumen, sondern er will die Dame durch seine Tat auch bestrafen.[Schmid 1988: 192] Im zweiten Büchlein, das mit dem Finger an die Dame überbracht wird, steht: "nu ist er in ir dienste verlorn. / des mag er si wol riuwen." (FD 2. Büchlein 284f.) Einen ganzheitlichen, oder besser gesagt einen ganzkörperlichen, Minnedienst kann die Dame nun nicht mehr erhoffen.[Kiening 1998: 226] "Ulrich" wird in seiner Entscheidung, den Finger amputieren zu lassen, sicherlich von der Dame beeinflusst. Der finale Entschluss aber ist auch intrinsisch motiviert, denn die Zielsetzung, dass es die Dame "riuwen" (reuen) solle, entstammt allein "Ulrichs" Gedankenwelt. "Ulrich" handelt in der Fingerepisode also zumindest teilweise autonom. Mit der Fragmentierung geht dann aber ein Autonomieverlust einher. Dadurch, dass der Finger an die Dame gesendet wird, verliert "Ulrich" die Macht über eines seiner Körperteile. Es liegt nun ganz an der Dame, wie sie mit diesem umgeht. In der Fingerepisode liegen somit Selbst- und Fremdbestimmung nahe zusammen. Einerseits hat die Dame einen großen Einfluss auf Ulrichs Körper[3] und erlangt mit dem Finger sogar materiellen Besitz an ihm. Andererseits ist es "Ulrichs" eigener Entschluss, den Finger abhacken zu lassen und er verfolgt damit auch seine eigenen Ziele.

Der Finger als Botschaft

Neben dem Büchlein, dessen Inhalt hier nicht näher beleuchtet wird, ist in dieser Episode auch der Finger eine Botschaft von "Ulrich" an die Dame. Die Amputation des Fingers erfolgt als Reaktion auf die Aussage der Dame, "Ulrich" und der Bote hätten gelogen. Der Vorwurf der Lüge, also das Überbringen einer unwahren Botschaft, soll dadurch entkräftet werden, dass die Realität nachträglich der Botschaft angepasst wird. Um diesmal die Wahrhaftigkeit der übermittelten Nachricht zu untermauern, wird Schriftlichkeit (das Büchlein) und Materialität (der Finger) kombiniert.[Kellermann 2010: 228] Damit nicht wieder Zweifel an "Ulrichs" Dienst für die Dame aufkommen, braucht es diesen "körperlichen Beweis des Minnedienstes"[Kellermann 2010: 229]. Daraus folgt, dass der Grad der Materialität einer Botschaft in diesem Fall entscheidend ist für ihre Glaubwürdigkeit. "Ulrichs" übermittelten mündlichen oder schriftlichen Beteuerungen wird weniger Glauben geschenkt als dem "Augenscheinbeweis"[Kellermann 2010: 228], obwohl die Dame auch hier keinen Anhaltspunkt dafür hat, dass der Finger tatsächlich von ihrem Minneritter stammt. Daher steht die Körperlichkeit in einem starken Kontrast "zur Rede, die lügen kann oder wenigstens stets der Lüge verdächtig ist".[Schmid 1988: 191] "Ulrichs" Finger erhält dadurch eine "metaphorische Funktion als Text" [Kiening 1998:226], denn er unterstreicht die Wahrhaftigkeit des geschriebenen Textes und wird damit sozusagen zum "Hyper-Text".[Kiening 1998:226] Andererseits ist der Finger nicht nur eine Botschaft sondern zugleich auch ein Bote seiner selbst.[Kellermann 2010: 229] Paradoxerweise "spricht" die stumme Materialität des Fingers glaubwürdiger für sich, als eine Botschaft des leibhaftigen Boten das jemals tun könnte. Der Finger ist nicht auf die Vermittlung des menschlichen Boten angewiesen, weil er als ein Teil "Ulrichs" ausnahmsweise direkt mit der Dame nonverbal kommunizieren kann. Deshalb kann der Finger nicht nur metaphorisch als Text gesehen werden, sondern er erfüllt auch eine "metonymische Funktion als Körper".[Kiening 1998:226f.] Der Blick der Dame und ihre Zuwendung, die "Ulrich" ersehnt, aber nicht erhält, wird nun stellvertretend wenigstens seinem Finger zuteil.[Kiening 1998:227]

Der Finger als "Reliquie"

"Ulrichs" Finger ist im Kampf, also im Dienst für die Dame, gestorben.[Schmid 1988: 192] Der eigentliche Akt des Abhackens erfolgt damit aus Sicht des Fingers erst posthum, denn bereits zuvor war er krumm und für "Ulrich" nicht mehr zu gebrauchen. (FD 431,2-4) Durch diesen ehrenvollen Tod im Kampf wird der Finger zur "Reliquie des Minnemärtyrers"[Kellermann 2010: 229], die von der Dame sorgfältig in ihrer Lade verwahrt und tagtäglich betrachtet wird. (FD 453,6-7) Eine Reliquie ist dem lateinischen Wortursprung nach etwas Zurückgelassenes, was eigentlich impliziert, dass der vormalige Besitzer verstorben ist.[4] Der Sonderfall hier ist, dass "Ulrich" bewusst eine Reliquie seiner selbst produziert.[Kiening 1998: 226] Er opfert seinen Finger einerseits für die Dame, aber andererseits auch für sein Ziel, der Dame nahe zu sein. Denn die reliquienähnliche Verehrung, die dem Finger widerfährt, ist nicht in erster Linie von der Dame motiviert. Vielmehr wird sie durch das Opfer, das "Ulrich" für sie erbrachte, zur Verehrung genötigt. Die "Sakralisierung des Fingers"[Kiening 1998: 226] lässt nur einen sorgfältigen Umgang mit diesem Teil von "Ulrich" zu und so kann er nicht, wie etwa das erste Büchlein, abgewiesen und an seinen Absender zurückgeschickt werden. (FD 166) Indem "Ulrich" selbst eine Reliquie seines Körpers herstellt, betreibt er auch eine Form der Selbstinszenierung: Wenn sein Finger den Status einer Reliquie inne hat, erhöht das ihn selbst. Denn nur den Überresten von Menschen, die Außergewöhnliches geleistet haben, wird im Normalfall eine solche besondere Verehrung zuteil.

Fiktionalität

Die Fingerepisode ist anhand der Quellen, die über Ulrich von Liechtenstein bekannt sind, nicht als ein biografisches Element zu belegen. Kiening kommt deshalb zu dem Schluss, dass es offen bleibt, ob Ulrich ein Finger fehlte.[Kiening 1998: 215] Die von "Ulrich" geschilderte medizinische Behandlung und auch die Komplikationen erscheinen aus medizinhistorischer Sicht durchaus plausibel.[Haferlach 1991: 98] Kriegsverletzungen an Extremitäten konnten wohl schon im Altertum adäquat behandelt werden und auch die Durchführung von Amputationen lag im Bereich des Möglichen.[Haferlach 1991: 98] Allerdings steht in der gesamten Episode das Narrative und weniger die Autobiografie im Vordergrund. Denn sobald die Beschreibungen der Behandlungen oder der Heilungsphase keine "für den Fortgang der Handlung funktionelle Bedeutung haben",[Haferlach 1991: 97] bricht "Ulrich" seine Erzählung ab und fährt bei einer anderen Begebenheit fort. So ist beispielsweise nach dem Abschlagen des Fingers gar keine Rede mehr von der Wunde und "Ulrich" begibt sich voller Freude auf die Venusfahrt.(FD 442-470) Zudem erzielt "Ulrich" schon kurz nach der Amputation Turniererfolge während der Venusfahrt und hat angeblich keinen ersichtlichen Nachteil durch den fehlenden Finger seiner Schwerthand.[Haferlach 1991: 98] Die genannten Gründe wecken Zweifel am Realitätsgehalt der Fingerepisode. Was aber am stärksten für eine fiktionale Deutung dieser Textpassage spricht, ist die Tatsache, dass sie sich vor allem symbolisch interpretieren lässt (siehe den Absatz zu Interpretationsansätzen). Damit haben das Abhacken des Fingers und die Übergabe an die Dame in erster Linie eine literarische Funktion. Körperliches Leid wird zum Ausdruck für "Ulrichs" absolute Dienstbereitschaft gegenüber der Dame, für die er sogar die Selbstbestimmung über seinen Körper aufgibt und sich ganz ihren Wünschen unterordnet.[Kiening 1998: 222] Tatsächlich lässt sich wohl kaum rekonstruieren, wie viele Finger die historische Person Ulrich von Liechtenstein hatte. Fakt ist aber, dass die Argumente für eine fiktionale Deutung der Episode überwiegen und es somit plausibler ist, der Fingerepisode keinen Realitätsbezug zuzusprechen.

Fazit

Die Fingerepisode entwickelt sich aus einer Unwahrheit "Ulrichs". Weil dieser behauptet, im Kampf für die Dame einen Finger verloren zu haben, wird er der Lüge bezichtigt und lässt sich deshalb tatsächlich seinen verletzten Finger abhacken. Die Fingeramputation lässt sich, wie gezeigt wurde, vor allem symbolisch interpretieren. Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Fingerepisode ein autobiografisches Element des 'Frauendienstes' ist. "Ulrich" bringt mit diesem Eingriff an seinem Körper seine unbedingte Ergebenheit der Dame gegenüber zum Ausdruck. Durch die Fragmentierung gelingt es zudem wenigstens einem Körperteil "Ulrichs" der Dame nahe zu kommen. Denn diese bewahrt den Finger als eine Art "Reliquie" auf und bringt ihm damit, trotz der weiter vorherrschenden Ablehnung gegenüber "Ulrichs" Minnedienst, zumindest indirekt Anerkennung entgegen. Außerdem ist der Finger zugleich Bote und Botschaft. Er unterstreicht als materieller Beweis einerseits die Echtheit der mündlichen bzw. schriftlichen Nachricht. Andererseits wird er zwar von einem Boten überbracht, "spricht" dann aber für sich selbst und braucht keinen weiteren Vermittler.

Primärtext

  • Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen 1987. (Mittelhochdeutscher Text)
  • Liechtenstein, Ulrich von: Frauendienst, übers. v. Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec 2000.

Textnachweise

  1. Um die historische Person (= den Autor) Ulrich von Liechtenstein von der gleichnamigen innerliterarischen Person unterscheiden zu können, wird letztere in Anführungszeichen gesetzt.
  2. Zitiert wird nach den unter Primärtext genannten Ausgaben (neuhochdeutsch/mittelhochdeutsch).
  3. Vgl. hierzu zum Beispiel auch die von ihr geforderte Mundoperation, FD 80-108
  4. Vgl. Duden "Reliquie"
  • [*Ackermann 2009]Ackermann, Christiane: Im Spannungsfeld von Ich und Körper. Subjektivität im Parzival Wolframs von Eschenbach und im Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein, Köln/Weimar/Wien 2009.
  • [*Ackermann o. J.]Ackermann, Christiane: "min lip reht als ein stumbe sweic"- Ich ≠ Subjekt ≠ Körper. Zu Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst, in: Ridder, Klaus/Langer, Otto (Hgg.): Körperinszenierungen in mittelalterlicher Literatur. Kolloquium am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld, 18. bis 20. März 1999, Berlin o. A., S. 139-156.
  • [*Glauch 2010]Glauch, Sonja: Ich-Erzähler ohne Stimme. Zur Andersartigkeit mittelalterlichen Erzählens zwischen Narratologie und Mediengeschichte, in: Haferland, Harald/Meyer Matthias (Hgg.): Historische Narratologie - Mediaevistische Perspektiven, Berlin/New York 2010, S. 149-185.
  • [*Haferlach 1991]Haferlach, Torsten: Die Darstellung von Verletzungen und Krankheiten und ihrer Therapie in mittelalterlicher deutscher Literatur unter gattungsspezifischen Aspekten, Heidelberg 1991.
  • [*Hübner 2008]Hübner, Gert: Minnesang im 13. Jahrhundert. Eine Einführung, Tübingen 2008.
  • [*Kartschoke 2001]Kartschoke, Dieter: Ich-Darstellung in der volkssprachlichen Literatur, in: van Dülmen, Richard (Hg.): Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 61-78.
  • [*Kellermann 2010]Kellermann, Karina: Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst als mediales Labor, in: Linden, Sandra/Young, Christopher (Hgg.): Ulrich von Liechtenstein. Leben - Zeit - Werk - Forschung, Berlin/New York 2010, S. 207-260.
  • [*Kiening 1998]Kiening, Christian: Der Autor als "Leibeigener der Dame - oder des Textes? Das Erzählsubjekt und sein Körper im "Frauendienst" Ulrichs von Liechtenstein, in: Andersen, Elizabeth u. a. (Hgg.): Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995, Tübingen 1998, S. 211-238.
  • [*Schmid 1988] Schmid, Elisabeth: Verstellung und Entstellung im "Frauendienst" Ulrichs von Liechtenstein, in: Ebenbauer, Alfred (Hg.): Die mittelalterliche Literatur in der Steiermark. Akten des internationalen Symposiums, Schloss Segau bei Leipzig 1984, Bern u. a. 1988, S. 181-198.