Der Minnegrottenhirsch (Gottfried von Straßburg, Tristan): Unterschied zwischen den Versionen
Olivia (Diskussion | Beiträge) |
Olivia (Diskussion | Beiträge) |
||
Zeile 28: | Zeile 28: | ||
Dementsprechend ist auch Markes Motivation, zu einer Jagd aufubrechen, jeweils eine grundlegend andere. Während sie in der Saga lediglich als routinierte Gewohnheit dem vegnüglichen Zeitvertreib dient, soll sie bei Gottfried als Ablenkung die zutiefst schmerzhafte Sehnsucht nach Isolde stillen. Demzufolge steht das gesamte Unterfangen gewissermaßen unter einem psychologischen Vorzeichen[Gruenter: S. 5]. <br /> | Dementsprechend ist auch Markes Motivation, zu einer Jagd aufubrechen, jeweils eine grundlegend andere. Während sie in der Saga lediglich als routinierte Gewohnheit dem vegnüglichen Zeitvertreib dient, soll sie bei Gottfried als Ablenkung die zutiefst schmerzhafte Sehnsucht nach Isolde stillen. Demzufolge steht das gesamte Unterfangen gewissermaßen unter einem psychologischen Vorzeichen[Gruenter: S. 5]. <br /> | ||
An die Stelle einer sachkundigen und ausführlichen, insgesamt analytisch-realistischen Berichterstattung über die einzelnen Jagdetappen, welche bei Thomas im Vordergrund steht<ref>Umfassende Darstellung des Verhaltens des flüchtenden Hirsches, seine zickzackförmige Laufroute und das kurze Verweilen zum Aufhorchen, das Herankommenlassen der Hunde, sein Sprung in den Fluss und die anschließende ratlose Verwirrung der Jagdhunde aufgrund der verlorenen Spur.</ref>, erwähnt Gottfried die einzelnen Umstände derartig verkürzt, dass sie nunmehr lediglich als rahmende Kulisse für sein eigentliches Augenmerk fungieren. So werden stattdessen hauptsächlich zwei Akteure hervorgehoben, der sehnsüchtig melancholische Marke und der sonderbar enigmatische Hirsch. <br /> | An die Stelle einer sachkundigen und ausführlichen, insgesamt analytisch-realistischen Berichterstattung über die einzelnen Jagdetappen, welche bei Thomas im Vordergrund steht<ref>Umfassende Darstellung des Verhaltens des flüchtenden Hirsches, seine zickzackförmige Laufroute und das kurze Verweilen zum Aufhorchen, das Herankommenlassen der Hunde, sein Sprung in den Fluss und die anschließende ratlose Verwirrung der Jagdhunde aufgrund der verlorenen Spur.</ref>, erwähnt Gottfried die einzelnen Umstände derartig verkürzt, dass sie nunmehr lediglich als rahmende Kulisse für sein eigentliches Augenmerk fungieren. So werden stattdessen hauptsächlich zwei Akteure hervorgehoben, der sehnsüchtig melancholische Marke und der sonderbar enigmatische Hirsch. <br /> | ||
Die eklatanteste Diskrepanz zwischen den beiden Versionen ist jedoch eindeutig die mit den angeführten Unterschieden einhergehende Verbundenheit des Hirsches in den wunderbaren Bereich der Minnegrotte und somit in die Liebesbeziehung zwischen Tristan und Isolde. | Die eklatanteste Diskrepanz zwischen den beiden Versionen ist jedoch eindeutig die mit den angeführten Unterschieden einhergehende Verbundenheit des Hirsches in den wunderbaren Bereich der Minnegrotte und somit in die Liebesbeziehung zwischen Tristan und Isolde. Erschöpft sich die epische Funktion des Hirsches in der Saga in seiner Funktion als Wegweiser<ref>Sein Flucht führt zur Entdeckung der Minnegrotte und dem Liebespaar.</ref>, wird diesem bei Gottfried ein weitaus höherer Stellenwert und beinahe metaphorische Bedeutung beigemessen. Sein genauer symbolischer Stellenwert soll im nächsten Abschnitt eingehend analysiert werden. | ||
=Symbolik= | =Symbolik= |
Version vom 7. Februar 2011, 16:13 Uhr
Dieser Artikel befasst sich mit dem Mittegrottenhirsch, der von Gottfried als vremede hirz eingeführt wird. Durch ihn gelangt erst Markes Jägermeister und schließlich Marke selbst zu der Minnegrotte, in welcher sich Tristan und Isolde gemeinsam aufhalten.
Einordnung in den Gesamtzusammenhang
Um sich von seiner Trauer und bedrückenden Sehnsucht nach Isolde abzulenken, sucht Marke Zerstreuung in einem Jagdausritt (V. 17275-17286). Im Wald angekommen, entdecken die Jäger ein Hirschrudel, aus welchem die losgelassenen Hunde sofort einen vremeden hirz abtrennen und verfolgen, bis sie am Abend seine Fährte verlieren (V. 17286-17302). Der Hirsch flüchtet indes von dannen er ouch dar kam, hin dâ diu fossiure was (V. 17305-17306). Bestürzt über die misslungene Jagd, beschließen Marke und seine Jäger die Nacht zu ruhen, um am nächsten Tag einen Jäger auf die Suche nach der entwichenen Beute zu schicken. Dieser begibt sich mit seinem Hund auf die Reise über manic ungeverte, über velse und über herte, über dürre und über gras, dâ ime der hirz des nahtes was gestrichen unde gevlohen vor (V. 17337-17341).
Zwischenzeitlich verbringen Tristan und Isolde einen Tag außerhalb ihrer Minnegrotte in dem wunnecliche tal (V. 17353). Alarmiert durch den am Vortag zu der Grotte gedrungenen Jagdlärm, überlegen sie nach ihrer Rückkehr, wie sie im Falle einer Entdeckung vorgehen sollen, damit sich ihre Liebesbeziehung nicht offenbart. Tristans Einfall, sich einander abgewandt und durch ein Schwert voneinander getrennt schlafen zu legen, setzen sie sogleich in die Tat um (V. 17395-17416). Unterdessen hat auch der Jäger jenes Tal erreicht. Er sichtet eine spurte in dem touwe (V. 17419), welche das Liebespaar im Gras hinterlassen hat und wähnt sich auf der Fährte des Hirschen. So folgt er dieser nichtsahnend, gelangt zur Minnegrotte und erspäht durch ein verborgenes Fenster das getrennt schlafende Paar (V. 17417-17454). Erschrocken über das Schwert eilt er zu dem mittlerweile entgegenreitenden Marke, berichtet ihm von seiner Entdeckung und weist ihm den Weg zu der minnen fossiure (V. 17464). Als Marke dort angekommen Tristan und Isolde identifiziert, verspürt er Schmerz und Glück zugleich, da er einerseits über ihre vermeintlich aufrichtige Treue erfreut, andererseits über seine Verdächtigungen betrübt ist. Von Schuldgefühlen geplagt, lässt er sich letztlich derart von der Liebe zu Isolde überwältigen, dass er die beiden scheinbar Unschuldigen an seinen Hof zurückkehren lässt (V. 17455-17701).
Aussehen
Im Gegensatz zu dem eigentlichen Jagdgeschehen, welches Gottfried lediglich in Ansätzen ausführt, widmet er sich dem sonderbaren Erscheinungsbild des vremeden hirz (V. 17293) mit auffällig akribischer Präzision. Bereits das von der Saga Thomas abweichende Attribut vremede, das den bloß als 'gewaltig' zu einem als 'wunderbar' titulierten Hirsch steigert, signalisiert die besondere Bedeutung seines Auftauchens und auch die anfängliche Absonderung von dem restlichen Rudel kennzeichnet seinen Status als seltenes Exemplar und extraordinäre Jagdausbeute[Gruenter: S. 6].
der was reht alse ein ors gemane,
starc unde michel unde blanc,
daz gehürne cleine unde unlanc,
vil kûme wider entworfen,
als er ez hin geworfen
haete in unlanger zîte.
(V. 17294-17299)
Die eminente Größe, die leuchtend weiße Fellfarbe, die pferdegleiche Mähne und das dazu in markantem Kontrast stehende kleine, womöglich kürzlich abgestoßene Geweih wirken auf die Jäger mit derartiger Anziehungskraft[1], dass sie sich mit gewalte (V. 17301) zu einer langen und leidenschaftlichen Jagd hinreißen lassen, an deren Ende sie jedoch jegliche Spur verlieren.
Besonderheit der Gottfriedschen Fassung
Mit dem konkreten Hinweis, der wundersame Hirsch flüchte von dannen er ouch dar kam, hin da diu fossiure was, markiert Gottfried das Geschöpf als unmittelbar aus dem Bezirk der fossiure enstammend. Dass es sich bei dessen Integration in den komplexen Minnediskurs, sowie darüberhinaus bei der Gestaltung der gesamten Episode um einen einzigartigen Kunstgriff Gottfrieds handelt, beweist der direkte Vergleich mit seiner Vorlage.
Auffällig ist zunächst, dass Gottfried die vergebliche Jagd auf den Hirsch in seine insgesamt vierteilige Schilderung der Minnegrotte involviert und auf diese Weise fest mit dieser verbindet. In der Vorlage vollzieht sich zwischen Grottenepisode und der Hirschjagd ein deutlicher Einschnitt, der den Beginn eines neuen narratologischen Komplexes signalisiert[Gruenter: S. 2]. Die episodisch-chronologische Reihung weicht bei Gottfried einer Aufteilung in ineinander verschachtelte Einheiten, die durch ihre Verklammerung zusätzliche Bedeutung erlangen.
Dementsprechend ist auch Markes Motivation, zu einer Jagd aufubrechen, jeweils eine grundlegend andere. Während sie in der Saga lediglich als routinierte Gewohnheit dem vegnüglichen Zeitvertreib dient, soll sie bei Gottfried als Ablenkung die zutiefst schmerzhafte Sehnsucht nach Isolde stillen. Demzufolge steht das gesamte Unterfangen gewissermaßen unter einem psychologischen Vorzeichen[Gruenter: S. 5].
An die Stelle einer sachkundigen und ausführlichen, insgesamt analytisch-realistischen Berichterstattung über die einzelnen Jagdetappen, welche bei Thomas im Vordergrund steht[2], erwähnt Gottfried die einzelnen Umstände derartig verkürzt, dass sie nunmehr lediglich als rahmende Kulisse für sein eigentliches Augenmerk fungieren. So werden stattdessen hauptsächlich zwei Akteure hervorgehoben, der sehnsüchtig melancholische Marke und der sonderbar enigmatische Hirsch.
Die eklatanteste Diskrepanz zwischen den beiden Versionen ist jedoch eindeutig die mit den angeführten Unterschieden einhergehende Verbundenheit des Hirsches in den wunderbaren Bereich der Minnegrotte und somit in die Liebesbeziehung zwischen Tristan und Isolde. Erschöpft sich die epische Funktion des Hirsches in der Saga in seiner Funktion als Wegweiser[3], wird diesem bei Gottfried ein weitaus höherer Stellenwert und beinahe metaphorische Bedeutung beigemessen. Sein genauer symbolischer Stellenwert soll im nächsten Abschnitt eingehend analysiert werden.
Symbolik
Obwohl sich der gesamte direkte Auftritt des Hirsches auf wenige Verse beschränkt[4], ist dieser von umso fundamentalerer Wichtigkeit. Bereits das unscheinbare Wort genas[5], in dessen Bedeutung etwas Endgültiges und Unwiderrufliches mitschwingt, impliziert, dass der Hirsch kein gewöhnliches Jagdobjekt und ein Fangversuch von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Er bringt vielmehr als eine Art "wunderbares Lockmittel Marke auf die (richtige) 'Spur'"[Gruenter: S. 6]. Dennoch beschränkt sich seine epische Funktion nicht auf ein reines Mittel zum Zweck. Bezeichnenderweise ist es nämlich nicht Marke selbst, sondern der Jägermeister mit seinem Hund, der nach gescheiterter Jagd am nächsten Morgen die Fährte wieder aufnimmt und so zu der Minnegrotte, gewissermaßen dem Sinnbild der Liebe zwischen Tristan und Isolde, gelangt. Ähnlich verhält es sich in der Gandin-Episode, wenn Tristan an seiner Stelle die Verteidigung übernimmt. "Dem Zaudernden, Schwerblütigen, der in parasitärer Müdigkeit von den Unternehmungen anderer lebt, muss immer ein Zweiter helfen"[Gruenter: S. 7] Anstatt selbst die Initiative zu ergreifen, um das wunderbare Wild ausfindig zu machen, begibt sich Marke enttäuscht und erschöpft zur Ruhe und verharrt in lethargischer Entschlusslosigkeit und larmoyanter Resignation. Der ewig schwache und tatenlose Marke bildet im Grunde einen Kontrast zu dem erfüllten, selbstgenügsamen Dasein des Liebespaares in der Minnegrotte. Folglich nimmt er auch den "wunderbaren Fingerzeig"[Gruenter: S. 70] nicht wahr, der mittels des Hirsches direkt auf das Liebespaar verweist. Als er die Grotte schließlich erreicht , vermag er das voneinander abgewandte Liebespaar lediglich durch ein kleines Fenster zu beobachten, ansonsten bleibt er gänzlich außen vor. Der Zutritt in das Reich der Minne bleibt ihm ebenso verwehrt, wie in das Herz Isoldes.
Fazit
Einzelnachweise
- ↑ nu muote Marken sêre, die jegere michel mere, daz in zem hirze also geschach, do man in alse vremeden sach beide an der varwe und an der mane. (V. 17309-17313)
- ↑ Umfassende Darstellung des Verhaltens des flüchtenden Hirsches, seine zickzackförmige Laufroute und das kurze Verweilen zum Aufhorchen, das Herankommenlassen der Hunde, sein Sprung in den Fluss und die anschließende ratlose Verwirrung der Jagdhunde aufgrund der verlorenen Spur.
- ↑ Sein Flucht führt zur Entdeckung der Minnegrotte und dem Liebespaar.
- ↑ Insgesamt auf V. 17291-17307
- ↑ In: al dar gevloher unde genas (V. 17308)
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Rathofer] Rathofer, Johannes: Der 'wunderbare Hirsch' in der Minnegrotte. In: Gottfried von Straßburg, Wege der Forschung. Hrsg. von Alois Wolf. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 1973. S 371-391.
- [*Gruenter] Gruenter, Rainer: Der vremede hirz. In: Tristan-Studien, Beihefte zum Euphorion, Zeitschrift für Literaturgeschichte (27. Heft). Hrsg. von Wolfgang Adam. Universitätsverlag C. Winter Heidelberg 1993. S. 1-9.
- [*Glogau] Glogau, Dirk R.: Untersuchungen zu einer konstruktivistischen Mediävistik. Tiere und Pflanzen im "Tristan" Gottfrieds von Straßburg und im "Nibelungenlied". Item-Verlag. Essen 1993.