Performativität mittelalterlicher Literatur: Unterschied zwischen den Versionen
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Unter '''Minnesang''' versteht man, in Abgrenzung zur Sangspruchdichtung, vor allem die '''ritterlich-adlige Liebeslyrik des Mittelhochdeutschen'''. In der höfischen Kultur des mittelalterlichen Hochadels diente er in streng ritualisierter Form der '''Unterhaltung''' (''froide'') und als '''Variante des ritterlichen Wettkampfs'''. Die späte Entstehung | Unter '''Minnesang''' versteht man, in Abgrenzung zur Sangspruchdichtung, vor allem die '''ritterlich-adlige Liebeslyrik des Mittelhochdeutschen'''. In der höfischen Kultur des mittelalterlichen Hochadels diente er in streng ritualisierter Form der '''Unterhaltung''' (''froide'') und als '''Variante des ritterlichen Wettkampfs'''. Die späte Entstehung | ||
handschriftlicher Überlieferungen dieser Gattung legt die Annahme nahe, dass Minnesang primär in mündlicher, d.h. gesungener Form existierte. Minnesänger traten bisweilen als Verfasser, Komponisten und | handschriftlicher Überlieferungen dieser Gattung legt die Annahme nahe, dass Minnesang primär in mündlicher, d. h. gesungener Form existierte. Minnesänger traten bisweilen als Verfasser, Komponisten und Vortragende in Personalunion auf und besangen vor adligem Publikum eine meist stark idealisierte ''vrouwe'', um aus dem Leiden der unerwiderten Liebe gesellschaftliche Anerkennung zu erwerben. Entscheidend dafür war der geglückte Vortrag, also das '''Bestehen vor dem Publikum'''. Die Lieder des Minnesangs waren dezidiert für den gesungenen Vortrag verfasst und zumeist mit multiinstrumentaler musikalischer Begleitung verstärkt. In dieser konkreten Aufführungssituation ergaben sich Spielräume für Interaktionen zwischen Sänger und Zuhörern, wie bspw. explizite Publikumsanreden, die, in den Texten fiktional angelegt, im Vortrag zur wirklichen Situation wurden (siehe z. B. [[Saget mit ieman, waz ist minne?" (Walther von der Vogelweide, 44)]]. So ist es wichtig für das heutige Verständnis dieser Texte auch die intendierte Publikumswirkung des Sängers vor Augen zu haben. Im Dienste der Spannung und Dynamik des Vortrags weist die mittelalterliche Lyrik so bspw. oftmals plötzliche und scheinbar unerklärliche Stimmungsbrüche auf, die erst im Kontext einer Aufführung ihre volle Wirkung entfalten <ref>vgl. C. Heller: ''vil süeziu senftiu toeterinne. Zum Minne- und Minnesangkonzept Heinrichs von Morungen''. Hrsg. v. H. P. Neureuter. Regensburg 1998, S. 10ff.</ref>. | ||
===Sangspruchdichtung=== | ===Sangspruchdichtung=== | ||
Die '''Sangspruchdichtung''' umfasst im Allgemeinen den Teil der mittelhochdeutschen Lyrik, der sich im Gegensatz zum Minnesang in stark didaktischer Ausrichtung vor allem politischen, moralischen und religiösen Themen widmete und ausschließlich von '''professionellen Dichtern und Sängern''' verfasst und vorgetragen wurde. Diese fuhren mit ihrer Kunst von Hof zu Hof und fanden ihr Publikum vornehmlich unter laikalen Adligen und Geistlichen. Durch ihr Dasein als „Fahrende“ standen sie diesen gegenüber in großer Abhängigkeit, weswegen Auftragswerken und Gönnerschaften eine große Bedeutung zukam. Allerdings muss auch dieses Rollenbild hinterfragt werden, da als einzige Quelle die Texte selbst dienen, und daher im Sinne der Sangspruchdichtung als '''Rollenlyrik''' von einer Selbstinszenierung der Dichter und Sänger ausgegangen werden muss. Über ihren tatsächlichen sozialen Status oder autobiographische Details ist hingegen wenig bis nichts bekannt. Wichtige Vertreter waren z.B. Walther von der Vogelweide und Heinrich von Meißen (Künstlername: "Frauenlob"). Charakteristisch für die Sangspruchdichtung ist darüber hinaus die '''Liedform''', bestehend aus mehreren Strophen der gleichen musikalischen und metrischen Bauform, welche ''[[Dôn]]'' genannt wird. Eine Einheit aus ''wort'' (Text) und ''wîse'' (Melodie), bildet demnach ein ''liet'' (Einzelstrophe). | Die '''Sangspruchdichtung''' umfasst im Allgemeinen den Teil der mittelhochdeutschen Lyrik, der sich im Gegensatz zum Minnesang in stark didaktischer Ausrichtung vor allem politischen, moralischen und religiösen Themen widmete und ausschließlich von '''professionellen Dichtern und Sängern''' verfasst und vorgetragen wurde. Diese fuhren mit ihrer Kunst von Hof zu Hof und fanden ihr Publikum vornehmlich unter laikalen Adligen und Geistlichen. Durch ihr Dasein als „Fahrende“ standen sie diesen gegenüber in großer Abhängigkeit, weswegen Auftragswerken und Gönnerschaften eine große Bedeutung zukam. Allerdings muss auch dieses Rollenbild hinterfragt werden, da als einzige Quelle die Texte selbst dienen, und daher im Sinne der Sangspruchdichtung als '''Rollenlyrik''' von einer Selbstinszenierung der Dichter und Sänger ausgegangen werden muss. Über ihren tatsächlichen sozialen Status oder autobiographische Details ist hingegen wenig bis nichts bekannt. Wichtige Vertreter waren z. B. Walther von der Vogelweide und Heinrich von Meißen (Künstlername: "Frauenlob"). Charakteristisch für die Sangspruchdichtung ist darüber hinaus die '''Liedform''', bestehend aus mehreren Strophen der gleichen musikalischen und metrischen Bauform, welche ''[[Dôn]]'' genannt wird. Eine Einheit aus ''wort'' (Text) und ''wîse'' (Melodie), bildet demnach ein ''liet'' (Einzelstrophe). | ||
===Heldenepik=== | ===Heldenepik=== | ||
Auch die Vermittlung mittelalterlicher '''Heldenepik''' erfolgte im Wesentlichen in mündlicher Form. Durch ihre meist uneinheitliche schriftliche Überlieferung liegt sie in einem '''Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit'''. So vertritt z.B. die oral-poetry-Forschung die Ansicht, den Sängern habe von der betreffenden Erzählung lediglich ein '''Gerüst aus Formeln und Handlungsschemata''' zur Verfügung gestanden, das bei jedem Vortrag neu ausgeschmückt und gefüllt wurde <ref>vgl. H. Weddige: ''Einführung in die germanistische Mediävistik''. München 2008, S. 224f.</ref>. Vor allem das Nibelungenlied weckte in dieser Hinsicht durch seine ungeklärte Urheberschaft und häufiges Vorkommen phrasenhafter Formeln großes Interesse. Auch wenn diese Ansicht heute größtenteils als überholt gilt, muss von einer starken Abhängigkeit der schriftlichen Überlieferung von der mündlichen ausgegangen werden. | Auch die Vermittlung mittelalterlicher '''Heldenepik''' erfolgte im Wesentlichen in mündlicher Form. Durch ihre meist uneinheitliche schriftliche Überlieferung liegt sie in einem '''Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit'''. So vertritt z. B. die oral-poetry-Forschung die Ansicht, den Sängern habe von der betreffenden Erzählung lediglich ein '''Gerüst aus Formeln und Handlungsschemata''' zur Verfügung gestanden, das bei jedem Vortrag neu ausgeschmückt und gefüllt wurde <ref>vgl. H. Weddige: ''Einführung in die germanistische Mediävistik''. München 2008, S. 224f.</ref>. Vor allem das Nibelungenlied weckte in dieser Hinsicht durch seine ungeklärte Urheberschaft und häufiges Vorkommen phrasenhafter Formeln großes Interesse. Auch wenn diese Ansicht heute größtenteils als überholt gilt, muss von einer starken Abhängigkeit der schriftlichen Überlieferung von der mündlichen ausgegangen werden. | ||
==Weitere performative Aspekte mittelalterlicher Literatur== | ==Weitere performative Aspekte mittelalterlicher Literatur== |
Version vom 31. Dezember 2013, 10:04 Uhr
Die Performativität mittelalterlicher Literatur lässt sich unter mehreren Aspekten der literarischen Performativität betrachten. Als wesentlich ist dabei der Aspekt des mündlichen Vortrags zu nennen, der für die größtenteils analphabetische mittelalterliche Gesellschaft eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Literatur spielte.
Performativität in den verschiedenen literarischen Gattungen des Mittelalters
Minnesang
Unter Minnesang versteht man, in Abgrenzung zur Sangspruchdichtung, vor allem die ritterlich-adlige Liebeslyrik des Mittelhochdeutschen. In der höfischen Kultur des mittelalterlichen Hochadels diente er in streng ritualisierter Form der Unterhaltung (froide) und als Variante des ritterlichen Wettkampfs. Die späte Entstehung handschriftlicher Überlieferungen dieser Gattung legt die Annahme nahe, dass Minnesang primär in mündlicher, d. h. gesungener Form existierte. Minnesänger traten bisweilen als Verfasser, Komponisten und Vortragende in Personalunion auf und besangen vor adligem Publikum eine meist stark idealisierte vrouwe, um aus dem Leiden der unerwiderten Liebe gesellschaftliche Anerkennung zu erwerben. Entscheidend dafür war der geglückte Vortrag, also das Bestehen vor dem Publikum. Die Lieder des Minnesangs waren dezidiert für den gesungenen Vortrag verfasst und zumeist mit multiinstrumentaler musikalischer Begleitung verstärkt. In dieser konkreten Aufführungssituation ergaben sich Spielräume für Interaktionen zwischen Sänger und Zuhörern, wie bspw. explizite Publikumsanreden, die, in den Texten fiktional angelegt, im Vortrag zur wirklichen Situation wurden (siehe z. B. Saget mit ieman, waz ist minne?" (Walther von der Vogelweide, 44). So ist es wichtig für das heutige Verständnis dieser Texte auch die intendierte Publikumswirkung des Sängers vor Augen zu haben. Im Dienste der Spannung und Dynamik des Vortrags weist die mittelalterliche Lyrik so bspw. oftmals plötzliche und scheinbar unerklärliche Stimmungsbrüche auf, die erst im Kontext einer Aufführung ihre volle Wirkung entfalten [1].
Sangspruchdichtung
Die Sangspruchdichtung umfasst im Allgemeinen den Teil der mittelhochdeutschen Lyrik, der sich im Gegensatz zum Minnesang in stark didaktischer Ausrichtung vor allem politischen, moralischen und religiösen Themen widmete und ausschließlich von professionellen Dichtern und Sängern verfasst und vorgetragen wurde. Diese fuhren mit ihrer Kunst von Hof zu Hof und fanden ihr Publikum vornehmlich unter laikalen Adligen und Geistlichen. Durch ihr Dasein als „Fahrende“ standen sie diesen gegenüber in großer Abhängigkeit, weswegen Auftragswerken und Gönnerschaften eine große Bedeutung zukam. Allerdings muss auch dieses Rollenbild hinterfragt werden, da als einzige Quelle die Texte selbst dienen, und daher im Sinne der Sangspruchdichtung als Rollenlyrik von einer Selbstinszenierung der Dichter und Sänger ausgegangen werden muss. Über ihren tatsächlichen sozialen Status oder autobiographische Details ist hingegen wenig bis nichts bekannt. Wichtige Vertreter waren z. B. Walther von der Vogelweide und Heinrich von Meißen (Künstlername: "Frauenlob"). Charakteristisch für die Sangspruchdichtung ist darüber hinaus die Liedform, bestehend aus mehreren Strophen der gleichen musikalischen und metrischen Bauform, welche Dôn genannt wird. Eine Einheit aus wort (Text) und wîse (Melodie), bildet demnach ein liet (Einzelstrophe).
Heldenepik
Auch die Vermittlung mittelalterlicher Heldenepik erfolgte im Wesentlichen in mündlicher Form. Durch ihre meist uneinheitliche schriftliche Überlieferung liegt sie in einem Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. So vertritt z. B. die oral-poetry-Forschung die Ansicht, den Sängern habe von der betreffenden Erzählung lediglich ein Gerüst aus Formeln und Handlungsschemata zur Verfügung gestanden, das bei jedem Vortrag neu ausgeschmückt und gefüllt wurde [2]. Vor allem das Nibelungenlied weckte in dieser Hinsicht durch seine ungeklärte Urheberschaft und häufiges Vorkommen phrasenhafter Formeln großes Interesse. Auch wenn diese Ansicht heute größtenteils als überholt gilt, muss von einer starken Abhängigkeit der schriftlichen Überlieferung von der mündlichen ausgegangen werden.
Weitere performative Aspekte mittelalterlicher Literatur
Im Umgang mit mittelalterlichen Texten als Produkt einer stark mündlich geprägten Epoche, in der Schrift den wenigsten zugänglich war, muss man neben der expliziten Aufführungssituation von weiteren performativen Elementen ausgehen, die dem Textverständnis zugrunde liegen. Auch die umfassende kulturelle Prägung durch das Christentum spielt eine wichtige Rolle. So geht man in der neueren Forschung von einer eben diesbezüglichen Vorstellung aus, wonach Texte in einer allgemeinen Performativität und Vollzugshaftigkeit verstanden werden:
- „In der christlichen Vormoderne ist die performative Kraft der Zeichen von einem theologischen Logos-Konzept imprägniert: dem im Eingang der Genesis entwickelten und im Prolog zum Johannes-Evangelium aufgegriffenen Gedanken, die Welt sei durch die zugleich ursprünglichen und ewigen Schöpfungsworte Gottes hervorgebracht und damit Resultat einer Identität von Sprechen und Handeln.“ [3]
Auch die verschiedenen Zusammenhänge, in die mittelalterliche Texte durch ihre Verschriftlichung in Sammlungen wie z.B. diversen Codices gesetzt werden, führen in ihrer unterschiedlichen Perspektivierung der Texte zu einer performativen Dynamik, die Gegenstand der Forschung wurde. Die im Mittelalter übliche Rahmung der Texte durch Pro- und Epiloge, Anreden eines Zuhörers oder größeren Publikums (z.B. im Nibelungenlied), wodurch eine Erzählsituation suggeriert wird, gehört dazu, wie auch das Nebeneinander und Überlappen von Gegensätzen sowohl thematischer (Weltliches und Geistliches) als auch sprachlicher Art (Volkssprache und Latein). Abseits der großen literarischen Gattungen des Mittelalters finden sich zusätzliche Textsorten mit performativem Charakter. Hervorzuheben sind hier beispielsweise die im 11./12. Jahrhundert äußerst populären sprachmagischen Texte und Zaubersprüche, die im Sinne der Sprechakttheorie auf eine intendierte Wirkung im unmittelbaren Umfeld zielten. Christa M. Haeseli bezeichnet sie daher als „>radikalisierte< Sprechakte“[4].
Nachvollzug aus heutiger Zeit
Ein Nachvollzug der Aufführungssituation mittelhochdeutscher Literatur ist heute kaum noch möglich und nur schwer zu rekonstruieren, da zu vielen Texten und Liedern keine Partituren der zugehörigen Musik vorhanden sind. Text- und Liedersammlungen wie z.B. der Codex Manesse geben jedoch Aufschluss über den Liedcharakter der mittelalterlichen Literatur. In ihnen enthaltene Miniaturen lassen z.B. die Begleitung der Sänger durch Rhythmus-, Streich- und Blasinstrumente erahnen. Doch auch vorhandene Partituren geben kein umfassendes Bild ab, da zumeist nur die Gesangsmelodie überliefert ist, und die Frage nach Rhythmik, Dynamik und Ausgestaltung der Begleitung offen bleibt. Als eines der bedeutendsten Zeugnisse der Sangspruchdichtung gilt der Sängerkrieg auf der Wartburg, eine Sammlung mittelhochdeutscher Gedichte dieser Gattung aus dem 13. Jahrhundert. In Form eines fiktiven Dichterwettstreits, bei dem vorhandene Texte einer Vielzahl berühmter Dichter und Sänger in den Mund gelegt wurden, gibt der Sängerkrieg einen umfassenden Eindruck, wie Inszenierung und Verbreitung der mittelalterlichen Literatur aussahen.
Einzelnachweise
- ↑ vgl. C. Heller: vil süeziu senftiu toeterinne. Zum Minne- und Minnesangkonzept Heinrichs von Morungen. Hrsg. v. H. P. Neureuter. Regensburg 1998, S. 10ff.
- ↑ vgl. H. Weddige: Einführung in die germanistische Mediävistik. München 2008, S. 224f.
- ↑ C. Herberichs/C.Kiening: „Einleitung“. In: Literarische Performativität. Hrsg. v. C. Herberichs/C.Kiening. Zürich 2008. S. 17.
- ↑ Christa M. Haeseli: “Sprachmagische Texte (11./12. Jahrhundert)“. In: Literarische Performativität. Hrsg. v. C. Herberichs/C.Kiening. Zürich 2008. S. 63.
Siehe auch
Mittelalterliche Auftragsliteratur
Rolleninszenierung bei Walther von der Vogelweide (nach Bennewitz / Grafetstätter)