Wolfram, Kyot, frou âventiure — Zum Ursprung der Geschichte in Wolframs Parzival: Unterschied zwischen den Versionen

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| hie wellnt ein ander vâren<br />die mit kiusche lember wâren<br />und lewen an der vrechheit.<br />ôwê, sît d'erde was sô breit,<br />daz si ein ander niht vermiten,<br />die dâ umb unschulde striten!<br />'''ich sorge des den ich hân brâht,'''<br />'''wan daz ich trôstes hân gedâht,'''<br />'''in süle des grâles kraft ernern.'''<br />'''in sol ouch diu minne wern.'''<ref>Anm.: Herv. [[Benutzer: Nico_Kunkel]].</ref>
| hie wellnt ein ander vâren<br />die mit kiusche lember wâren<br />und lewen an der vrechheit.<br />ôwê, sît d'erde was sô breit,<br />daz si ein ander niht vermiten,<br />die dâ umb unschulde striten!<br />'''ich sorge des den ich hân brâht,'''<br />'''wan daz ich trôstes hân gedâht,'''<br />'''in süle des grâles kraft ernern.'''<br />'''in sol ouch diu minne wern.'''<ref>Anm.: Herv. [[Benutzer: Nico_Kunkel|NK]].</ref>
| Hier wollen zwei einander an die Kehlen, die so keusch wie Lämmer waren und doch auch wahren Löwen an Wildheit. Ach, ist die Welt nicht weit genug, daß sie aneinander vorbeireiten konnten, die da stritten, obwohl doch keiner dem andern etwas schuldig war? Fürchten müßte ich um ihn, den ich in den Ring geschickt habe, hätte ich nicht auch dafür gesorgt, daß er nicht ohne Hoffnung bleiben muß: mag sein, daß in die Kraft des Grâls errettet, und auch die Liebe wird für ihn kämpfen.
| Hier wollen zwei einander an die Kehlen, die so keusch wie Lämmer waren und doch auch wahren Löwen an Wildheit. Ach, ist die Welt nicht weit genug, daß sie aneinander vorbeireiten konnten, die da stritten, obwohl doch keiner dem andern etwas schuldig war? Fürchten müßte ich um ihn, den ich in den Ring geschickt habe, hätte ich nicht auch dafür gesorgt, daß er nicht ohne Hoffnung bleiben muß: mag sein, daß in die Kraft des Grâls errettet, und auch die Liebe wird für ihn kämpfen.
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Version vom 21. Juni 2015, 01:19 Uhr

Der Erzähler in Wolframs von Eschenbach Parzival entwickelt im Verlauf der Erzählung ein kompliziertes und scheinbar widersprüchliches Spiel von Verweisen auf frühere Erzählungen der Gralsgeschichte und des Parzival-Stoffs. Er konstruiert eine Quellengeschichte, erwähnt den Perceval Chrétiens de Troyes, kommuniziert mit frou âventiure und verweist mitunter strategisch auf Kyôt, von dem er das Wissen um die Geschichte[1] erhalten haben will. Der vorliegende Artikel überführt diese unübersichtliche Vernetzung von Quellen in eine Systematik, die es erlaubt, in der Konstruktion von Geschichtsursprüngen im Parzival[2] eine Erzählstrategie zu erkennen. Entscheidend ist dabei die Fokussierung auf die Entstehung der Erzählung, wie sie innerhalb des Parzival — d.h. innerliterarisch und extradiegetisch — präsentiert wird. Die Einbeziehung der tatsächlichen Entstehungsgeschichte[3] sowie ein Vergleich mit Chrétiens Perceval bleiben zu diesem Zweck aus.


Quellensystematik im Parzival

Überblick: die verschiedenen Quellen

Abb. 1: Quellensystematik in Wolframs Parzival

Der Erzähler will, so erklärt er im Prolog, ein mære […] niuwen (4,9)[4]. Bereits an dieser Stelle, noch bevor Figuren eingeführt oder Handlungen erzählt worden sind, markiert der Erzähler, dass es sein Anliegen ist, eine bereits vorliegende Geschichte zu erneuern. Doch erst rund 12.000 Verse später, im VIII. Buch — Gawân befindet sich hier gerade in Schanfanzun —, nennt er Kyôt, ein Provenzâl/ der disiu âventiur von Parzivâl/ heidenisch geschriben sach. (416,25ff.) Als weitere Quellen werden Flegetânîs — ein Heide, der den Namen des Grals und dessen Geschichte in den Sternen gelesen habe (vgl. 454,17-30) — sowie frou âventiure, die zu Beginn des IX. Buches unvermittelt auftritt, klopft und um Einlass in das Herz des Erzählers bittet (vgl. 433,1ff.), angeführt. Als letzte Erzählung vom Gral und Parzival wird am Ende des XVI. Buchs, in den letzten Versen der Erzählung, meister Cristjân — also, dieser Schritt liegt nahe, Chrétien de Troyes — genannt. Er habe disem mære […] unreht getân (827,2), was Kyôt, der uns diu rehten mære enbôt (827,4), verärgerte.

Eine geraffte Darstellung der Quellengeschichte findet sich bei Sandra Linden:

„Am Anfang der Gralswundererzählungen steht die Sternenschrift, die in den sieben Versen Transkription durch Flegetanis (454,24ff.) nicht ihren tieferen Sinn freigibt. Dann wird diese Schrift durch Kyot mit aufwendigen philologischen Mitteln wie dem Vergleich mit historischen Chroniken (455,1ff.) und zum Teil magischen Fremdsprachenkenntnissen (453,15ff.) geborgen, aber in eine mündliche Erzählung transferiert und an die Autorfigur Wolfram weitergegeben."[Linden 2014: S. 380]

Ausgehend von dieser Systematik, die, wie im Rahmen dieses Artikels gezeigt werden soll, durch Paradoxien infrage gestellt wird, lässt sich grob eine dreigliedrige Hierarchie — Flegetânîs und Kyôt, Wolfram und Chrétien, frôu âventiure — formulieren.

Flegetânîs und Kyôt

Mit Flegetânîs und Kyôt hat sich die Wolfram-Forschung intensiv auseinander gesetzt. Während es älteren Arbeiten häufig ein Anliegen war, historische Entsprechungen für die beiden Figuren zu finden und so die Authentizität der Quellen zu bestätigen[5], gehen jüngere Studien eher von einer Unentscheidbarkeit im Sinne einer vom Erzähler (bewusst) inszenierten Ambiguität aus (vgl. [Linden 2014: S. 380]) und/oder nehmen die mit diesem Problem einhergehenden Prämissen in den Blick (vgl. [Bauschke 2014: S. 113f.]). Aufgrund der Fülle an Publikationen, die sich dieser Fragen unter dem Stichwort des Kyot-Problems angenommen haben, sei an dieser Stelle lediglich auf Carl Lofmarks Skizze der Kyôt-Figur verwiesen:

„Kyot ist ein Provenzale; er hieß laschantiure […] und unterhielt ein Publikum mit Singen und Erzählen. Er hat die Geschichte Parzivals heidnisch gelesen und französisch erzählt (416,20 ff.).
Dieser bekannte Gelehrte hat in Dôlet (wohl Toledo) ein Buch in heidnischer (arabischer) Schrift entdeckt. Er hatte jene Schrift früher gelernt; âne […] schwarze Kunst. Erst er als Christ konnte dieses Buch verstehen, da das Wesen und die Geheimnisse des Grals heidnischer Wissenschaft unzugänglich sind. Das Buch war das Werk eines fisiôn Flegetanis, der mütterlicherseits von Salomon abstammte, aber von Vaters Seite ein Heide war […]. Flegetanis kannte alle Bewegungen der Himmelskörper und las in den Sternen, daß es ein Ding gebe, das der 'Gral' heißt und durch eine schar, deren Unschuld sie über die Sterne hoch gezogen haben kann, auf der Erde zurückgelassen wurde und später von Getauften (Christen) gepflegt wurde, die besonders würdig und zu diesem Dienst auserkoren sind. Kyot suchte nach der wahren Geschichte dieser neueren Gralshüter in lateinischen Schriften, bis er sie nach Lektüre der Landeschroniken in Britannien, Frankreich und Irland schließlich in Anschouwe fand. Hier las er von Mazadan und seinem ganzen Geschlecht und dazu, wie der Gral über Titurel und Frimutel auf Anfortas übertragen wurde. (453,5 ff.)." [Lofmark 1977: S. 34f.]

Flegetânîs ist demnach der erste (dem Erzähler bekannte) Rezipient der Gralsgeschichte, die er in sieben Versen niederschreibt:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
454,24-30 'ein schar in ûf der erden liez:
diu fuor ûf über die sterne hôch.
op die ir unschult wider zôch,
sît muoz sîn pflegn getouftiu fruht
mit alsô kiuschlîcher zuht:
diu menscheit ist immer wert,
der zuo dem grâle wirt gegert.'
„Eine Schar von Wesen hatte ihn zurückgelassen auf der Erde, als sie hinauffuhren, ganz hoch, über die Sphäre der Sterne hinaus. War es ihre Unschuld, die sie heimzog? Wie auch immer, es müssen ihn seitdem getaufte Menschenkinder hüten, in Keuschheit und mit reinen Sitten. Es sind also immer ganz besonders edle Menschen, die zum Grâl bestellt sind."

Diese Geschichte, die weder die verschiedenen Mitglieder der Gralsfamilie, noch den Parzival-Stoff enthält, wird von Kyôt mithilfe von Informationen aus Chroniken ergänzt (vgl. 455,2ff.) und zur Grundlage für die Erzählungen von Wolfram und Chrétien.

Wolfram (Erzähler) und Chrétien

Die Kyôt-Quelle wird in Wolframs Parzival als Hauptquelle angeführt. Der Erzähler behauptet, dass nicht nur sein Wissen um die Parzival-Geschichte dieser Quelle entstamme, sondern dass Kyôt ihm sogar mitgeteilt habe, wie die Geschichte zu erzählen sei:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
453,1-10 Swer mich dervon [diu verholnen mære umben grâl] ê frâgte
unt drumbe mit mir bâgte,
ob ichs im niht sagte,
umprîs der dran bejagte.
mich batez helen Kyôt,
wand im diu âventiure gebôt
daz es immer man gedæchte,
ê ez d'âventiure bræhte
mit worten an der mære gruoz
daz man dervon doch sprechen muoz.
Wenn mich vorher einer danach [nach den Geheimnissen des Grals, N.K.] gefragt oder gar mit mir geschimpft hätte, weil ich's nicht erzählen wollte, so hätte der damit nichts erreicht, worauf er stolz sein könnte. Kyôt hat mich gebeten, es zu verschweigen. Dem wiederum hat die Aventiure eingeschärft, es dürfe nichts davon auch nur angedeutet werden, bis sie, die Aventiure selber, es zur Sprache gebracht hatte, dort nämlich, wo es der Geschichte willkommen wäre; dann aber müsse man sogar davon reden.

Weiterhin erklärt der Erzähler seinem Publikum, dass Kyôt (416,24) und Flegêtânis (435,24) wol bekant (435,10) seien. Dennoch nimmt die Einführung dieser Figuren, die Ausgestaltung ihrer Biographien, in der Erzählung einen großen Raum ein. Vergleicht man dies mit der Erwähnung anderer, historisch belegter, Autoren — etwa Hartmann von Aue (143,20) oder Chrétien de Troyes (827,1) — so erscheint dieser erzählerische Aufwand besonders auffällig. Die Forschung hat dieses Phänomen reflektiert (vgl. [Lofmark 1977: S. 41], [Ulrich 1985: S. 178]) und sieht hierin u.a.[6] — und dieser Interpretation folgt der vorliegende Artikel — ein Fiktionalitätssignal (vgl. [Ulrich 1985: S. 178f.]).

Kyôt ist demnach Wolframs (= Erzähler) Hauptquelle. Über ihn erfährt er vom Parzival-Stoff, den er in seiner Erzählung an ein Publikum weitergibt</ref>Aus dieser Situation der Vermittlung ergibt sich eine Paradoxie, die es noch zu untersuchen gilt (vgl. 2.2.).</ref> Wie nun aber Chrétien zu Kyôt steht, geht aus dem Text nicht eindeutig hervor: Es ist offensichtlich, dass Wolfram beide Erzählungen — Kyôts und Chrétiens — kennt. Weiterhin erfährt das Publikum, dass auch Kyôt Kenntnis von Chrétiens Parzival-Erzählung hat und sich über diese ärgert, da Chrétien dem mære […] unreht getân (827,2) habe[7]. Wer nun aber zuerst erzählt hat — Kyôt oder Chrétien — kann nicht zweifelsfrei geklärt werden. Mindestens zwei Situation sind denkbar: 1) Chrétien hat, ähnlich wie Kyôt, Kenntnis vom Parzival-Stoff gewonnen und diesen, wenn man Wolfram und Kyôt glaubt, nicht angemessen erzählt. Möglich ist aber 2) auch — dies würde eine Zeitgenossenschaft der beiden Erzähler nahelegen —, dass zunächst Kyôts Erzählung vorlag und Chrétien danach — möglicherweise als Reaktion — seine Parzival-Erzählung entwickelt, die dann Kyôt verärgert.

frôu âventiure

Als weitere Wissensinstanz installiert der Erzähler zu Beginn des IX. Buchs frôu âventiure, eine "Personifikation der Erzählung oder auch — ein signifikanter Unterschied! — des Erzählens" ([Linden 2014: S. 369;] vgl. für einen Forschungsüberblick ebd., S. 369f.). Sie tritt unvermittelt auf, bildet so den Übergang von der Gawân zur Parzival-Handlung, und bittet den Erzähler um Einlass in dessen Herzen. Dieser bittet frôu âventiure seinerseits, ihm von Parzival zu berichten, den er zugunsten Gawâns aus dem 'Fokus des Erzählens' verloren hat (vgl. 433,1-434,10)[8]. An dieser Stelle präsentiert sich somit ein Erzähler, der Figuren und Handlung scheinbar aus dem Blick verloren hat und deshalb auf die âventiure angewiesen ist.

Vor dem Hintergrund dieser Begegnung zwischen Erzähler und frôu âventiure ergibt sich für Situationen, in denen der Erzähler auf die âventiure verweist, eine neue Lesart: Verweise auf (laut Erzähler) bereits bekannte[9] Geschichte um den Gral und Parzival können nun, durch die Personifikation der âventiure, zugleich auch auf diese verweisen. Wenn die âventiure sagt (12,2; 95,26; 349,24; 381,30; 400,1; 508,27; ), giht (15,13; 158,12; 314, 8; 638,15; 789,18), kündet (432,2; 565,6; 589,30; 734,10), schwört (58,16) oder Figuren nennet (101,30)[10], so scheint es, als sei der Erzähler unentwegt auf die Hilfe der frôu âventiure angewiesen. Sie teilt sich mit dem Erzähler, darauf hat jüngst Sandra Linden hingewiesen (vgl. [Linden 2014: S. 382]), die Stellung zum Geschehen: Erzähler und âventiure befinden sich außerhalb der Parzival-Erzählung und können von den Figuren nicht wahrgenommen werden. Nicht korrekt ist hingegen Lindens Behauptung, dass der Erzähler "der einzige"[Linden 2014: S. 382] sei, der mit der âventiure interagieren kann: Die bereits zitierte Erklärung des Erzählers aus dem IX. Buch — er behauptet, dass er nicht von den Gralswundern erzählen könne, da Kyôt ihn auf Geheiß der âventiure darum gebeten habe — zeigt, dass auch Kyôt mit der âventiure kommunizieren kann. "Kyot (bzw. die âventiure) wird hier für eine Erzählstrategie verantwortlich gemacht"[Nellmann 1988: S. 65], für "eine (in hohem Maße spannungsfördernde) Erzählform"[Nellmann 1988: S. 66] [11], die es nahelegt, die âventiure insofern als Personifikation der Erzählung, die sich nicht strikt von der Praxis des Erzählens trennen lässt, zu verstehen, als sie in ihrer Funktion als Erzählung (histoire) vom Erzähler (hier: Kyôt und Wolfram) eine bestimmte Form des Erzählens (discours) verlangt, um so — dies ist eine mögliche Lesart von 453,1-10 — Spannung zu erzeugen.

Widersprüche

Angesichts der zuvor rekonstruierten Quellensystematik ergeben sich in Wolframs Parzival Widersprüche, die in der Erzählerrede als (extradiegetische) Rahmenerzählung anzusiedeln sind (Informationsgehalt der Quellen). Darüber hinaus verstrickt sich der Erzähler während der Erzählung des Parzival-Stoffs in Widersprüche (Erzählerstellung: unmittelbar vs. mittelbar).

Informationsgehalt der Quellen

Auf die Ungenauigkeit, mit der der Erzähler über die Inhalte der Quellen spricht, hat die Forschung mit einer Vielzahl an unterschiedlichen Lesarten reagiert. Einen dies untersuchender Überblick formuliert Carl Lofmark:

"Der Inhalt jener Schrift, die Kyot entdeckt hat, wird verschieden aufgefaßt. Manche Forscher meinen, daß sie kaum mehr als den Manen und die Herkunft des Grals enthielt, wie nach 454,21 ff. zu schließen wäre: Flegetanis bietet den Anfang der Geschichte, dirre âventiure gestifte (453,14). Andere sehen sie als die Quelle für alles außer der Familiengeschichte Parzivals, die aus der später in Anjou entdeckten lateinischen Quelle geholt wurde. Es wird oft angenommen, daß die Schrift des Flegetanis eine reine Gralquelle darstelle, die noch nichts von Parzival enthalten könne. Dem widerspricht aber die Angabe 416,25 ff.:
Kyôt ist ein Provenzâl
der dise âventiur von Parzivâl
heidensch geschriben sach.
Kyot hat heidensch, d.h. arabisch, von Parzival gelesen. Auch das lag schon bei Flegetanis vor! Was soll er dann aus der anderen, der lateinischen Quelle haben, die ausdrücklich von der Parzivalsippe erzählt hat? Konsequent kann man entweder schließen, daß sie recht wenig zu bieten hatte […], oder daß beide Quellen Kyots die gleiche Geschichte erzählen"[Lofmark 1977: S. 46] (vgl. auch [Ulrich 1985: S. 178]).

Der Erzähler verstrickt sich somit in Widersprüche: Wenn er einerseits behauptet, dass Flegetânîs, dessen Aufzeichnungen Kyôt entdeckt, nur die in sieben Versen mitgeteilte Botschaft (454,24-30) gelesen und transkribiert habe, und andererseits erklärt, dass der Parzival-Stoff bereits in der Quelle, aus der Kyôt seine Informationen schöpfte, vorlag, dann ist es für den Rezipienten unmöglich, den Informationsgehalt der Quellen zweifelsfrei zu rekonstruieren.

Wieder-Erzählen oder Neu erfinden?

Darüber hinaus erscheint der Bericht des Erzählers, genauer: dessen dabei eingenommene Stellung zum Erzählten, vor dem Hintergrund der Überlieferung durch mehrere Quellen in einigen Punkten widersprüchlich: Obwohl ihm die Geschichte aufgrund von früheren Erzählungen bekannt ist und er die Ereignisse somit nicht unmittelbar beobachtet haben kann, erweckt er im XIII. Buch den Eindruck, als könne er sprachlich nicht fassen, was er gerade beobachtet: Wenn Gâwân auf Schastel marveile ein Fest veranstaltet und der Erzähler erklärt, dass er nicht in der Lage sei, all die Speisen zu nennen, die dort aufgetragen werden, evoziert dieses Eingeständnis — das Wissen um die eigene (sprachliche) Unzulänglichkeit angesichts der kulinarischen Fülle des Fests— den Eindruck einer unmittelbaren Beobachtung des Geschehens:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
637,1-4 Mîn kunst mir des niht halbes giht,
ine bin solch küchenmeister niht,
daz ich die spîse künne sagn,
diu dâ mit zuht wart für getragn.
Um meine Kunst ist es nun leider nicht so gut bestellt — ein ganz großer Küchenmeister bin ich halt nie gewesen —, daß ich auch nur die Hälfte von den Speisen nennen könnte, die da mit strenger Eleganz aufgetragen wurden.

Diese Aussage des Erzählers, der angibt, den Parzival-Stoff aus 'zweiter (bzw. dritter) Hand' erfahren zu haben, scheint paradox: Wenn die Rede des Erzählers auf Kyôt beziehungsweise dessen Quelle zurückgeht — das heißt, wenn er gewissermaßen nur ein Übersetzer oder Vermittler einer bereits erzählten Erzählung ist —, dann kann er seine Informationen nur aus diesen Quellen beziehen und nur von ihnen ausgehend das Fest beschreiben[12]. Wenn er nun aber, wie im vorliegenden Fall, eine Diskrepanz zwischen beobachteter Fülle und seinem sprachlichen Unvermögen feststellt, so erweckt dies den Eindruck, als habe der Erzähler einen unvermittelten Zugang zur Erzählung, d.h. als könne er die erzählte Welt unmittelbar wahrnehmen.

Weiterhin wird auch das Verhältnis zwischen dem Erzähler und den Figuren der Erzählung zum Gegenstand der Rede:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
534,1-9 Swie gern ich in naeme dan,
doch mac mîn hêr Gâwân
der minn des niht entwenken,
sine welle in freude krenken.
waz hilfet dan mîn undersclac,
swaz ich dâ von gesprechen mac?
wert man sol sich niht minne wern:
wan den muoz minne helfen nern.
Gâwân durch minne arbeit emphienc.
So gern ich ihn auch von da fortnähme, mein Herr Gâwân kommt der Liebe doch nicht aus, da sie ihn nun einmal ärmer machen will an Glück. Was hilft es dann, wenn ich dazwischenhaue? Da könnte ich noch so viel reden: an adeliger Mann darf sich ja doch nicht gegen die Liebe wehren, denn nur die Liebe kann und muß ihm helfen in der Not. — Gâwân hatte viel zu leiden von der Liebe; seine Dame ritt, zu Fuß ging er.

Der Erzähler unterlässt seinen Eingriff nach eigener Aussage nicht aufgrund der Unmöglichkeit einer Interaktion zwischen Erzähler und Figur, sondern weil man sich niht minne wern soll. Er impliziert damit zwar die Möglichkeit einer Metalepse, greift aber nicht in die Diegese ein.

An einer weiteren Stelle in der Erzählerung, unmittelbar vor dem Kampf zwischen Parzival und Feirefiz, übernimmt der Erzähler die Verantwortung für das Schicksal einer Figur:

Mittelhochdeutsch Neuhochdeutsche Übersetzung nach Peter Knecht
737,19-28 hie wellnt ein ander vâren
die mit kiusche lember wâren
und lewen an der vrechheit.
ôwê, sît d'erde was sô breit,
daz si ein ander niht vermiten,
die dâ umb unschulde striten!
ich sorge des den ich hân brâht,
wan daz ich trôstes hân gedâht,
in süle des grâles kraft ernern.
in sol ouch diu minne wern.[13]
Hier wollen zwei einander an die Kehlen, die so keusch wie Lämmer waren und doch auch wahren Löwen an Wildheit. Ach, ist die Welt nicht weit genug, daß sie aneinander vorbeireiten konnten, die da stritten, obwohl doch keiner dem andern etwas schuldig war? Fürchten müßte ich um ihn, den ich in den Ring geschickt habe, hätte ich nicht auch dafür gesorgt, daß er nicht ohne Hoffnung bleiben muß: mag sein, daß in die Kraft des Grâls errettet, und auch die Liebe wird für ihn kämpfen.

Wie kommt es nun aber dazu, dass die Parzival-Figur auf Feirefiz trifft? Ist es dem Plot geschuldet, wie er bereits bei Kyôt vorliegt, oder ist es der Erzähler, der den Weg der Figuren bestimmt?[14] Die Formulierung "den ich hân brâht" (737,25) legt nicht nur eine Emanzipation des Erzählers von früheren Erzählung des Parzival-Stoffs (wie sie innerhalb der Erzählung angeführt werden) nahe, sondern kann darüber hinaus als metafiktionales Signal verstanden werden.

Fazit

Ausgehend von einer Rekonstruktion der verworrenen Quellensystematik und mittels eines ersten Close Readings (das fortzuführen lohnenswert wäre) weist der vorliegende Artikel in Wolframs Parzival die Erzeugung von Widersprüchen und Leerstellen als Erzählstrategie nach. Mit Carl Lofmark gesprochen: "Durch das Prüfen des Textes ist […] unser Bild nur verworrener geworden. Wir hatten auf Schritt und Tritt mit Unklarheit, mit scheinbaren Widersprüchen, mit Zweideutigkeiten und hapax legomena zu tun, und das immer, wo Deutlichkeit am meisten erforderlich wäre"[Lofmark 1977: S. 55].

Die nun spannende Anschlussfrage lautet: Zu welchem Zweck verfolgt der Erzähler diese Strategie? Wenn es ihm um die Autorisierung seiner Erzählung im Sinne einer Quellenfiktion ginge, wieso sollte er dann die Zuverlässigkeit dieser Quellen durch Widersprüchlichkeiten infrage stellen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage liefern jüngere Studien zu Wolframs Parzival, die sich mit dessen Gemachtheit (discours)[15] beschäftigen: Sie zeigen — häufig in Abgrenzung von Chrétiens Perceval —, dass bei Wolfram das Erzählen und die Fiktionalität des Erzählten deutlich in den Vordergrund treten. "Erzählinstanz und Erzählvorgang werden immer wieder thematisch, und die Vermittlungsleistung als solche präsent gehalten"[Bauschke 2014: S. 125]. Die Erzählung ermöglicht somit die "Problemerfahrung im fiktionalen Medium"[Haug 1992: S. 235] und unterstreicht mit den Mitteln der Metafiktion ihre eigene Fiktionalität[16] sowie mittels Metanarration ihre Erzähltheit.

Anmerkungen

  1. Die Begriffe Geschichte und Erzählung erlauben eine Differenzierung zwischen dem Parzival-Stoff (= Geschichte) und den verschiedenen Erzählungen (Wolfram, Kyot, Chrétien), die diesen beinhalten.
  2. Um im Folgenden besser zwischen Wolframs Parzival-Erzählung und der in dieser enthaltenen Parzival-Figur unterscheiden zu können, werden Verweise auf die Erzählung stets kursiviert.
  3. Auch das sog. "Kyot-Problem" wird ausgeklammert. Vgl. dazu u.a. [Bumke 2004: S. 244f.]
  4. Angaben im Folgenden nach [Parzival].
  5. Vgl. die Ausführliche Darstellung in [Lofmark 1977: S. 33ff.].
  6. Vgl. hingegen Lofmark, der ein Informationsgefälle zwischen Erzähler und Publikum als mögliche Ursache anführt:
    "Eindeutig ist die Behauptung, daß Kyot wol bekant ist. Das kann aber zumindest für Wolframs Hörerkreis nicht zutreffen, weil es dann unnötig wäre, ihn mit der Angabe grundsätzlicher biographischer Daten einzuführen. […] Nach 734,1ff. ist die Parzivalgeschichte Kyots noch unbekannt: es heißt dort, man habe bisher beklagt, das Ende der Geschichte nie erfahren zu können, nun trage aber Wolfram das Schloß der Erzählung in seinem Munde. Das Schloß muß folgerichtig Kyot heißen. Daß dessen Bericht noch unbekannt sei, impliziert mindestens, daß er niemals bis zu Wolframs Hörern gedrungen ist, kann aber auch besagen, daß er gar nicht öffentlich vorgetragen wurde". [Lofmark 1977: S. 41f.]
  7. Vgl. hierzu Lofmark:
    "Wolfram polemisiert nicht gegen Chrétien, kritisiert auch nirgends Chrétiens Angaben über Parzival und den Gral. Es heißt nur, daß Chrétien disem mære unreht getan habe. Wie das zu verstehen ist, bleibt unklar. Der betone Gegensantz zum endehaften Erzählen Kyots läßt vermuten, daß hier vor allem das Fragmentarische an Chrétiens Gedicht getadelt wird. Dann wäre diu rehte mære vornehmlich als 'die vollständige Geschichte' zu verstehen" [Lofmark 1977: S. 53f.]. Vgl. hierzu auch [Linden 2014: S. 380].
  8. Vgl. auch [Curschmann 1971: S. 629].
  9. Vgl. sein Ziel, ein mære […] niuwen (4,9) zu wollen.
  10. Auch diese Auflistung ist wahrscheinlich nicht vollständig. Vgl. aber dennoch außerdem 59,4; 112,9f.; 123,14; 210,18 ; 224,1; 224,22; 224,26; 243,25; 271,24; 311,9; 434,10; 589,19.
  11. Vgl. zu diesem analytischen Erzählstil [Baisch 2014: S. 210f.].
  12. Diese Annahme setzt voraus, dass sich der Erzähler an die von ihm selbst gesetzte Vorgabe ich sag als ichz hân vernomn (562,20) hält.
  13. Anm.: Herv. NK.
  14. Vgl. hierzu auch die Übersetzung von Peter Knecht ("Fürchten müßte ich um ihn, den ich in den Ring geschickt habe, hätte ich nicht auch dafür gesorgt, daß er nicht ohne Hoffnung bleiben muß"), wonach Parzival wie eine 'Schachfigur' des Erzählers wirkt.
  15. Vgl. hierzu [Bauschke 2014: S. 116], die erkennt, dass sich gerade ältere Arbeiten auf die histoire konzentrieren, während die "jüngere Forschung […] durchaus sensibilisiert" ist und Fragen nach dem discours aufgreift.
  16. Vgl. auch [Rausch 2000].

Literaturverzeichnis

Textausgabe

[*Parzival]Wolfram von Eschenbach: Parzival. Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Mit einer Einführung zum Text der Lachmannschen Ausgabe und in Probleme der 'Parzival'-Interpretation von Bernd Schirok, 2. Aufl., Berlin/New York 2003.

Sekundärliteratur

<HarvardReferences />

  • [*Baisch 2014]Baisch, Martin: Ästhetisierung und Unverfügbarkeit. Strategien der Inszenierung von Wissen bei Wolfram und Chrétien, in: Susanne Köbele / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 207-250.
  • [*Bauschke 2014]Bauschke, Ricarda: Chrêtien und Wolfram. Erzählerische Selbstfindung zwischen Stoffbewältigung und Narrationskunst, in: Susanne Köbele / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 113-130.
  • [*Bumke 2004]Bumke, Joachim: Wolfram von Eschenbach, 8., völlig neu bearbeitete Aufl., Stuttgart / Weimar 2004.
  • [*Curschmann 1971]Curschmann, Michael: Das Abenteuer des Erzählens. Über den Erzähler in Wolframs 'Parzival', in: DVjs 45 (1971), S. 627-667.
  • [*Haug 1992]Haug, Walter: Literaturtheorie im deutschen Mittelalter. Von den Anfängen bis zum Ende des 13. Jahrhunderts, 2. Aufl., Darmstadt 1992.
  • [*Linden 2014]Linden, Sandra: Frau Aventiure schweigt. Die Funktion der Personifikationen für die erzählerische Emanzipation von der Vorlage in Wolframs 'Parzival', in: Susanne Köbele / Eckart Conrad Lutz / Klaus Ridder (Hrsg.): Wolframs Parzival-Roman im europäischen Kontext, Berlin 2014 (Wolfram-Studien 23), S. 359-388.
  • [*Lofmark 1977]Lofmark, Carl: Zur Interpretation der Kyotstellen im 'Parzival', in: Werner Schröder (Hrsg.): Wolfram-Studien 4, Berlin 1977, S. 33-70.
  • [*Nellmann 1988]Nellmann, Eberhard: Wolfram und Kyot als "vindære wilder mære". Überlegungen zu Tristan 4619-88 und Parzival 453,1-17, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 117 (1988), S. 31-67.
  • [*Rausch 2000]Rausch, Thomas: Die Destruktion der Fiktion. Beobachtungen zu den poetologischen Passagen in Wolframs von Eschenbach Parzival, in: ZfdPh 119 (2000), S. 45-74.
  • [*Ulrich 1985]Ulrich, Ernst: Kyot und Flegetanis in Wolframs Parzival. Fiktionaler Fundbericht und jüdisch-arabischer Kulturhintergrund, in: Wirkendes Wort 35 (1985), S. 176-195.