Der Minne-Diskurs (Reinhart Fuchs): Unterschied zwischen den Versionen

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==Die Brunnenszene==
==Die Brunnenszene==


Die Frau des Reinhart Fuchs tritt nie in Erscheinung, folglich bleibt dem Rezipienten vorenthalten, ob diese existiert. Sie tritt in der Handlung an keiner Stelle persönlich auf, sondern wird nur in wenigen Szenen erwähnt (RV, V. 839; 1754). Beispielsweise fordert der Eber von Reinhart Fuchs eine Strafe vor dem Hoftag: „ich verteile im ere vnde gvt / vnde zv echte sinen lip / vnde zv einer witwen sin wip / vnde ze weisin div kint sin.“ (RV, V. 1752-1755). Die Beziehung zwischen Reinhart Fuchs und seiner Gattin wird lediglich in der Brunnenepisode sichtbar. Hierbei sieht Mecklenburg eine klare Abgrenzung von Ehe und Minne, die durch den literarischen Diskurs konstruiert wird [Mecklenburg 2017: 97]. Die Komik und Satire des Reinhart Fuchses wird durch die Brunnenaventiure unterstrichen. In dieser Szene blickt Reinhart in einen Brunnen und meint, seine Frau zu sehen. Auch Kurt Ruh schreibt dem Reinhart Fuchs „Erkenntnistrübungen“ zu, die von der Minne ausgelöst werden [Ruh 1980:21]. Es bleibt jedoch nicht bei dem bloßen Blick in den Brunnen, Reinhart geht einen Schritt weiter und springt in ihn hinein: „durch starke minne tet er daz / dô wurden im die ôren naz“ (RF, V. 849 f.). Da Reinhart Fuchs durch das bloße Erblicken des Spiegelbildes seiner Frau, welches er im Wasser des Brunnens zu sehen scheint, in den Brunnen springt, wird die „stärkere emotionale Bindung“ [Mecklenburg 2017: 97] zu jener verdeutlicht. Die starke Hoffnung auf die Vereinigung mit seiner Ehefrau entfacht in Reinhart Fuchs eine emotionale Lust, eins mit der Ehefrau zu sein. Durch diese ausgeprägte emotionale Reaktion überwiegen in ihm die tierischen Triebe gegenüber der Vernunft. Diese Situation ähnelt einer emotionalen Überflutung, die dem menschlichen Erfahren von Emotionen gleicht, denn Menschen werden in ihrem Handeln ebenfalls von Emotionen geleitet und gesteuert. Der Vers: „div was ime lieb alsam der lib,“ (RV, V. 840) verweist auf die geteilte Liebe für sich, als auch auf seine Ehefrau. Jedoch gesteht sich Reinhart nicht die vollkommene Liebe für seine Frau ein, die folgenden Verse dienen ihm als Legitimation dieser Ansicht: „wan daz er sih doh niht wollte unthaben, / ern mvoste frivundinne haben, / wande minne git hohen muot; / davon duhte si in guot (RV, V. 841 – 844). Mecklenburg stellt fest, dass der Sprung in den Brunnen „durch den Wunsch nach Nähe zur geliebten Frau“ motiviert ist [Mecklenburg 2017: 98]. Laut Mecklenburg gebe es keine „auf die vorhergehende oder nachfolgende Handlung bezogene Motivation“ [Mecklenburg 2017: 98]. Merkwürdig erscheint, dass Reinhart sich mit sich selbst verbindet, obwohl „die Verbindung mit dem Gegengeschlechtlichen“ zunächst im Vordergrund steht [Mecklenburg 2017: 98]. Diese Vorstellung von der „selbstreferentiellen Inkorporation des Weiblichen“ [Mecklenburg 2017: 98] ist nach Mecklenburg nur dadurch möglich, da die Protagonisten durch Tiere dargestellt werden [Mecklenburg 2017: 98]. Dies würde sonst in einem „Konflikt mit der für das Mittelalter normativen Intersektion von ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹ und so unter einen Homosexualitätsverdacht geraten“ [Mecklenburg 2017: 98]. Reinhart reflektiert sein irrtümliches Handeln jedoch nicht und gibt sich der Situation hin [Mecklenburg 2017: 98]: „in dem bvrnen er lange swam, / vf einen stein er do qvam, / da leit er vf daz hovbet. / swer des niht gelovbet, / der sol drvmme niht geben. / Reinhart wande sin leben / weizgot da versprungen han (RF, V. 851 – 857). Hierbei lässt sich nur erahnen, wie lange Reinhart in dem Brunnen bleibt und woran er in dieser Zeit denkt. Sei es an die Liebe zu seiner Frau oder pragmatisch gesehen, einen Ausweg aus dem Brunnen zu suchen. Um den Gedanken von Mecklenburg zu folgen, wird die Geschlechterdifferenz aufgelöst und lediglich in „der eigenen Imagination“ [Mecklenburg 2017: 98] aufrechterhalten. Zur weiteren Analyse des Reinhart Fuchs wird auf die [[Figurencharakteristik (Reinhart Fuchs) | Figurencharakteristik]] verwiesen.
Die Frau des Reinhart Fuchs tritt nie in Erscheinung, folglich bleibt dem Rezipienten vorenthalten, ob diese existiert. Sie tritt in der Handlung an keiner Stelle persönlich auf, sondern wird nur in wenigen Szenen erwähnt (RV, V. 839; 1754). Beispielsweise fordert der Eber von Reinhart Fuchs eine Strafe vor dem Hoftag: „ich verteile im ere vnde gvt / vnde zv echte sinen lip / vnde zv einer witwen sin wip / vnde ze weisin div kint sin.“ (RV, V. 1752-1755). Die Beziehung zwischen Reinhart Fuchs und seiner Gattin wird lediglich in der Brunnenepisode sichtbar. Hierbei sieht Mecklenburg eine klare Abgrenzung von Ehe und Minne, die durch den literarischen Diskurs konstruiert wird [Mecklenburg 2017: 97]. Die Komik und Satire des Reinhart Fuchses wird durch die Brunnenaventiure unterstrichen. In dieser Szene blickt Reinhart in einen Brunnen und meint, seine Frau zu sehen. Auch Kurt Ruh schreibt dem Reinhart Fuchs „Erkenntnistrübungen“ zu, die von der Minne ausgelöst werden [Ruh 1980:21]. Es bleibt jedoch nicht bei dem bloßen Blick in den Brunnen, Reinhart geht einen Schritt weiter und springt in ihn hinein: „durch starke minne tet er daz / dô wurden im die ôren naz“ (RF, V. 849 f.). Da Reinhart Fuchs durch das bloße Erblicken des Spiegelbildes seiner Frau, welches er im Wasser des Brunnens zu sehen scheint, in den Brunnen springt, wird die „stärkere emotionale Bindung“ [Mecklenburg 2017: 97] zu jener verdeutlicht. Die starke Hoffnung auf die Vereinigung mit seiner Ehefrau entfacht in Reinhart Fuchs eine emotionale Lust, eins mit der Ehefrau zu sein. Durch diese ausgeprägte emotionale Reaktion überwiegen in ihm die tierischen Triebe gegenüber der Vernunft. Diese Situation ähnelt einer emotionalen Überflutung, die dem menschlichen Erfahren von Emotionen gleicht, denn Menschen werden in ihrem Handeln ebenfalls von Emotionen geleitet und gesteuert. Der Vers: „div was ime lieb alsam der lib,“ (RV, V. 840) verweist auf die geteilte Liebe für sich, als auch auf seine Ehefrau. Jedoch gesteht sich Reinhart nicht die vollkommene Liebe für seine Frau ein, die folgenden Verse dienen ihm als Legitimation dieser Ansicht: „wan daz er sih doh niht wollte unthaben, / ern mvoste frivundinne haben, / wande minne git hohen muot; / davon duhte si in guot (RV, V. 841 – 844). Mecklenburg stellt fest, dass der Sprung in den Brunnen „durch den Wunsch nach Nähe zur geliebten Frau“ motiviert ist [Mecklenburg 2017: 98]. Laut Mecklenburg gebe es keine „auf die vorhergehende oder nachfolgende Handlung bezogene Motivation“ [Mecklenburg 2017: 98]. Merkwürdig erscheint, dass Reinhart sich mit sich selbst verbindet, obwohl „die Verbindung mit dem Gegengeschlechtlichen“ zunächst im Vordergrund steht [Mecklenburg 2017: 98]. Diese Vorstellung von der „selbstreferentiellen Inkorporation des Weiblichen“ [Mecklenburg 2017: 98] ist nach Mecklenburg nur dadurch möglich, da die Protagonisten durch Tiere dargestellt werden [Mecklenburg 2017: 98]. Dies würde sonst in einem „Konflikt mit der für das Mittelalter normativen Intersektion von ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹ und so unter einen Homosexualitätsverdacht geraten“ [Mecklenburg 2017: 98]. Kühnel sieht die Brunnenszene jedoch als eine narzisstische Episode, in der Reinhart von seinem eigenen Minnesang eingefangen wird [Vgl. Kühnel 1995: 53]. „The real love of the poet's life is not the absent lady in the poem, but the poem itself and the poet” [Kühnel 1995: 54]. Dieses Zitat verdeutlicht die Liebe von Reinhart Fuchs zum Minnesang, der nicht die abwesende Dame, sondern das Dichten sowie den Dichter selbst in den Mittelpunkt stellt. Gleichzeitig stellt Kühnel fest, dass der Dichter das einzige Objekt ist, welches die Hingabe des Dichters verdient [Kühnel 1995: 54]. Reinhart reflektiert sein irrtümliches Handeln jedoch nicht und gibt sich der Situation hin [Mecklenburg 2017: 98]: „in dem bvrnen er lange swam, / vf einen stein er do qvam, / da leit er vf daz hovbet. / swer des niht gelovbet, / der sol drvmme niht geben. / Reinhart wande sin leben / weizgot da versprungen han (RF, V. 851 – 857). Hierbei lässt sich nur erahnen, wie lange Reinhart in dem Brunnen bleibt und woran er in dieser Zeit denkt. Sei es an die Liebe zu seiner Frau oder pragmatisch gesehen, einen Ausweg aus dem Brunnen zu suchen. Um den Gedanken von Mecklenburg zu folgen, wird die Geschlechterdifferenz aufgelöst und lediglich in „der eigenen Imagination“ [Mecklenburg 2017: 98] aufrechterhalten. Zur weiteren Analyse des Reinhart Fuchs wird auf die [[Figurencharakteristik (Reinhart Fuchs) | Figurencharakteristik]] verwiesen.


==Sozio-kulturelle Kontextualisierung der "Minne"==
==Sozio-kulturelle Kontextualisierung der "Minne"==

Version vom 17. Februar 2021, 18:13 Uhr

Dieser Artikel behandelt den Minne-Diskurs zwischen Reinhart und der Wölfin Hersant, wobei die Repräsentation von Sexualität und deren Polarität zwischen 'höfischem'/'sittlichem' und 'niederem'/'animalischem' Begehren im Vordergrund steht. Dieses Spannungsverhältnis bietet die Grundlage für die im Reinhart Fuchs dargestellte Satire der höfischen Minne des Hochmittelalters als Teil einer christlichen, feudalen Gesellschaftsordnung.

Dieser Artikel stellt den Minne-Diskurs in dem Tierepos Reinhart Fuchs kritisch dar. Hierbei wird auch erweiternd Bezug zur ausgehende Gesellschafts- und Frauenkritik genommen. Weiterhin werden die Männer- und Frauenrollen im deutschen Minnesang beleuchtet.

Die Brunnenszene

Die Frau des Reinhart Fuchs tritt nie in Erscheinung, folglich bleibt dem Rezipienten vorenthalten, ob diese existiert. Sie tritt in der Handlung an keiner Stelle persönlich auf, sondern wird nur in wenigen Szenen erwähnt (RV, V. 839; 1754). Beispielsweise fordert der Eber von Reinhart Fuchs eine Strafe vor dem Hoftag: „ich verteile im ere vnde gvt / vnde zv echte sinen lip / vnde zv einer witwen sin wip / vnde ze weisin div kint sin.“ (RV, V. 1752-1755). Die Beziehung zwischen Reinhart Fuchs und seiner Gattin wird lediglich in der Brunnenepisode sichtbar. Hierbei sieht Mecklenburg eine klare Abgrenzung von Ehe und Minne, die durch den literarischen Diskurs konstruiert wird [Mecklenburg 2017: 97]. Die Komik und Satire des Reinhart Fuchses wird durch die Brunnenaventiure unterstrichen. In dieser Szene blickt Reinhart in einen Brunnen und meint, seine Frau zu sehen. Auch Kurt Ruh schreibt dem Reinhart Fuchs „Erkenntnistrübungen“ zu, die von der Minne ausgelöst werden [Ruh 1980:21]. Es bleibt jedoch nicht bei dem bloßen Blick in den Brunnen, Reinhart geht einen Schritt weiter und springt in ihn hinein: „durch starke minne tet er daz / dô wurden im die ôren naz“ (RF, V. 849 f.). Da Reinhart Fuchs durch das bloße Erblicken des Spiegelbildes seiner Frau, welches er im Wasser des Brunnens zu sehen scheint, in den Brunnen springt, wird die „stärkere emotionale Bindung“ [Mecklenburg 2017: 97] zu jener verdeutlicht. Die starke Hoffnung auf die Vereinigung mit seiner Ehefrau entfacht in Reinhart Fuchs eine emotionale Lust, eins mit der Ehefrau zu sein. Durch diese ausgeprägte emotionale Reaktion überwiegen in ihm die tierischen Triebe gegenüber der Vernunft. Diese Situation ähnelt einer emotionalen Überflutung, die dem menschlichen Erfahren von Emotionen gleicht, denn Menschen werden in ihrem Handeln ebenfalls von Emotionen geleitet und gesteuert. Der Vers: „div was ime lieb alsam der lib,“ (RV, V. 840) verweist auf die geteilte Liebe für sich, als auch auf seine Ehefrau. Jedoch gesteht sich Reinhart nicht die vollkommene Liebe für seine Frau ein, die folgenden Verse dienen ihm als Legitimation dieser Ansicht: „wan daz er sih doh niht wollte unthaben, / ern mvoste frivundinne haben, / wande minne git hohen muot; / davon duhte si in guot (RV, V. 841 – 844). Mecklenburg stellt fest, dass der Sprung in den Brunnen „durch den Wunsch nach Nähe zur geliebten Frau“ motiviert ist [Mecklenburg 2017: 98]. Laut Mecklenburg gebe es keine „auf die vorhergehende oder nachfolgende Handlung bezogene Motivation“ [Mecklenburg 2017: 98]. Merkwürdig erscheint, dass Reinhart sich mit sich selbst verbindet, obwohl „die Verbindung mit dem Gegengeschlechtlichen“ zunächst im Vordergrund steht [Mecklenburg 2017: 98]. Diese Vorstellung von der „selbstreferentiellen Inkorporation des Weiblichen“ [Mecklenburg 2017: 98] ist nach Mecklenburg nur dadurch möglich, da die Protagonisten durch Tiere dargestellt werden [Mecklenburg 2017: 98]. Dies würde sonst in einem „Konflikt mit der für das Mittelalter normativen Intersektion von ›Geschlecht‹ und ›Sexualität‹ und so unter einen Homosexualitätsverdacht geraten“ [Mecklenburg 2017: 98]. Kühnel sieht die Brunnenszene jedoch als eine narzisstische Episode, in der Reinhart von seinem eigenen Minnesang eingefangen wird [Vgl. Kühnel 1995: 53]. „The real love of the poet's life is not the absent lady in the poem, but the poem itself and the poet” [Kühnel 1995: 54]. Dieses Zitat verdeutlicht die Liebe von Reinhart Fuchs zum Minnesang, der nicht die abwesende Dame, sondern das Dichten sowie den Dichter selbst in den Mittelpunkt stellt. Gleichzeitig stellt Kühnel fest, dass der Dichter das einzige Objekt ist, welches die Hingabe des Dichters verdient [Kühnel 1995: 54]. Reinhart reflektiert sein irrtümliches Handeln jedoch nicht und gibt sich der Situation hin [Mecklenburg 2017: 98]: „in dem bvrnen er lange swam, / vf einen stein er do qvam, / da leit er vf daz hovbet. / swer des niht gelovbet, / der sol drvmme niht geben. / Reinhart wande sin leben / weizgot da versprungen han (RF, V. 851 – 857). Hierbei lässt sich nur erahnen, wie lange Reinhart in dem Brunnen bleibt und woran er in dieser Zeit denkt. Sei es an die Liebe zu seiner Frau oder pragmatisch gesehen, einen Ausweg aus dem Brunnen zu suchen. Um den Gedanken von Mecklenburg zu folgen, wird die Geschlechterdifferenz aufgelöst und lediglich in „der eigenen Imagination“ [Mecklenburg 2017: 98] aufrechterhalten. Zur weiteren Analyse des Reinhart Fuchs wird auf die Figurencharakteristik verwiesen.

Sozio-kulturelle Kontextualisierung der "Minne"

Dem zentralen Begriff der Minne kommt im Mittelhochdeutschen eine ganze Bandbreite von Bedeutungen zu. Das Wort "Minne" fand in Verben, in Adjektiven und etlichen substantivischen Komposita seine Anwendung. So konnte man "minnen", konnte "minne-lich" oder gar ein "minne-diep" sein. "Minne" kann die unterschiedlichsten Alternativen einer generellen "Liebe" sein. Das Bedeutungsspektrum reicht von Beschreibungen über Liebes-Werben bis hin zum eigentlichen Liebes-Akt mit allerlei handfesten sexuellen Handlungen. Dieses überaus pluralistische Bedeutungsspektrum hat zur Folge, dass diese Wortfamilie in den unterschiedlichsten Kontexten des alltäglichen Lebens angewandt wurde. Die höfische Minne ist als ritterlich-adelige Liebeslyrik Ausdruck eines meist nicht sexuell konnotierten Wohlwollens eines (ritterlichen) Minnesängers gegenüber einer höfischen, hochgestellten Frau. Weiter gab es aber auch Kontexte, in denen der Werbende explizit um eine Belohnung in Form von sexuellen Handlungen bemüht war. Der Minnesang, zu dem die 'Hohe Minne' gehört, kommt ursprünglich aus Frankreich, entstand ab Mitte des 12. Jahrhunderts und wurde Teil einer europaweiten Hofkultur.

'Die Hohe Minne'

Trotz ausschweifender Verehrung der Dame beklagen die Texte der öffentlichen Vortragskunst in typisierten Mustern ohne subjektiven Ausdruck die Unmöglichkeit einer tatsächlichen sexuellen Vereinigung. Der Ausdruck der Anziehung ist im Rahmen der Vasallität Teil des Dienstes an den Herrschenden und der kulturell fokussierten Triebbeherrschung, die Teil der Codizes der höfischen Klasse waren. Diese dienen, ähnlich der "kultivierten Gewalt", der Kommunikation und Selbstvergewisserung zwischen Gleichgesinnten. [Dietl 2009:42f] Während die Themen Intimität, Liebe und Begehren reflektiert und verhandelt werden, soll die Beharrlichkeit des Sängers nach andauernder Zurückweisung durch die Hofdame dessen Wert steigern (Minneparadox). Die kontinuierliche Arbeit an der Kunst des Werbens galt demnach als Tugend, die den Charakter des Minnesängers formt und auszeichnet.

Der Minne-Diskurs im Tierepos Reinhart Fuchs referiert auf diese Tradition, weicht jedoch mit kritischem Blick von ihr ab. Das zeigt sich auf den Ebenen des Handlungsverlaufs und der Sympathielenkung und wird zudem durch die Tatsache verstärkt, dass es sich bei den Figuren um Tiere handelt. Der Minnedienst des Fuchses an der adeligen Wölfin Hersant ist der Beginn einer weiteren List Reinharts: der Vergewaltigung dieser und der damit einhergehenden Demütigung Isengrins. Damit veranschaulicht der Minne-Diskurs im Reinhart Fuchs beispielhaft die zeitgenössische Ständekritik und Satire der christlich-höfischen Liebes- und Sexualmoral Heinrich des Glîchezâres.

Inhalt der Episode

Reinhart und Ysengrin schließen einen Gesellenbund, der den Plan Reinharts unterstütz, die Wölfin Hersant anzuwerben. Auf der Nahrungssuche erspäht Reinhart einen Bauern, der einen Schinken auf dem Rücken trägt. Der listenreiche Reinhart spielt dem Bauern vor, dass er gelähmt wäre und lockt ihn so von dem Schinken weg, damit ihn Ysengrin stehlen kann. Nachdem Reinhart die Wolfsfamilie wiederfindet, erfährt er, dass Ysengrin den Schinken allein verspeist hat und er als Mittel zum Zweck ausgenutzt wurde.

Die Wolfsfamilie als adelige Familie

Die Lebensformen des mittelalterlichen Adels werden auf die Wolfsfamilie übertragen. Im Text deuten darauf in der Episode der Begegnung des Fuchses mit der Familie (V. 385)[1] folgende Anhaltspunkte:

  • Als Anrede für Isengrin verwendet Reinhart den Titel "herre" (RF V. 389). Dieser unterscheidet sich von den Familienbezeichnungen, mit denen der Fuchs alle vorangegangenen Tiere ansprach. Beispiele hierfür sind etwa "neve" (RF V. 315) für den Kater oder "gevater" (RF V. 178) für die Meise. Auch Hersant spricht Reinhart mit ihrem Adelstitel "vrowen" (RF V. 391) an, der 'hohe Dame' bedeutet und in der Zweitnennung die Ehe zwischen den beiden Wölfen schließen lässt.
  • Reinhart bietet sich als "geselle[]" (RF V. 396) an, er gibt an, der Familie dienen zu wollen. (RF V. 390-393)
  • Nach dem Angebot zieht sich die Wolfsfamilie zurück und bespricht sich. Isengrin lässt sich von seiner Frau, die als Mitregentin ein Entscheidungsrecht hat, beraten. (RF V 402-403)
  • Wie oben bereits erwähnt, markiert der Minnesang (RF V. 409) die höfische Standeszugehörigkeit der Familie.
  • Ein zusätzlicher Hinweis auf den adeligen Stand der Familie ist die Jagd, zu der Isengrin mit seinen Söhnen aufbricht (RF V. 414f.). Sie gilt als privilegierte Freizeitbeschäftigung im Mittelalter, ist im Fall der Wölfe jedoch überlebensnotwendig. (RF V. 443f., mehr zur Mensch-Tier-Grenze siehe unten)


Nach Reinharts vorangegangenen "Fehlaventiuren" [Ruh 1980:18], schließt er mit Isengrin einvernehmlich einen Gesellenvertrag ab und macht sich damit zum Diener und Mitglied der Familie. Der Herr Wolf übergibt ihm feierlich seine Ehefrau und macht sich auf die Jagd. Dabei werden Reinharts schlechte Absichten bereits von der Erzählstimme antizipiert:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
sin wip nam er bi der hant Seine Frau nahm er [Isengrin] an der Hand
vnde bevalch si Reinharte sere und übergab sie feierlich Reinhart
an sine trewe vnde an sine ere. (und) dessen Treuepflicht und dessen Tugend.
Reinhart warb vmb di gevatern sin. Reinhart warb um seine Gevatterin/Freundin.
do hat aber er Ysengrin Nun hatte aber Isengrin
einen vbelen kamerere. einen bösen Kammerdiener.
hi hebent sich vremde mere. Von hier an kamen merkwürdige Geschichten auf.

Reinhart Fuchs, V. 416-422

Reinharts Minnesang

Die Formulierungen aus Reinharts Minne-Diskurs sind vom deutschen Nachdichter des 'Roman de Renard' übernommen [Ruh 1980:15]:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
Reinhart sprach zv der vrowen: Reinhart sagte zu der hohen Dame:
'gevatere, mochtet ir beschowen 'Gevatterin, bitte seht
grozen kvmmer, den ich trage: den großen Kummer, den ich trage:
von eweren minnen, daz ist min clage, Wegen dem Minnedienst an Ihnen, das ist meine Klage,
bin ich harte sere wunt.' leide ich sehr stark.'

Reinhart Fuchs, V. 423-427

Hersants Zurückweisung

Als Reaktion erhält Reinhart von Hersant jedoch eine grobe Zurückweisung, die gegen die Tradition der höfischen Minne verstößt:

Mittelhochdeutsch Übersetzung
'Tv zv, Reinhart, dinen mvnt!' 'Mach zu, Reinhart, deinen Mund!'
sprach er Ysengrinis wip, sprach Isengrins Frau,
'min herre hat so schonen lip, 'Mein Mann hat einen so schönen Körper,
daz ich wol frvndes schal enpern. dass ich bestimmt auf einen Geliebten verzichten kann.

Reinhart Fuchs, V. 416-431


Nach dieser Zurückweisung führt Reinhart seinen Minnesang fort (V.435-449). Nach den Regeln der 'Hohen Minne' beklagt Reinhart die Unmöglichkeit der "minne" (V.448) zwischen ihm und der Wölfin, wobei er auf die Ständeordnung verweist. Als Isengrin von der Jagd zurückkehrt, tut Reinhart so, als wäre nichts geschehen (V. 428-431). Die Erzählinstanz bezeichnet ihn dabei ironisierend als "hobischere" (V. 441). Der Begriff - ursprünglich wertneutral oder positiv verwendet für Männer, die Frauen hofieren - wird im Reinhart Fuchs erstmals negativ konnotiert.[Erlei 2010:353f.]

Die problematische Beziehung zwischen Isengrin und Hersant

Zweifellos muss auch die Beziehung zwischen Isengrin und Hersant näher betrachtet werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Rolle des Reinhart Fuchs in der Beziehung mit untersucht wird. Relativ zu Beginn des Textes, schlägt Reinhart Fuchs dem Wolf Isengrin ein Gemeinschaftsverhältnis vor, welches die Klugheit des Fuchses und die Kraft des Wolfes miteinander vereint (RF, V. 389 - 401). Der Erzähler offenbart bereits wenige Verse später, dass Reinhart die Liebe zur Wölfin Hersant und den Minnedienst an ihr verfolgt (RF, V. 407 – 409). Die Wölfin Hersant wird durch eine „Entscheidungssituation“ in die Gesamtheit des Textes eingeführt [Mecklenburg 2017: 92]: „do giene Isengrim sidt spredten / mit sinem wibe vnde mit sinen svnen zwein“ (RF, V. 402 f.). Hiermit erscheint die Konstellation der Wolfsfamilie auf einer gleichberechtigten Basis zwischen Isengrin, Hersant und den beiden Söhnen zu beruhen. Formal gesehen, wird Reinhart Fuchs zu einem Mitglied der Familie durch den Begriff gevater [Mecklenburg 2017: 93], der im Neuhochdeutschen mit den Begrifflichkeiten, „Gevatter, Nachbar, Freund“ übersetzt wird. Diesem Begriff wird eine Doppeldeutung zugeschrieben, der einerseits die Freundschaft zwischen Reinhart und Isengrin beschreibt sowie die Partnerschaft zwischen Reinhart und den beiden Söhnen [Mecklenburg 2017: 93]. Dadurch dass Reinhart später Hersant als dessen gevateren (RF, V. 1203) bezeichnet, wird „ein Näheverhältnis etabliert“ [Mecklenburg 2017: 93], welches eine „Form des nicht sexuell konnotierten Wohlwollens“ [Mecklenburg 2017: 93] entspricht. Dadurch geht die Nähebeziehung zu Hersant von Isengrin aus und nicht von Reinhart Fuchs, der lediglich eine Art Bündnis zwischen den beiden Männern aufbauen will [Mecklenburg 2017: 93]. Im Bezug auf die Geschlechtsidentität der Wölfin, kann durch ihre „machtbezogene Positionierung im Außenverhältnis eine geschlechtsindifferente Herrschaftsfähigkeit zugesprochen werden“ [Mecklenburg 2017: 93]. Das Konzept des Minnesangs beruht auf den „entscheidenden Zuschreibungen des männlichen Adels von Begehren und Machtausübung“ [Mecklenburg 2017: 94], diese werden im Reinhart Fuchs jedoch in ihr „Gegenteil verkehrt“ [Mecklenburg 2017: 94]. Laut Mecklenburg heißt es, dass "der Werbende […] der Umworbenen freiwillig die Macht zur Annahme oder Ablehnung des nur verbal artikulierten männlichen Begehrens zu[weist] und verzichtet im Falle der Ablehnung sowohl auf die gewaltsame Durchsetzung seines Begehrens als auch auf eine emotionale Abwendung von der Umworbenen" [Mecklenburg 2017: 94]. So wird deutlich, dass Hersant die Werbung von Reinhart nicht ablehnt (RF, V. 424 – 427), weil sie „ihr gesellschaftliches Ansehen verlieren würde“ [Mecklenburg 2017: 94], sondern verweist auf ein „adliges Männlichkeitsideal“ [Mecklenburg 2017: 94], das von körperlicher Überlegenheit markiert ist: „min herre hat so schonen lip, / daz ich wol frvndes schal enpern. / wold aber ich deheines gern, / so werest dv mir doch zv shwach“ (RF, V. 430–433). Das Männlichkeitsideal wird kurz darauf von Isengrin gebrochen, da er ohne Beute von einem Raubzug zurückkehrt. Der Wolf klagt nun zur Verwunderung vor Reinhart und des Rezipienten vor Hersant über die ergebnislose Tat: „mirn wart nie svlcher not kvnt«, / er sprach: »ieglicher hirte hat sinen hvnt“ (RF, V. 447 f.). Die Klage von Isengrin deutet darauf hin, dass er als theoretisch körperlich überlegener Wolf nicht gegen die Hunde ankommt. Diese Möglichkeit nutzt Reinhart nun, um den Schinken von dem Bauern mit vorgetäuschter Schwäche zu erbeuten (RF, V. 460 – 467). In diesem Fall erbeutet Reinhart den Schinken mit List und Verstand und kehrt das Männlichkeitsideal von körperlicher zu geistiger Gewalt um. Jedoch brechen Isengrin und Hersant das „triuwe- Verhältnis“ [Mecklenburg 2017: 95] zwischen ihnen und Reinhart, da sie den erbeuteten Schinken fressen und Reinhart somit leer ausgeht.

Kritik an der christlich-höfischen Sittenordnung

Der Sittenbruch der hohen Dame Hersant

Während Reinhart trotz der groben Zurückweisung Hersants vorerst die Rolle des beharrlichen Minnesängers beibehält und damit als "hobischere" (V. 441) - wenn auch aus List - der christlichen Tradition folgt, bricht Hersant mit ihr.
Obwohl nach den Sittenregeln der Höfischen Minne offensichtlich ist, dass der Geschlechtsakt zwischen den beiden höfischen Figuren angesichts des potentiellen Ehebruchs und der Unterschiede im sozialen Status unzulässig und die Rollendichtung somit keine Abbildung der Wirklichkeit ist, interpretiert Hersant Reinharts Aussagen wörtlich. Interessant ist das an dieser Stelle aufgezeigte Spannungsfeld der christlichen Sitten zwischen Hersants ehelicher Treue und der Minne-Beziehung zum Ritter: Einerseits betont die hohe Dame ihre bedingungslose Loyalität und Liebe zu ihrem Gatten Isengrin (V. 430) und lässt diese zunächst als Grundmotivation ihrer groben Zurückweisung gelten. Andererseits verletzt sie mit ihrem unangemessenen Wortlaut gegen die Tradition der Minne und macht damit einen obszönen, rücksichtslosen und unmanierlichen Eindruck, der ihrem Stand nicht angemessen ist. Damit reduziert sie das Ritual auf das Sexuelle. Die Episode offenbart aber auch, dass sich Hersant selbst nicht nach den christlichen Sitten zu richten scheint, denn sie begründet ihre Zurückweisung nicht mit diesen, sondern mit ihrem eigenen sexuellen Verlangen, was die folgenden Punkte veranschaulichen:

  • Hersant ist auf Körperlichkeiten fixiert. Ihre 'Loyalität' zu Isengrin drückt sie durch ihre Bewunderung für seinen "schonen lip" (V. 430) aus, nicht durch ihre Ehe. Reinhart hingegen weist sie auch nicht mit der Begründung des Ehebruchs zurück, sondern weil er ihr "zu swach" (V. 433) erscheint. Das kann entweder ein erneuter Verweis auf Reinharts körperliche Beschaffenheit, jedoch auch auf seine Persönlichkeit oder seinen niederen Stand sein.
  • In ihrer Zurückweisung lässt Hersant durchscheinen, dass sie sich durchaus die Möglichkeit eines Liebhabers offenlässt. Im Konjunktiv drückt sie aus, dass sie sich durchaus einen Liebhaber aussuchen würde, der attraktiver als Reinhart oder ihm höher gestellt sei.

Bedeutung des Tierseins für die Kritik der christlichen Moral

Die Orientierung Hersants an ihrer Libido setzt sie in Kontrast zu ihrer höfisch-adelig stilisierten Ehe als animalisch-primitiv herab. In dieser Episode lassen sich an Hersants Reaktion die Widersprüchlichkeiten der Trennung zwischen Mensch und Tier ablesen.
Zunächst grenzt das Werk die tierische Gegenwelt des Waldes von der menschlichen, höfischen Umgebung ab. Dennoch wird die Möglichkeit des Transfers auf menschliches Verhalten durch die Beibehaltung des Waldes als Raum für ritterliche aventiuren in Artusromanen und der Übertragung menschlicher Habitus (s. oben) gewahrt.[Dietl 2009:53] Die Kritik der höfisch-christlichen Sexualmoral gilt in diesem Fall den Menschen, die das Tiersein durch die Annahme eines Mensch-Tier-Dualismus ablehnen. Gängige Begründungen dafür sind der christliche Schöpfungsbericht oder die menschliche Fähigkeit zu Kultur, Recht und komplexen Gesellschaftsformen.[Kompatscher-Gufler 2017:32ff.]
Beispielhaft lässt sich Hersants Position im Spannungsverhältnis auf den Menschen übertragen: Zwar beherrscht er mit seiner Kultur seit dem Ackerbau und der Viehzucht das Natürliche und Animalische[Kompatscher-Gufler 2017:32], wird jedoch als Tier auch von seiner Triebhaftigkeit und seiner Libido geleitet, weil die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Lebewesen fließend sind.[Kompatscher-Gufler 2017:44] In der christlichen Kultur wird der zweite Punkt zugunsten des ersten geleugnet.

Moralisches Patt zwischen Reinhart und Hersant

Während der listige Fuchs in den vorangehenden Episoden eindeutig als die einzige amoralisch handelnde Figur gilt, demonstriert das Tierepos nun beginnend mit Hersants Sittenbruch zusätzlich moralisch verwerfliche Handlungen bei den anderen Tieren. Die moralische Beurteilung der Figuren wird verkompliziert, wodurch Heinrich der Glîchezâre den Grundstein für seine Kritik der Moral und Gesellschaftsordnung legt.
Orientiert an der christlichen Gesellschaftsordnung problematisiert der Handlungsverlauf nun die moralische Überlegenheit Hersants über Reinhart. Formal und ausdrücklich wegen seines egoistischen Strebens handelt Reinhart im Rahmen des sozio-anthropologischen Modells der aristotelisch-thomistischen Tugendethik, nach der moralisch gutes Handeln langfristig erfolgreicher sei.[Hübner 2016: 83] Dem Minneparadox als Teil der aristokratisch-höfischen Moral[Hübner 2016: 83] zufolge veredelt Reinharts Beharrlichkeit trotz der erfahrenen Zurückweisung zusätzlich seinen Charakter. Dieses kulturelle Handlungswissen wird in Reinharts Minne-Diskurs mithilfe der Erzählinstanz jedoch subversiv unterlaufen: Trotz der Erfüllung der Formalitäten strebt Reinhart nicht nach einem "dauerhaft gute[m] Leben möglichst vieler Einzelner"[Hübner 2016: 84], sondern nach seinem eigenen Vorteil, was zynisch durch die Erzählstimme angedeutet und durch den weiteren Handlungsverlauf wiederholt bestätigt wird (z.B. durch die Vergewaltigung Hersants). Hierin zeigt sich jedoch die Schlauheit Reinharts: Sie "besteht [...] in der Instrumentalisierung rechts- oder tugendgemäßer Handlungsregeln für nicht rechts- oder tugendgemäße Handlungsziele".[Hübner 2016: 88]

Diese Aussage trifft auch auf Hersant zu. Unter den Einschränkungen des im Hinblick auf die sittlichen Verfehlungen der Minnesang-Konstellation oben Ausgeführten verweist auch sie formal auf die christliche Tugend der ehelichen Treue. Allerdings offenbart die Interpretation ihrer Aussage ebenfalls ihre triebgesteuerten und somit unsittlichen Absichten.[Mecklenburg 2017:94] Im Hinblick auf die im Epos konkurrierenden Handlungsvorgaben bildet diese Szene einen Wendepunkt im Epos. Dieses spitzt sich auf die Erkenntnis zu, dass nicht nur Reinhart, sondern auch sein gesamtes Umfeld heuchlerisch und opportunistisch handeln. Das oben eingeführte, sensible Spiel mit der Mensch-Tier-Grenze verschärft hier die Kritik der Moral: Tiere unterliegen aufgrund ihrer Vernunftlosigkeit voll und ganz ihren Instinkten, der Mensch jedoch ist oft gezwungen, zwischen seinen Trieben und einer gesellschaftlichen Moral zu vermitteln. Bezeichnend für diese Interpretation ist das zeitgenössische Sprichwort, dass der Mensch mehr zu fürchten sei als alle Tiere: homo plus est timendus prae omnibus animalibus.[Hübner 2016:87]
Der Bruch der Sitten und das entstehende Leid wird außerdem im Rückblick auf die Vergewaltigung am Hoftag sogar vom Dachs in einem Minne-Diskurs relativiert, indem dieser betont, dass "svldter dinge vil gesdtiht". (V. 1394) Seine Aussage kann als Verweis auf eine historische Realität gelesen werden, in der tatsächlich sexuelle Verhältnisse zwischen Ritter und Dame eingegangen wurden.

Fazit

Der Minne-Diskurs zwischen Reinhart und Hersant vermittelt im sensiblen Spiel mit der Mensch-Tier-Grenze eine Facette der Gesellschaftskritik, auf die sich das Werk Reinhart Fuchs zuspitzt. Diese soll die Bigotterie der feudalen Gesellschaftsordnung offenbaren, in der die Tugenden, die sie eigentlich legitimieren, nur oberflächlich gelten und während dem Landfrieden nicht einmal vom König beachtet werden.
Das Tierepos Reinhart Fuchs stammt aus der Zeit der allmählichen Überwindung des Minnesangs. Kritische Reflexionen über die Einseitigkeit und restriktive Formalität der Hohen Minne und damit einhergehende satirische Elemente waren im zeitgenössischen Minnesang weit verbreitet. Ziel war eine Gegenüberstellung dieser Liebes- und Sexualmoral mit alternativen, beispielsweise auf Gegenseitigkeit basierenden Liebeskonzepten.[Hummelink 2018:6f.] Der satirische Trick des Autors, im Minnesang das Tier im Menschen hervorzubringen, ermöglicht ihm die Kritik der beschriebenen Liebesordnung als Teil der höfischen Herrschaft und Tugenden: Die kultivierte, gesellschaftliche Ordnung dient als Mittel für das Verdecken von menschlichem, entfesseltem Eigennutz zur Befriedigung 'primitiver' Bedürfnisse wie etwa Sex.[Dietl 2009:54]

"Durch das höfisch-galante Vorspiel, schon als solches parodistisch durch die undamenhafte Replik der mehrfach als edel [...] apostrophierten Partnerin, erhält die Reinhart-Hersant-Minne ein zusätzliches Element literarischer Kritik. Höfische Minne ist, ungeachtet der Theorie hôher minne und nobler Worte, bîligen im Ehebruch." [Ruh 1980:15]

Quellenverzeichnis

<HarvardReferences />

  • [*Dietl 2009] Dietl, C. (2009). Violentia und potestas (pp. 41-54). Walter de Gruyter.
  • [*Erlei 2010] Erlei, S. (2010). " Höfisch" im Mittelhochdeutschen: die Verwendung eines Programmworts der höfischen Kultur in den deutschsprachigen Texten vor 1300 (Vol. 22). Peter Lang.
  • [*Hübner 2016] Hübner, G. (2016). Schläue und Urteil. Handlungswissen im ‚Reinhart Fuchs ‘.
  • [*Hummelink 2018] Hummelink, H. A. B. (2018). Erotik im Minnesang. Der Einfluss des Geschlechts des lyrischen Ichs auf das Provozieren der Erotik.
  • [*Kompatscher-Gufler 2017] Kompatscher-Gufler, G. (2017): Human-animal studies: eine Einfuehrung fuer Studierende und Lehrende. Mensch-Tier-Grenze (pp. 31-48). 2017.
  • [*Mecklenburg 2017] Mecklenburg, Michael: mir ist lait, daz der man min / ane zagel muz wesen (V. 1058f.). Zur Überlagerung von Animalität, Geschlecht und Emotion in Heinrichs Reinhart Fuchs, in: Abenteuerliche ‚Überkreuzungen‘. Vormoderne intersektional, hg. von Susanne Schul, Mareike Böth und Michael Mecklenburg, Aventiuren (12), Göttingen 2017, S. 73-98.
  • [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg, Grundlagen der Germanistik (25), Berlin 1980, S. 13-33.
  • Alle Versangaben des Artikels beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819).