Der Löwe Vrevel (Reinhart Fuchs)
Diese Seite befasst sich anhand von Textbelegen mit der Figur des königlichen Löwen Vrevel im "Reinhart Fuchs". Hierbei werden vor allem die Ameisenepisode sowie die "Heilung" Vrevels durch die Hauptfigur, den Fuchs Reinhart, analysiert und gedeutet. Des Weiteren erfolgt eine Analyse des Löwen als Symbol im Mittelalter und dessen Rolle im Kontext des Tierepos.
Charakterisierung
Nicht zuletzt aufgrund des vom Autor gewählten Namens ‚Vrevel‘ liegt eine ausschließlich negative Deutung der Königsfigur nahe. Wie im Vorhergehenden/nachfolgenden Abschnitt näher erläutert, wirft auch die erste Begegnung des Lesers mit der neuen Figur ein stark negatives Bild auf dessen Charakter. Die dort begangene Untat gegen das Ameisenvolk bestätigt die moderne Deutung seines Namens, wodurch die anfängliche Skepsis des Lesers gegenüber der Figur in eine durchgehend negative Assoziation umschwenkt. Dies war, trotz der abweichenden Bedeutung des Wortes ‚Vrevel‘ im mittelhochdeutschen wohl bereits zur Entstehungszeit der Fall. Denn obwohl die Deutung eine andere war, „[…] bezeichnet [das Wort] durchweg negative Qualitäten: ‚Herrschsucht‘, ‚Frechheit‘, ‚Leichtfertigkeit‘, ‚Rechtsbeugung‘.“ [Ruh 1960:23], ist also in ihrer negativen Konnotation identisch mit der modernen und darüber hinaus in ihrer letzteren Lesart sogar weitaus präziser auf bestimmte Aspekte des Tierepos zugeschnitten.
„Der König deutet die Krankheit als Strafe Gottes für lange Zeit versäumtes Hofgericht.“ [Ruh 1960: 23]
--> Religiös, Mord = Sünde, verrät eigenen Glauben?
„[…] als das Ganze in feudaler Anarchie endet. Dass es zu so einer solchen Katastrophe kommen kann, liegt vor allem an der problematischen Figur des Königs, die äußerst negativ gezeichnet ist. Dies wird bereits deutlich, wenn […] die Ursache für Vrevels Krankheit offenbart und rational begründet wird…“ [Neudeck 2016: 21]
„[…] bricht sich der Egoismus des kranken Herrschers Bahn […]“ [Neudeck 2016: 22]
„Rücksichtsloser Machtgebrauch, bloß äußerliche Rechtlichkeit, bestechliche Gerechtigkeit, königliche Treulosigkeit bestimmen die öffentlichen Verhältnisse im Tierstaat.“ [Neudeck 2016]:22
„[…] die normative Rechtfertigung politischen Handelns durch das Recht [...] erweist sich […] als Oberflächenphänomen angesichts eines defizitären Herrschers, für den die Reichweite des Rechts mit der eigenen Betroffenheit endet.“ [Neudeck 2016:22]
--> Eigenschaften des Tierstaates aus Königsfigur geschlussfolgert, Verfall/Degeneration des Staates durch schlechte Führung
„[…] die Schwachstelle monarchischer Gesellschaft [gerät] in den Blick: die unsichere Eignung des Herrschers im Allgemeinen sowie seine Manipulierbarkeit im Besonderen.“ [Neudeck 2016: 22]
--> Leichtgläubigkeit, offen für Manipulation, leichtes Ziel für Reinhart
Löwe und Ameise
Die Episode, welche den zweiten Teil des Reinhart Fuchs einleitet, beginnt nach der Vergewaltigung Hersants durch Reinhart (nachzulesen im Artikel über Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs) und dem darauf folgenden Streit und der Trennung von Reinhart und Isegrin (Reinhart Fuchs). Der Szene vorangehend erfolgt eine kurze Vorstellung Vrevels als König und Herrscher über das Land, in welchem alle vorangegangenen Episoden stattfanden.
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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einem ameizen hvfen wold er gan, | Er wollte zu einem Ameisenhaufen gehen. |
nv hiez er si alle stille stan | Dort hilt er alle an innezuhalten |
vnde sagte in vremde mere, | und verkündete ihnen die dreiste Botschaft, |
daz er ir herre were.so | dass er nun ihr Herr ist. |
des enwolden si niht volgen, | Dem wollten sie nicht folgen, |
des wart sin mvt erbolgen. | worüber er sehr erzürnt war. |
vor zome er vf die hure sprane, | Zornig sprang er auf ihre Festung |
mit kranken tieren er do rane, | und kämpfte mit den kleinen Tieren, |
in dvchte, daz iz im tete not. | weil er glaubte, daß er dazu verpflichtet sei. |
ir lagen da me danne tvsent tot | Über tausend von ihnen starben, |
vnde vil mange sere wunt, | und viele von ihnen wurden verwundet, |
gnve bleibe ir ovch gesvnt. | doch ein paar von ihnen bleiben unverletzt. |
sinen zorn er vaste ane in rach, | Voller Zorn rächte er sich an ihnen |
die bvrk er an den grvnt brach. | und zerstörte die Festung bis auf die Grundmauern. |
er hatte in geschadet ane maze, | Er hatte ihnen unermessliches Leid zugefügt, |
do hvb er sicg sine straze. | als er sich wieder auf den Weg machte. |
di ameyzen begonden clagen | Die Ameisen klagten |
vnde irn grozen schaden sagen, | und berichteten von dem großen Schaden, |
den si hatten an irem chvnne. | den ihr Volk hatte. |
z [ ] ergangen was ir wunne, | Ihre Freude war vergangen, |
daz waz in ein iemerlicher tae. | das war ein schrecklicher Tag. |
(9819, 1251-1271) [1]
Am Ende der Szene wird verdeutlicht, dass Reinhart, im Gebüsch lauernd, die Geschehnisse als einziger beobachtet hat. Das Wissen um den Hergang der Situation wird prägend für den des Hoftages.
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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do gesach iz Reinhart | Dies sah Reinhart |
der was verborgen da bi. | der unweit im Verborgenen lag. |
Löwe und Reinhart
„Diesen interessiert nur noch Reinhart der Arzt, der nunmehr neue Heilmittel anpreist. Der Angeklagte wird zum Richter und Schinder.“ [Ruh 1960:25]
„Verbrechen wird legalisiert, der Angeklagte zum Richter, die Kläger geschunden, getötet, verspeist.“ [Ruh 1960:27]
„[Reinhart] zerstört auch nachhaltig die politische Ordnung in der Tiergesellschaft, indem er am Ende sogar selbst Hand anlegt und ihre monarchische Spitze beseitigt.“ [Neudeck 2016:22]
„kollektive Katastrophe“ [Neudeck 2016:23]
„Denn unter der Tiermaske wird hier erfolgreiches politisches Handeln im feudalen Herrschaftsgefüge vorgeführt, genauer ein auf den König gerichtetes Handeln, das im Zeichen der Gewalt steht. Dieses Gewalthandeln ist aber nicht nur prekär, blickt man – über den Wolf hinaus- auf die Opfer und Beteiligten, sondern es ist auch prekär und zugleich symptomatisch, wenn dadurch die soziale Ordnung und ihre monarchische Spitze hinterfragt wird.“ [Neudeck 2016:11]
Opfer oder Täter?
Der königliche Löwe Vrevel ist ein zwiegespaltener Charakter, der, ähnlich wie Reinhart, sowohl Opfer- als auch Täterepisoden durchlebt. In seinem ersten Auftritt im Text wird er ganz klar als Täter dargestellt. Der Angriff des Ameisenkönigreichs trotz eines vereinbarten Landfriedens (vgl. V 1247 ff.) und in besonderem Maße die Reaktion des Königs auf die Weigerung des Ameisenvolkes sich ihm zu unterwerfen, die Zerstörung ihrer Festung und die Ermordung vieler Tiere, zeichnen das Bild eines machtsüchtigen und rücksichtslosen Herrschers. Seine körperliche Stärke und Überlegenheit dienen ihm als vorrangiges Mittel zur Machterhaltung und -gewinnung. Die darauffolgende Szene in welcher der König der Ameisen sich an Vrevel für seine Untaten rächen will und dafür in dessen Kopf krabbelt und ihm unerträgliche Schmerzen bereitet, wirkt wie eine angebrachte Reaktion und nachvollziehbare Strafe für die vorhergehenden Verbrechen.
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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mit kraft er im in daz ore spranc. | kraftvoll sprang er ihm in das Ohr. |
dem kvnege daz zv schaden wart; | Dem König sollte das sehr schaden; |
do gesach iz Reinhart, | Dies sah Reinhart, |
der was verborgen da bi. | der unweit im verborgenen lag. |
si iehent, daz er niht wise si, | Zu Recht sagt man, dass derjenige nicht weise ist, |
der sinen vient versmahen wil. | der seinen Feind unterschätzt. |
der lewe gewan do kvmmers vil. | Dem Löwen brachte das viel Kummer. |
zv dem hirne fvr er vf die richte, | Denn er drang in sein Gehirn ein, |
Doch nicht nur der Racheakt an sich, sondern vor allem auch, dass Reinhart diese Szene beobachtet spielt eine Schlüsselrolle im weiteren Schicksal Vrevels‘, welcher nach seiner anfänglichen Untat und dem vermeintlichen Beweis von Stärke zunehmend eine Opferrolle einnimmt und kontinuierlich mehr und mehr Schwächen offenbart. Die durch den Ameisenkönig in seinem Kopf ausgelösten Schmerzen deutet Vrevel als göttliche Strafe dafür, dass er nicht Gericht gehalten hat. Daraufhin veranlasst er einen Hoftag und läutet somit eine neue umfangreiche Episode des „Reinhart Fuchs“ ein. In diesem Hoftag hört der König die Klagen der Opfer Reinharts an und nach der Anhörung Isengrins und seines Fürsprechers Brun wird Reinhart durch das Urteil des Hirsches Randolt zum Tode verurteilt. Bereits hier wird deutlich, dass Vrevel stark von seiner Gefolgschaft abhängig ist. Er fällt das Urteil über Reinharts Strafmaß nicht selbst, sondern gibt diese Aufgabe an einen anderen ab. Gleichzeitig hinterfragt diese Handlung aber auch die vorhergehende Darstellung Vrevels als rücksichtslosen und machtbesessenen Herrscher, da die Übertragung dieser Entscheidung auf einen anderen eine Form von Gewaltenteilung und der Existenz anderer Tiere mit Einfluss im Königreich andeutet.
„Die letzte Untat gilt Vrevel selbst, und wenn sie jemand verdient hat, so er.“ [Ruh 1960: 26]„[…] an dessen Ende – nach dem gewaltsamen Tod des kinderlosen Herrschers - das feudale Herrschaftsgefüge zerfällt.“ [Neudeck 2016:21]
„Doch wenn die Sprache auf Sündenböcke und Opfer kommt, zeigt dies, dass Gewalt zudem ambivalent ist – konstruktiv und destruktiv in einem.“ [Neudeck 2016:10]
Der Löwe als Symbol im Mittelalter
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Ruh 1980]Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs: Eine antihöfische Kontrafaktur, in: Höfische Epik des deutschen Mittelalters, Berlin 1980
- [*Neudeck 2016]Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeihen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexion des politischen in der europäischen Tierepik, München 2016.
Opfer | Täter |
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Befall durch Ameisenkönig (Racheakt) | Angriff auf Ameisenvolk |
Beeinföussung durch Kamel, Elefant und Krimel | Herrschaftsanspruch trotz Landfriedens |
Beeinflussung und Täuschung durch Reinhart | ordnet Ermordung seiner Gefolgsleute an |
Ermordung durch Reinhart | nimmt Leid und Tod anderer im Tausch gegen eigene Gesundheit in Kauf |
- ↑ Alle Versangaben beziehen sich auf Textausgabe ...