Der Sänger von Reuental (Neidhart)
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„Das in den Liedern sprechende, singende und agierende Ich ist besonders wirkungsvoll in Szene gesetzt und gewinnt vor allem mittels widersprüchlicher Positionen, Konfigurationen und Elemente eine spezifische Kontur, wie sie nur bei wenigen Autoren anzutreffen ist.“ [Haufe 2003:101] hält Hendrikje Haufe über die Konzeption des Sänger-Ichs in Neidharts Œuvre fest. Das Sänger-Ich, genannt „Nîthart“ oder „der von Riuwental“, fungiert nicht nur als Sprecher, sondern ist auch ein Teil der erzählten Welt in Neidharts Liedern. Ihm werden bestimmte Rollen in den Texten zugeschrieben, die sich nicht immer decken. Diese „Widerspruchspotenziale“ [Haufe 2003:101] in der Inszenierung der Sänger-Rolle sollen auch Thema dieses Artikels sein. Grundlage dafür bildet das Winterlied 10, ein dörperkonformes Sängerlied, welches Kritik, Beschimpfungen und Androhungen von Gewalt des Sänger-Ichs gegenüber den dörpern und ihrem Verhalten vor dem Hintergrund des Wintereinbruches thematisiert.
Um die Figur des Sängers genauer untersuchen zu können, soll im ersten Teil dieses Artikels ein Überblick über die Konzeption des Sängers in den Neidhart Liedern gegeben werden. Hierbei soll sich zudem mit dem genannten Namen des Sänger-Ichs in den Liedern Neidharts, sowie mit der Abgrenzung zum realen Autor der Lieder auseinandergesetzt werden. Darauf aufbauend wird im zweiten Teil des Artikels das Winterlied 10 näher betrachtet. Zunächst erfolgt eine Übersetzung des mittelhochdeutschen Textes. Dem schließt sich eine formale Analyse des Liedes an. Anschließend sollen folgende Fragestellungen bei der Interpretation von Winterlied 10 beantwortet werden: Wie wird das Sänger-Ich charakterisiert und welche Rollen werden ihm zugeschrieben? Wo gibt es diesbezüglich Widersprüchlichkeiten im Verhalten bzw. Rede des Sänger-Ichs oder in der Darstellung des „hern Nîthart“ durch den dörper? Dazu soll sich besonders mit dem Sänger-Ich in der Rolle des Spötters befasst werden, um das Winterlied 10 auf die Problematik der eigenen Herabsetzung durch das Verspotten anderer prüfen zu können.
Zur Figur des Sänger-Ichs bei Neidhart
Texte der höfischen Literatur, wie die des Minnesangs, werden durch ihre Sprache – Beziehungen der Akteure im Text, Grammatik und Poetik, aufgegriffene Themen und Motive im Text und Sprecherrollen- in einer bestimmten Struktur angeordnet, in welcher jedem Element eine bestimmte Rolle zugewiesen wird. [Müller 1986:409] So werden Regeln und Annahmen der sozialen Ordnung widergegeben, welche nicht mit der realen und historischen Gesellschaftsordnung der Zeit übereinstimmen müssen. Dieses Gebilde kann als höfisch bezeichnet werden, da die Texte ein Modell der höfischen Welt und Ordnung realisieren, welches der historischen Alltagswelt nachfolgt und zum Teil von ihr abhängig, gleichzeitig aber von ihr abgegrenzt ist. [Müller 1986:411] Die Zurückweisung dieser Strukturen in der höfischen Literatur birgt ein utopisches Potenzial. [Müller 1986:412]
In Neidharts Lieder werden ebensolche Strukturen bzw. Sprechweisen aus dem traditionellen Minnesang aufgriffen, indem sie erwähnt oder vorausgesetzt werden. Gleichzeitig werden solche Ordnungen in der dörperlichen Welt zurückgewiesen, indem sie ins Gegenteil versetzt werden (Bsp. Verschiebung von höfischen Akteuren zu den dörpern) oder mit den Regeln dieser höfischen Ordnung gebrochen wird.[Müller 1986:412f.] Diese dörperliche Sprechweise ist im Gegenzug zur höfischen Sprechweise konkretisiert (Bsp. Namen und Standesbezeichnungen [Müller 1986:452] oder Raum [Müller 1986:442] ). Diese beiden Systeme lassen sich durch das jeweils andere interpretieren. Sie überlagern und determinieren sich gegenseitig, sodass diese gegenübergestellten Modelle des Sprechens in ihrer Zuordnung eine gemeinsame Struktur bilden. Der Übergang zwischen ihnen wird durch Redewechsel oder die Pointe als Bruch dargestellt. [Müller 1986:413]
Für die Rolle des Sänger-Ichs [1] bei Neidhart im Vergleich zu klassischen höfischen Texten bedeutet dies konkret:
Im höfischen Modell tritt das Sänger-Ich weniger als Individuum auf, sondern spricht in einem "generalisierende Gestus" [Müller 1986:417] für die Gesellschaft und repräsentiert dabei deren Vorstellungen (an keinen konkreten Ort gebunden). Das Sänger–Ich wird über seine Existenz als Ritter und seinen Bezug zum Hof charakterisiert. Bei der Verschiebung auf das Land in Neidharts Liedern verändert sich die Rolle des Sänger-Ichs. Der generalisierende Sprachgestus wird durch die Art der Besetzung teilweise aufgehoben. Zwar ist das Sänger-Ich auch bei Neidhart als Ritter und damit Teil des Hofes konzipiert, allerdings befindet es sich nicht mehr am Hof unter seinesgleichen (Versammlung), sondern wird als höfischer Ritter isoliert (Vereinzelung) in der dörper-Welt verortet.[Müller 1986:420] Erst durch die Interaktion mit den dörpern kann das Sänger-Ich an ihrer Welt teilhaben und dabei auch eigene Wünsche offenbaren und diese durchsetzen. [Müller 1986:423] Das Sänger-Ich ist daher sowohl Teil der "ortlos-abstrakten Ordnung „bei Hof“"[Müller 1986:424], als auch "der konkret lokalisierten "im Land“". [Müller 1986:424] Das Sänger-Ich hält somit an höfische Benehmen und Normen fest, [Schweikle 1990:82] fügt sich aber gleichzeitig (durch Gewalt, Schimpfen) in die dörper-Welt ein, sodass die Grenzen zwischen der höfischen und dörperlichen Sprechweise verschwimmen. Dadurch können die vorausgesetzten höfische Normen und Verhaltensregeln infrage gestellt werden.[Müller 1986:421f.]
"Nîthart" und "der von Riuwental"
Auch durch die namentliche Benennung wird das ritterliche Sänger-Ich bei Neidhart individualisiert. Innerhalb der Œuvres tauchen zwei Bezeichnungen für die textinterne Sängerfigur auf: „ (her) Nîthart/Neidhart“ (in den Schwanklieder teilweise schon mit spätmhd. Diphthongierung:„Neithart“ ) und „von Riuwental/Reuental“. Welcher der beiden Namen im jeweiligen Lied auftaucht, ist von der Liedgattung abhängig. [Schweikle 1990:51] Das Sänger-Ich wird in 7 von 12 Trutzstrophen [2] [Mertens 2018:48] von den konkurrierenden dörpern als „Nithart bezeichnet (vgl. Winterlied 10 ). Gleichzeitig taucht diese Bezeichnung in einigen Schwankliedern und in späteren Sommerliedern auf.[Schweikle 1990:52] Das Sänger-Ich bezeichnet sich nicht selbst, sondern der Name wird ihm von anderen Figuren zugesprochen (mit Ausnahme der Signatur in C 232) [Mertens 2018:48] Mit der Bezeichnung „der von Riuwental“ wird in den Sommerliedern Neidharts, genauer in den Mutter-Tochter-Gesprächsliedern, auf eine Ritter-Figur referiert. Es ist anzunehmen, dass beide Figurennamen, "Nîthart" und "der von Riuwental", auf ein und dieselbe fiktive Figur verweist, nur aus unterschiedlicher Perspektive: “einmal aus der Perspektive der weiblichen Rollenfiguren, zum andern in der Selbstpräsentation des lyrischen Ichs.“ [Schweikle 1990: 53] Der Name „von Riuwental“ kann eine Herkunftsbezeichnung oder Referenz auf den Wohnort des Sänger-Ichs sein, da Reuental als Ortsname wiederholt im Neidhart´schen Œuvre auftaucht. Die beiden Bezeichnungen kommen allerdings nie zusammen als "Neidhart von Reuental" in einem Lied vor (Ausnahme WL 35).[Schweikle 1990:52]
Beide Namen weisen eine allegorische Lesart auf, welche auf die Charakterzüge des Sänger-Ichs schließen lassen. "Nîthart" ist zum einem als Teufelsname bekannt. [Bennewitz 2018: 37] Wortwörtlich lässt sich das Kompositum aus "nîde" und "hart" als Person verstehen, die voller Hass, Feindseligkeit oder Eifersucht ist. [Lexer 2021b] "Riuwental" kann als "Tal der Reue" [Bennewitz 2018:37], "Jammertal" oder "Sorgental" [Mertens 2018:48] verstanden werden.
Unterscheidung zwischen Sänger-Ich und Autor
Das im Text sprechende, berichtende und agierende Sänger-Ich [Haufe 2003:105] ist vom Dichter Neidhart zu differenzieren, auch wenn Figuren- und Autorenname übereinstimmen. Es ist nicht belegt, ob der Dichter wirklich Neidhart hieß, aber er ist wohl unter diesem Namen bekannt gewesen.[Schweikle 1990:54] Dennoch wird gerade durch die Konzeption des Sänger-Ichs eine “autobiografische Illusion“ [Mertens 2018:46] in Neidharts Liedern erzeugt. Das Sänger-Ich wird innerhalb der von Neidhart erschaffenen geschlossenen, fiktiven Welt biografisch dargestellt. In dieser fiktiven Welt werden, beispielsweise durch namentliche Nennung der dörper, Verwendung von realen Ortsbezeichnungen, und den nicht-höfische Wortschatz, Wirklichkeitsbezüge eingesetzt, welche den Liedern Authentizität verschafft.[Mertens 2018:47] Diese Referenzen steigern die Intensität des Textes. [Mertens 2018:43] Auch politisch-sozialgeschichtliche Anspielungen im Text stellen Verbindungen zur realen Welt her. Dementsprechend gibt es Verse, welche auf die wirklichen Lebensumstände des Autors hindeuten oder von diesen beeinflusst worden sein können. [Schweikle 1990:57] Zudem finden sich autopoetischen Äußerungen des Sänger-Ichs in den Liedern, wodurch wiederum dem Sänger-Ich eine Autor-Rolle (auf Ebene des Textes) zugeschrieben werden kann.[Haufe 2003:104]
Neidharts Winterlied 10 [3]
In Winterlied 10 [4] berichtet das Sänger-Ich in seinem Monolog (I-VI, VIa)[5] von den Geschehnissen in der dörper-Welt und fokussiert sich dabei besonders auf das Treiben des dörpers Gunderam. In diesem Sängerlied [Ruh 1984:123] beschreibt, kritisiert und verspottet das Sänger-Ich dessen arrogantes und gewaltvolles Verhalten (auch den Frauen gegenüber) und bedroht ihn (vgl. I, II, V und VI). Die dörper sind bei Tanz und Musik versammelt und auch das Sänger-Ich ist unter ihnen und nimmt an einem Würfelspiel teil, welches er gewinnt (III und IV). WL 10 ist ein dörperkonformes Lied, da die Sängerfigur nicht im Gegensatz zu den dörpern gezeigt wird, sondern selbst an den beschriebenen Treiben teilnimmt. [Schweikle 1990:82] Durch den Sänger-Wechsel in der Trutzstrophen [Wachinger 1970:99] VIa und VIb, die als Antwort eines dörpers auf den Monolog des Sänger-Ichs der vorherigen Strophen zu verstehen ist, ergibt sich eine Art Streitgespräch [Schulze 2018:114] zwischen den beiden Figuren. Mit dem Einsetzen dieser Trutzstrophen wird vom Autor ein Spiel inszeniert, bei dem der rivalisierenden dörper der Sängerfigur gegenübergestellt wird und seine Position verteidigen kann. Dabei droht die dörper-Figur dem Sänger-Ich ebenso Gewalt an, sofern dieser sein Verspotten nicht bleiben lässt. [Schulze 2018:115f.]
Das Winterlied 10 formt mit den Winterliedern 1-9 einem Sondertypus innerhalb der Winterlieder Neidharts, da beispielsweise die Minneklage in all diesen Liedern entfällt oder aber das Sänger-Ich als Minnewerber größtenteils nicht aktiv ist (und wenn er als Minner auftritt, dann erfolgreich).[Ruh 1984:123]
Übersetzung
Strophe I
Mittelhochdeutsch Übersetzung Dô der liebe summer Als der liebe Sommer ureloup genam, Abschied nahm, dô mouse man der tänze da musste man auf die Tänze ûfm anger gar verphlegen. auf den Wiesen gänzlich verzichten. des gewan sît kummer Das versetzte der herre Gunderam: den Herrn Gunderam seither in Betrübnis: der mouse ouch sîn gestränze Auch er musste seine Prahlerei dô lâzen under wegen. nun bleiben lassen. der ist bickelmeister disen winder: Er ist diesen Winter Aufseher beim Würfelspiel: œder gouch ist in dem lande ninder; Es gibt nirgendwo einen törichteren Narr im Land; sîn rûmegazze kaphet zallen zîten wol hin hinder. sein Schwert "rûmegazze"[6] gafft jederzeit zum Hintern.
Strophe II
Waz er an den meiden Was er an den Mädchen wunders dâ begât, für Wundertaten vollbringt, ê daz mîn vrouwe Schelle ehe meine Herrin Glocke volende ir gebot! ihre Anweisungen durchsetzte! erst vil unbescheiden, Er ist sehr rücksichtslos, wan swelhe er bestât, als er welche herausfordert, diu wirt von slegen helle diese werden von Schlägen bleich und mîdende den spot; und meiden den Spott; dâ von lâzen alle ir smutzemunden, darum sollen alle ihr Schmunzeln lassen, des die jungen niht verheln enkunden! welches die Knaben nicht verbergen konnten! des hât ir hant von solher meisterschefte dicke enphunden. Von derartiger Gewalt hat ihre Hand viel abbekommen.
Strophe III
Immer, sô man vîret, Immer, wenn man feiert, sô hebent sî sich dar dann versammeln sie sich mit einer samenunge, zu einer Menschenmasse, den ich wol schaden gan. der ich gewiss Schaden gönne. Werenbreht der lîret, Werenbreht spielt die Leier, sô sumbert Sigemâr. während Sigemâr die Geige spielt. daz in dâ misselunge, Dass ihnen das missglückt, daz læge et eben an! das wäre nur sinnvoll! daz sich doch vil lîhte mac verrîden: Dass sich das vielleicht ändern mag: wellents ir getelse niht vermîden, Will ihre Zügellosigkeit nicht aufhören, sich mugen zwêne an mîner weibelruoten wol versnîden. sollen sich die zwei wohl an meinem Gerichtsschwert schneiden!
Strophe IV
Kœme ich zeinem tanze, Käme ich zu einem Tanz, dâs alle giengen bî, zu dem sie alle hingingen, dâ wurde ein spil von hende da beginnt ein Spiel mit Händen mit beiden ekken zuo. samt beiden Schwertern. lîhte geviele ein schanze, Vielleicht fällt ein Wurf, daz vor mir lægen drî. sodass vor mir drei liegen. ich hielte ez âne wende, Ich hielt es für sicher, verbüte ez einer vruo. dass es jemand früh vertauscht. sige und sælde hulfen mir gewinnen, Überlegenheit und Glück halfen mir gewinnen, daz si halbe müesen dan entrinnen. sodass sie danach davonlaufen müssen. nu ziehen ûf und lâzen in ir gogelheit zerinnen! Nun erhebt euch und lasst ihren Übermut dahinschwinden!
Strophe V
Sîne weidegenge Seine Jagdausflüge die verewent mich grâ, die lassen mich ergrauen, swenn er verwendeclîchen wann immer er hochmütig vür mîne vrouwen gât. vor meine Herrin tritt. trîbet erz die lenge, Triebe er es auf die Dauer, bestât er danne dâ, verbleibt er doch dabei, man hilft im ûz der kîchen, man helfe ihm aus seinem Keuchen heraus daz er vil riuwic stât. sodass er reuevoll stehen bleibt. er und etelîche sîn geselle, Ihn und viele seiner Freunde, den ich tanzent an ir hant ersnelle, die erwische ich tanzend an ihrer Hand, des sî gewis, ich slahe in, daz sîn offen stât ein elle! das sei gewiss, ich schlage ihn, sodass seine Elle offen steht!
Strophe VI
Im hilft niht sîn treie Ihm hilft weder sein Wams, noch sîn hiubelhout; noch sein Helm; ez wirt im in getrenket: er wird trunken gemacht: er zuhte ir einen bal. Er hat ihr einen Ball entrissen. erst eon tœrscher leie; Er ist ein törichter Dummkopf; sîn tumbelîcher muot seine unbedachter Gesinnung der wirt im dâ bekrenket. wird ihn deshalb verletzten. wil er vür Riuwental Will er beim Reuental hin und her sô vil gewentschelieren, doch eifrig umherstreifen, er wirt wol zezeiset under vieren. er wird wohl von vieren zerzaust. her Werenbreht, waz mag ich des, wirt im der umberieren? Herr Werenbreht, was kann ich dafür, wenn er umherschwankt?
Strophe VIa
Die wîl ich die klingen Solange ich die Klinge um mîne sîten trage, an meiner Seite trage, sô darf mir durch mîn sumber so darf mir niemand durch mein Geflecht niemen stechen nieht. stechen. er muoz vil wîte springen: Er sollte lieber weit weg springen: begrîfe ichn mit dem slage, würde ich ihn mit einem Schlag treffen, ich slahe in, daz er tumber ich schlage ihn, sodass er besinnungslos schouwet nimmer lieht. kein Licht mehr sieht. ich hilf im des lîbes in den aschen ich half ihm freudig in den Schmutz und slah im mit willen eine vlaschen, und gebe ihm mit Vergnügen einen Hieb, daz im die hunt daz hirne ab der erde müezen naschen. sodass ihm die Hunde das Hirn von der Erde lecken können.
Strophe VIb [7]
Her Nîthart hât gesungen, Herr Neidhart hat gesungen, daz ich in hazzen wil sodass ich ihn hassen will durch mînes neven willen, um meines Neffens [8] Willen, des neven er beschalt. dessen Verwandten er beschuldigt hat. lieze ers unbetwungen! Ließe er es ungeschoren! es ist im gar ze vil. Es ist ihm viel zu viel. enpflæge er sîner grillen Kultiviere er seine Grillen und het ouch der gewalt! und dazu die Gewalt! ez ist ein schelten, daz mich freuden letzet. Es ist eine Beleidigung, die mich der Freude beraubt. wirt diu weibelruote mir gewetzet, Wenn mir das Gerichtsschwert geschliffen wurde, ich trenne in ûf, daz man wol einen sezzel in in setzet. dann trenne ich ihn auf, sodass man einen Sessel in ihn setzten kann.
Aufbau und Form
Das „Winterlied 10“ setzt sich aus insgesamt 8 Strophen zusammen, welche jeweils aus 11 Versen bestehen. Davon sind die letzten beiden Strophen VIa und VIb als sogenannte Trutzstrophen zu verstehen, welche im Aufbau mit den Strophen I bis VI übereinstimmen.
Wie für Neidharts Winterlieder typisch, ist der Ton des Winterliedes 10 kanzonenförmig aufgebaut. [Brunner 2018:149]
Dabei bilden die Verse 1 bis 8 der Aufgesang, der sich in zwei Stollen unterteilen lässt (1. Stollen: V. 1-4; 2. Stollen: V. 5-8). Die jeweils letzten drei Verse der einzelnen Strophen bilden den Abgesang und gleichzeitig einen Terzinenstollen.
Die Reime im WL 10 sind durchgehend Endreime. Das Reimschema einer Strophe ist abcdabcdeee. Im Aufgesang liegen daher Kreuzreime vor, während dieses Reimschema im Abgesang durch den Haufenreim ersetzt wird. Es handelt sich immer um reine Reime, wie beispielsweise summer und kummer (vgl. I, V. 1 und V. 5).
Die Hebungen im Aufgesang sind dreihebig. Bsp.: III, V. 1-4
Immer, sô man vîret,
× - × - × -
sô hebent sî sich dar
- × - × - ×
mit einer samenunge,
- × - × - × -
den ich wol schaden gan.
- × - × - ×
Im Abgesang verändert sich die Hebung, sodass in einer Zeile fünf Hebungen vorliegen. Allerdings bildet hier immer der elfte Vers einer Strophe eine Ausnahme, da es sich hier um einen Langvers mit acht Hebungen handelt. Zudem lässt sich festhalten, dass die männlichen und weiblichen Kadenzen abwechselnd auftreten. Der erste Vers einer Strophe endet immer mit einer unbetonten Silbe, also einer weiblichen Kadenz, während der zweite Vers auf einer betonten Silbe, also mit einer männlichen Kadenz, endet. So wechselt der Verschluss der Verse bis einschließlich zu Vers 9, welcher wieder auf einer weiblichen Kadenz endet. In Vers 10 und 11 findet allerdings kein Wechsel mehr statt, sodass im gesamten Abgesang nur weibliche Kadenzen zu finden sind.
Natureingang
WL 10 beginnt wie alle Winterlieder Neidharts (mit Ausnahme WL 4) mit einem Natureingang, der wie bei vielen Winterliedern verkürzt ist: [Ruh 1984:116]
Dô der liebe summer
ureloup genam,
dô mouse man der tänze
ûfm anger gar verphlegen.
(I, V. 1-4)
Auch hier hat das Ende des Sommers eine Veränderung für die Zusammenkünfte und Feierlichkeiten der dörper zu bedeuten: Die Tänze auf den Wiesen können aufgrund des Winters und der Kälte nicht mehr draußen stattfinden und werden in die Stube verlegt. Diese Räumlichkeitsveränderung von draußen nach drinnen, von der Weite in die Enge der Stube, führt zu Konflikten und Gewalt zwischen den Figuren. [Müller 1986: 443] Gerade diese Aspekte prägen auch das Winterlied 10. Zudem hat der Winteranbruch einen Stimmungsumschwung zur Folge und ist mit Leid verbunden. Allerdings bezieht sich dieses Leid im WL 10 nicht auf das Sänger-Ich selbst, sondern das Sänger-Ich stellt einen Bezug zum dörper Gunderam her, welcher unter den sozialen Veränderungen im Winter leidet:[Schweikle 1990:115] "des gewan sît kummer/ der herre Gunderam" (I, V. 5f.)
Rollenzuweisungen in WL 10
Das Sänger-Ich als Spötter
siehe dazu auch: Spott bei Neidhart
Der Begriff „Spott“ bezeichnet das Verhältnis eines Subjekts, in der Rolle des Spötters, zu einem Objekt, in der Rolle des Verspotteten. [Plotke 2010:23] In vielen Winterliedern Neidharts, wie auch hier in Winterlied 10 erfüllt das Sänger-Ich in monologisch-narrativer Darstellung die Rolle des Spötters[9], welcher sich dabei selbst inszeniert, indem er sich über das Spottobjekt lustig macht. [Plotke 2010:30] Gleichzeitig distanziert der Spötter sich vom verspotteten Objekt, indem er die Verschiedenheit des Objektes verdeutlicht und sich damit selbst in eine bessere Position erhebt. Das Sänger-Ich ist dabei eine Art Vermittler, der auf das Spottobjekt und seine Eigenschaften hinweist und dem Publikum vorführt. [Plotke 2010:24] Hierbei muss auf die Aufführungssituation des Minnesangs hingewiesen werden, sowie die damit verbundene Mittelbarkeit. Auch der Spott ist mittelbar realisiert, schließlich wird der Spott nicht nur durch das sprechende Sänger-Ich dargestellt (interne Sprechsituation: Vortrags-oder Handlungsdramatik), sondern das Sänger-Ich wird selbst inszeniert und aufgeführt (externe Sprechsituation: Aufführungssituation)[Plotke 2010:25f.]
Wie bereits erläutert (vgl. Zur Figur des Sänger-Ichs bei Neidhart), ist das Sänger-Ich bei Neidhart in der dörper-Welt verortet. Die Gleichheit der Akteure ist im Raum aufgehoben [Müller 1986:449] und begünstigt (aufgrund der unterschiedlichen sozialen Herkunft und den verschiedenen Verhaltensregeln) den Spott des Sänger-Ichs über seine dörperlichen Rivalen.
In Hinblick auf die interne Sprechsituation in Winterlied 10, nimmt zunächst das Sänger-Ich (der Strophen 1 bis 6) die Rolle des Spötters ein. Er legt sich gleich zu Beginn des Liedes auf sein Spottobjekt, den dörper Gunderam, fest (Strophe I, II, V, VI), später weitet sich sein Spott auf weitere, bzw. alle dörper aus (Strophe III, IV). Beim Spotten werden besonders dessen körperliche Eigenschaften, wie Gestik, Mimik, Kleidung, Haltungen, Makel oder Gewohnheiten des Objekts ins Lächerliche gezogen. Indem der Spötter beim Sprechakt auf diese Eigenschaften hinweist, sie offen darlegt und vorführt, werden diese erst in ihrer Bedeutung hervorgehoben. Dabei präsentiert der Spötter das verspottende Objekt überzeichnet, aber wiedererkennbar. [Plotke 2010:23f.] Auch dies zeigt sich in in Winterlied 10: Gunderam wird vom Sänger-Ich als "œder gouch" (I, V. 10) bezeichnet, der keiner überbieten kann. Die Kleidung des dörpers wird angesprochen und verhöhnt: "Im hilft niht sîn treie,/ noch sîn hiubelhout"(VI, V. 1f.) Egal wie aufwendig Gunderam sich auch kleiden mag, es hilft ihm doch nicht, er bleibt ein "tœrscher leie" (VI, V. 5). Die Erwähnung von Gunderams "kîchen" (V, V. 7) durch das Sänger-Ich kann als Verspotten seines Gebrechens [Plotke 2010:24] verstanden werden. Zudem werden Gunderams Fähigkeiten mit der Personifikation seines Schwertes ebenfalls abgewertet: "sîn rûmegazze kaphet zallen zîten wol hin hinder."(I, V. 11) Gunderam scheint sich mit dem Tragen seines Schwertes nur aufspielen zu wollen. Das ist charakteristisch für das gesamte Lied, da sich das Sänger-Ich durchgehend über das hochmütige und eingebildete Verhalten einiger Dorfbewohner, allen voran Gunderam, lustig macht, bzw. kritisiert. Gunderam wäre wohl gern wie die Adeligen oder wie ein Ritter und möchte ebenfalls imposant auftreten und trägt dazu sein Schwert zu Schau. Doch gerade dadurch, dass er das Schwert nicht richtig halten kann, es nur zu seinem Hintern zeigt (I, V. 11), dies aber offensichtlich selbst nicht einsieht, wird seine bäuerliche Herkunft nur noch mehr zum Vorschein gebracht und bietet dem Sänger Grund zum Spott. Denn gerade das Sänger-Ich, welches als Ritter schließlich weiß wie man ein Schwert hält, betont seine eigenen Fähigkeiten im Umgang mit dem Schwert durch das Aufmerksam machen auf Gunderams falschen Umgang damit hervor. Gerade auch durch den Unterschied zu Gunderams Bauernschwert und dem vom Sänger-Ich geführten Gerichtsschwert ("weibelruoten"(III, V. 11)) wird die Diskrepanz zwischen Sänger-Ich und dörper (in Herkunft und Begabungen) nur noch mehr zum Vorschein gebracht. Das Gerichtsschwert des Sänger-Ichs soll auch zum nächsten Abschnitt führen, in dem das Sänger-Ich in der Rolle als Richter über die dörper und ihr Benehmen dargestellt werden soll.
Das Sänger-Ich als Richter
Das Spottobjekt wird vom Spötter anhand gesellschaftlicher und kultureller Konventionen bewertet und (vor Publikum) verspottet. [Plotke 2010:24] Die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Besonderheiten und Auffälligkeiten an Gunderams Eigenschaften und Äußerlichkeiten, sind nach Auffassung des Sänger-Ichs nicht konform mit solchen Konventionen und werden gerade deshalb von ihm beim Verspotten der dörper hervorgehoben. Folglich nimmt das Sänger-Ich nimmt beim Spotten zunächst die Rolle eines Beobachters und anschließend die Rolle eines Richters ein. Er verspottet sein Gegenüber, indem er die Handlugen der dörper an den gesellschaftlichen Konventionen und Regeln seines ursprünglichen sozialen Umfelds (der Hofes: Sänger-Ich als Repräsentant der höfischen Welt in der dörper-Welt vgl. Zur Figur des Sänger-Ichs bei Neidhart) misst, vergleicht und beurteilt. Alles, was seinem, bzw. dem höfischen Maßstab, der „Norm“, widerspricht, kann gegen das Spottobjekt gewendet werden. Plotke hält dazu fest: “Der Monolog des Sängers wird dann zu einer Art Schiedsspruch, das Sänger-Ich wird zum Redner, der den Spott als Sprechakt vollzieht.“(Plotke 2010: 25) Somit distanziert sich der Sänger-Ich nicht nur von seinem Spottobjekt, er setzt dieses gleichzeigt herab und stellt sich selbst in einer überlegenere und auch verächtlichen [Plotke 2010:23] Position den dörpern gegenüber auf.
Wie bereits angedeutet, wird die Rolle des Richters, die das Sänger-Ichs in WL 10 beim Spotten einnimmt, durch das von ihm genutzte Schwert "weibelruote" symbolisiert, welches er gegen die dörper einsetzt bzw. einsetzen möchte. Der Sänger-Ich nimmt dabei besonders die zwei musizierenden dörper Werenbreht und Sigemâr (III, V. 5f.) ins Visier, die sich unter der beim Tanz/Feier (vgl. III) versammelten und feiernden Menschenmenge ("dörper erscheinen als Haufen"[Müller 1986:450] in Neidharts Liedern) befinden. Der Tanz ist ein wiederkehrendes, bedeutendes Motiv in Neidharts Sommer- und Winterliedern [Schweikle 1990:112] und wird nicht nur in Strophe III, sondern auch in Strophe IV noch einmal erwähnt (IV, V. 1) Das Sänger-Ich droht Werenbreht und Sigemâr an, sein Schwert gegen sie beide zu verwenden: "wellents ir getelse niht vermîden, /sich mugen zwêne an mîner weibelruoten wol versnîden."(III, V. 10f.). Er möchte sie damit für ihre Zügellosigkeit ("getelse" (III, V.10)), die er nach seinem Normempfinden nicht gutheißen kann und kritisiert. Sein Schwert soll sein Urteil über ihr unangemessenes Verhalten ausführen, sofern sie sich nicht zusammenreißen können.
Überdies stört sich das Sänger-Ich an der Betrunkenheit des dörpers Gunderams: "ez wirt im in getrenket"(VI, 3). Das Sänger-Ich wendet sich mit einer rhetorischen Frage noch einmal an den zuvor kritisierten Werenbreht und fragt: "her Werenbreht, waz mag ich des, wirt im der umberieren?" (VI, V. 11). Das Sänger-Ich macht Gunderam selbst für dessen Trunkenheit, sein "umherschwanken" verantwortlich, welches den Verstoß gegen gesellschaftlichen Regeln, Höflichkeiten und Sitten mit sich bringt. Mit seiner Aussage "erst eon tœrscher leie;/sîn tumbelîcher muot/der wirt im dâ bekrenket." (VI, V. 5-7) macht der Sänger-Ich deutlich, dass das Verhalten von Gunderam Folgen mit sich zieht, bzw. mit sich ziehen muss. Die darauffolgende Frage an Werenbreht steigert dies nur noch. Das Sänger-Ich zeigt damit auf, dass Gunderam sein unangebrachtes Verhalten selbst zu verantworten hat und dies auch für Außenstehende offensichtlich sei. Somit ist jeder Spott oder jede Kritik, wie auch jede Bestrafung durch das Sänger-Ich auch aus objektiver Perspektive gerechtfertigt.
Motiv der Gewalt
siehe dazu auch: Gewalt bei Neidhart
Die Gewalt, ebenfalls ein bestimmendes Motiv in Neidharts Œuvre, zieht sich auch durch das gesamte Winterlied 10. Zur Gewalt in Neidharts Liedern hält Schweikle fest: "Neidhart beklagt den Kultur- und Sittenverfall nicht nur am Beispiel der Geschlechterbeziehungen und der Misachtung des Gesanges[...], sondern führt ihn auch durch die Schilderung des form- und normverletzenden Betragens der Dörper vor Augen. In eindringlichen, z. T. anklagenden, aber auch grotesk-übersteigerten, derbkomischen Bildern und Szenen denunziert er dörperliches >Benehmen<.“ [Schweikle 1990:111] Dabei richtet sich in Winterlied 10 die Gewalt des dörpers Gunderam vor allem gegen Frauen (vgl. [Schweikle 1990:111]). In Strophe II klagt das Sänger-Ich über Gunderams Missachten der Anweisungen der Frau (II, V. 1-4), oder das Entreißen eines Balles aus den Händen der Frau in Strophe VI: "er zuhte ir einen bal." (VI, V. 4). Er verhält sich den "meiden"(II, V. 1) handgreiflich gegenüber:
erst vil unbescheiden,
wan swelhe er bestât,
diu wirt von slegen helle
und mîdende den spot;
dâ von lâzen alle ir smutzemunden,
des die jungen niht verheln enkunden!
(II, V. 5-10)
Solch ein Verhallen muss bereits öfter vorgefallen sein: "des hât ir hant von solher meisterschefte dicke enphunden."(II, V. 11). In Strophe V sind es die Gunderams Jagdausflüge, die auf dessen Nachjagen der Frauen übertragen werden kann, welche das Sänger-Ich beklagt: "Sîne weidegenge/die verewent mich grâ,/ swenn er verwendeclîchen/ vür mîne vrouwen gât." (V, V. 1f.) Hyperbolisch macht das Sänger-Ich deutlich, was er von Gunderams hochmütigen Verhalten hält. Der Bruch mit Sittsamkeit ist für das Sänger-Ich solch ein Vergehen, dass ihm schon die Haare grau werden, wenn er Gunderam dabei beobachtet. Dieser Kritik am gewaltvollen und übermütigen Verhalten des dörpers und das damit begleitende Verachten, Wut, Entsetzen, Unglauben des Sänger-Ichs, wird durch dessen Ausrufe hervorgehoben. So enden nicht nur Strophe IV und V mit einem Ausruf, sondern auch innerhalb einiger Strophen finden sich ein solcher (vgl. II, III).
Die vom Sänger-Ich hervorgebrachten Anschuldigungen werden durch die Antwortstrophe VIb bestätigt, weil der dörper bei seinem Monolog selbst Gewalt androht (VIb, V. 11) und damit seine Gewaltbereitschaft nur bestätigt (siehe auch: Perspektivenwechsel: Die Trutzstrophe VIa und VIb).
Das Sänger-Ich als Normbrecher: Verschiebung von Rollenzuweisungen
Das Spotten birgt für den Spötter immer die Gefahr, selbst zum Verspotteten zu werden. Falls der Spötter beim Verspotten selbst mit Konventionen bricht, kann es dazu führen, dass er sich selbst dem Spott preisgibt. [Plotke 2010:34] Durch das Verstoßen gegen die Normen geht die Distanz, welche für das Spottverhältnis von Spötter und Spottobjekt und damit auch dem Erfolg des Spötters maßgeblich ist, [Plotke 2010:24] verloren oder wird nicht konstant aufrecht erhalten. Folglich setzt der Spötter setzt sich selbst herab. Dabei ist auch hier die Gewaltmotivik zentral von Bedeutung: "Die Gewalt zwischen den dörpern und dem Sänger-Ich […] steht im Kontrast zur Welt höfischer Kommunikation und Konvention […]." [Haufe 2003: 117] In Winterlied 10 lassen sich solche Normbrüche von Seiten des Sänger-Ichs ebenfalls ausmachen. In seinem eigenen Monolog bricht er mit den Konventionen und Werten, für die seine Figur eigentlich einsteht und die er aus der überlegeneren Position, die er einnimmt, verteidigt, indem er Regelverletzungen durch den/die dörper verurteilt und herablassend auf ihn/sie herabblickt. Das Sänger-Ich wird ebenfalls zum Täter, indem er die dörper nicht nur verspottet, sondern beleidigt und bedroht. Während er die Gewalt des dörpers Gunderam (vgl. vorheriger Abschnitt: Motiv der Gewalt) verurteilt hat, so droht er zeitgleich selbst den dörpern Gewalt an. Kurzzeitig wendet sich das Sänger-Ich gegen Werenbreht und Sigemâr (vgl. III, V. 10f.), aber voranging ist Gunderam das Zielobjekt seiner Gewaltphantasien: “des sî gewis, ich slahe in, daz sîn offen stât ein elle!" (V, V. 11). Sehr bildlich beschreibt das Sänger-Ich hier seine brutalen Rache- und Gewaltphantasien. Er nimmt Gunderam nicht nur eine herablassende Haltung ein, sondern demonstriert zudem seinen Zorn dem dörper gegenüber. Dieses Textbeispiel untermauert, dass durch das Schimpfen und Bedrohen sprachlich mit Normen [Haufe 2003: 111] gebrochen wird. Besonders im Vergleich zum vom Sänger-Ich beschriebenen Verhalten des dörpers, wie auch zum Monolog des dörpers in der Antwortstrophe VI und VIb, überschneiden sich Sängerfigur und dörper in ihrer Sprech- und Verhaltensweise [Haufe 2003:101](vgl. Perspektivenwechsel: Die Trutzstrophen VIa und VIb). Diese Androhungen von Gewalt entsprechen der Sprechweise der dörper, [Schweikle 1990: 111] von der sich das Sänger-Ich mit dem Verspotten eigentlich distanzieren möchte. Doch durch sein eigenes Verhalten wird seine Autorität untergraben (und die Distanz zwischen Spötter und Spottobjekt wird verringert). Sein Verhalten ist teilweise inkohärent [Haufe 2003:119] und offenbart so die „“Widerspruchspotenziale“ in der Gestaltung der Sänger-Rolle“.[Haufe 2003:101] Aufgrund dessen muss das Publikum die Sängerfigur in jeder Situation neu bewerten und wiederholt über dessen Rolle urteilen.[Müller 1986: 422] Die höfische und die dörperliche Welt treffen so im "höchst labile[n]"[Müller 1986:421] Sänger-Ich zusammen , indem dieser sich zum einem an das Verhalten der dörper anpasst, zum anderen aber immer noch höfische Normen vertritt. Auch Haufe schließt sich dem an und spricht im Bezug der Gewaltandrohungen durch das Sänger-Ich von der "Destabilisierung seiner Identität".[Haufe 2003:116] Die Rollenzuschreibungen an das Sänger-Ich sind dementsprechend nicht auf eine Rolle festgelegt. Seine Figur ist mehrdimensional und wandelbar.[Haufe 2003:104]
Außerdem zeigt sich anhand der folgenden Verse, dass das Sänger-Ich die Rolle des „objektive Arbiter“ [PLotke 23], die er sich selbst beim Spotten zuschreibt, nicht dauerhaft einhalten kann: „er und etelîche sîn geselle, /den ich tanzent an ir hant ersnelle,/ des sî gewis, ich slahe in, daz sîn offen stât ein elle!"(V, V. 9-11). Die hier angedeutete Konkurrenz um die Gunst der Frau (der Konkurrenzkampf wird auch in anderen Liedern ausführlicher dargestellt) kann den Spott des Sänger-Ichs aus dessen persönlichen Wünschen (vgl. [Müller 1986:423]) heraus motivieren. Schließlich tanzen die dörper mit der von ihm umworbenen Frau. Er möchte seine Rivalen zum einen durch Gewalt von der Frau fernhalten (V, V. 11). Zum anderen kann er sie durch das Hervorheben ihrer Untaten und der damit einhergehenden Herabsetzung vielleicht als Konkurrenten loswerden und sich im selben Augenblick selbst in einer bessere Position aufstellen.
Perspektivenwechsel: Die Trutzstrophen VIa und VIb
Die im vorherigen Abschnitt beschriebenen Normverletzungen des Sänger-Ichs in Winterlied 10 werden in den Trutzstrophen nur noch einmal unterstrichen. Die Strophen sind als parodierende Antwort auf den vorangegangen Gesang zu verstehen.[Schulze 2018:115] Durch den Sängerwechsel und damit auch Perspektivenwechsel in diesen Strophen kann ein dörper auf den Monolog des Sänger-Ichs der vorherigen Strophen reagieren. Er setzt zur Gegenwehr an und bekräftigt damit die von der Sängerfigur geäußerte Kritik am dörperlichen Fehlerhaften, welches von Gewalt (hier gerade auch der Sängerfigur) gegenüber, bestimmt ist. Dies wird besonders durch die Strophe VIa noch einmal unterstrichen:
Die wîl ich die klingen
um mîne sîten trage,
sô darf mir durch mîn sumber
niemen stechen nieht.
er muoz vil wîte springen:
begrîfe ichn mit dem slage,
ich slahe in, daz er tumber
schouwet nimmer lieht.
ich hilf im des lîbes in den aschen
und slah im mit willen eine vlaschen,
daz im die hunt daz hirne ab der erde müezen naschen.
(VIa)
Auch hier wird zum einem der bereits besprochene Gewaltaspekt noch einmal anschaulich in Szene gesetzt, zum anderen kann man auch hier wieder eine Parallele zwischen Monolog der Sängerfigur und Monolog der dörper ziehen, die nicht nur in Aufbau der Strophen identisch sind (siehe auch:Aufbau und Form). Wie bereits erwähnt, beinhalten diese beiden Strophenarten (Monolog/Gesang der Sängerfigur und Antwort der dörper) inhaltlich Beschimpfungen und Gewaltandrohungen , welche die Distanz zwischen den Figuren verringert und auf Ähnlichkeiten zwischen ihnen hinweist.
Der dörper spricht die Sängerfigur in Strophe VIb direkt an [10] an: "Her Nîthart hât gesungen, /daz ich in hazzen wil /durch mînes neven willen,/ des neven er beschalt." (VIb, V. 1-4). Dabei lässt sich durch diese Verse annehmen, dass der nun zu Wort kommende dörper (zumindest in Strophe VIb, Sprecher der VIa könnte auch irgendein andere dörper oder Gunderam selbst sein) ein Verwandter Gunderams ist, der sich gegen den Spott und Beschimpfungen letzteren gegenüber wehren möchte. Nicht nur hat das Sänger-Ich seinen Verwandten beleidigt, er fordert seinen Rivalen in einem "aggressiven Appell"[Schulze 2018:113] dazu auf, seine Gewalt zu zähmen (vgl. VIb, V. 7f.). Der dörper identifiziert die Sängerfigur damit als Normbrecher und präsentiert sich und die dörper dadurch selbst als dessen Opfer. Er zeigt nun seine Perspektive und droht dem Sänger zurück:"wirt diu weibelruote mir gewetzet, /ich trenne in ûf, daz man wol einen sezzel in in setzet." (VIb, V.10f.) Interessant ist hierbei, dass die dörper-Figur nun selbst die "weibelruote" nutzt. Er richtet nun über die Sängerfigur, so wie es zuvor getan hat, eignet sich dessen Richtschwert (Schwert eigentlich ein adliges Statussymbol [Müller 1986: 441] an und wendet es nun gegen den Sänger. So werden die Rollen der von Sängerfigur und dörper stellenweise vertauscht. Das Sänger-Ich wird nicht nur selbst verurteilt, sondern wird nun vom dörper selbst zum Spottobjekt bestimmt. Auf ähnliche Weise wird hier das Sänger-Ich vom dörper für sein rüpelhaftes Benehmen auf textinterner Ebene verspottet. Somit ziehen die Figuren im Lied gegenseitig übereinander her, sie werden gegenseitig verächtlich, wodurch der Spötter in selbst in seiner Position geschwächt wird und sich ebenfalls der Lächerlichkeit aussetzen muss. Wiederkehrende Figuren, wie die Figur des Sängers und die der dörper, sind demnach nicht auf eine Position (Spötter oder Spottobjekt) festgelegt.[Plotke 2010:30-33] Die den Figuren zugeschrieben Rollen können demnach oftmals umkehrt werden: mal nimmt das Sänger-Ich die Rolle des Spötters, Richters, Opfer ein und der ihm gegenübergestellte dörper tritt in der Rolle des Verspotteten, des negativ bewerteten Regelbrechers und Gewalttäter auf, ein anderes mal werden diese Rollenzuschreibung umgedreht, sodass das Sänger-Ich wird als als Verspotteter, Gewalttäter und Normbrecher dargestellt, während der dörper sich als Opfer und Spötter inszeniert bzw. inszeniert wird.
Gleichzeitig verschwimmt hier auch die Grenze zur externen Sprechsituation, da der dörper den Gesang des Sänger-Ichs und damit auch des Sängers anspricht, der dem Verwandte gegenüber abfällig gegenüber war (VIb, V. 1)(und mit dem Gesang Normen bricht), wodurch auch der Sänger bei der Aufführung des Liedes zum Spottobjekt wird (vgl. dazu Plotkes Untersuchung von WL 27[Plotke 2010:32]).
Fazit
Anmerkungen
- ↑ Das Sänger-Ich ist ein "[...] männlich gedachtes Ich, dessen Werbungsmühen und Leiderfahrungen in den Liedern vorgeführt werden.[Haufe 2003:104]
- ↑ Trutzstrophen sind Antwortstrophen [Wachinger 1970:99] im Lied, die sich meist am Ende des Liedes befinden und in denen der Sänger meist angesprochen wird. Sie sind mit einer Ausnahme nur in den Winterlieder Neidharts zu finden. Es ist nicht belegt, ob die Strophen von Neidhart selbst stammen oder aber andere Zeitgenossen oder gar Nachahmer die Verse verfasst haben.[Schulze 2018:112f.]
- ↑ Verwendete Textausgabe im gesamten Artikel: "Die Lieder Neidharts" hg. von Wießner und Sappler. [Wießner-Sappler 1999]
- ↑ WL 10 trägt im Münchner Neidhart-Fragment Cb Titel: "Her Nithart"[Schulze 2018:114]
- ↑ Alle Textverweise beziehen sich auf Winterlied 10.
- ↑ "rûmegazze" ist ein Schwertname und bedeutet "räume die gasse!"<HarvardReferences /> [Lexer 2021a]
- ↑ Strophe VIb ist in Handschrift R nicht überliefert.
- ↑ mhd. „neven“ kann auch als Onkel, Vetter oder allgemein als Verwandter übersetzt werden. Es lässt sich auf jeden Fall ein Verwandtschaftsverhältnis entnehmen. Die dörper werden bei Neidhart oft über ihre Rollen im Familienverband hervorgehoben und in Beziehung gestellt. [Müller 1986:425]
- ↑ Spott in den in den Sommerliedern Neidharts in handlungsdramatischer Form (Szenen mit verteilten Sprechrollen) vgl. Spott in den Mutter-Tochter-Gesprächsliedern. [Plotke 2010:25]
- ↑ Ein ergänzender Aspekt zu dieser letzten Strophe ist, dass die Sängerfigur hier mit dem Namen "Nîthart" (VIb, V. 1) angesprochen wird, der auf die Autor-Rolle der Sängerfigur hinweist, indem dadurch "der Autor >Neidhart< als fiktive Gestalt und somit als Rolle angesprochen [wird]."[Haufe 2003:104]
Literaturverzeichnis
Textausgabe
<HarvardReferences /> [*Wießner-Sappler 1999] Die Lieder Neidharts, hg. v. Edmund Wießner, fortgef. v. Hanns Fischer. 5., verb. Aufl., hg. v. Paul Sappler, mit einem Melodieanhang v. Helmut Lomnitzer. Tübingen: Niemeyer 1999 (Altdeutsche Textbibliothek 44).
Forschungsliteratur
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Nachschlagewerke
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