Fiktionale Elemente (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)
Der Frauendienst Ulrichs von Liechtenstein ist trotz eines Ich-Erzählers, der behauptet Ulrich von Liechtenstein zu sein, kein rein biografisches Werk. Es enthält zwar autobiografische Elemente, aber auch zahlreiche Hinweise auf fiktionale Inhalte. Im Folgenden sollen einige dieser Fiktionalitätssignale genauer analysiert werden, um die Erzählstruktur nachvollziehen zu können und die Bedeutung der Fiktion für den Frauendienst näher zu bestimmen. Zuvor müssen allerdings die erzähltheoretischen Begrifflichkeiten definiert werden.
Definitionen
Um über fiktionale Elemente im Frauendienst sprechen zu können, muss zunächst einmal geklärt werden, was überhaupt fiktional bedeutet und wie sich dieser Begriff zu verwandten Begriffen abgrenzen lässt. Grundsätzlich kann eine Erzählung real oder fiktiv sein, was den ontologischen Status der Erzählung erfasst, und sie kann fiktional oder faktual sein, was sich auf den pragmatischen Status bezieht.[Martínez/Scheffel 2012: 15/16]
Real vs. fiktiv
Das Begriffspaar real/fiktiv beschreibt zwei Eigenschaften, die sich auf die Verhältnisse innerhalb der erzählten Welt beziehen. Der Bote Ulrichs spricht beispielsweise:
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung "si hat enboten iu bi mir, "Sie schickt die Nachricht euch bei mir, daz ir für war sült chomen ir dass ihr dann wieder kommen sollt von hiute reht über zweinzic tage [...] in zwanzig Tagen, das ist wahr [...] so wil si iuch enpfahen so, Sie will euch dann empfangen so, des ir sült immer wesen vro." dass ihr letztendlich froh sein könnt."
Dies ist eine fiktive Botschaft, da der Bote sich diese nur ausgedacht hat, um Ulrich an einem mögichen Selbstmord zu hindern (vgl. FD 1304). Die Erzählung des Boten ist folglich ein fiktives Element innerhalb der Erzählung des Frauendienstes.
Fiktional vs. faktual
Anders verhält es sich mit dem Gegensatzpaar fiktional und faktual. Diese beziehen sich auf den Modus des Erzählens, was bedeutet, dass die Art und Weise wie etwas erzählt wird, ausschlaggebend ist. Fiktional und faktual beschreiben damit keine innerliterarischen Eigenschaften, sondern das Verhältnis zur realen Außenwelt (der Welt des Rezipienten). Entscheidend ist, was der Rezipient aufgrund der Art der Erzählung von dieser erwartet. Die Frage ist hier also nicht, was wahr oder falsch ist, sondern mit welchen Signalen der Erzähler seine Rede versieht, um sie entweder als fiktional oder faktual zu kennzeichnen.[Martínez/Scheffel 2012: 17] In faktualen Texten produziert ein realer Autor einen Text, der vom Rezipienten durch bestimmte Hinweise des Autors als wirkliche Aussage desselben aufgefasst wird - folglich ist dies eine reale Kommunikationssituation zwischen Autor und Rezipient.[Martínez/Scheffel 2012: 19] In fiktionalen Texten jedoch behauptet der Autor nichts, er produziert lediglich einen fiktiven Erzähler, der wiederum behauptet, dass das was er (der fiktive Erzähler) sagt, wahr sei.[Martínez/Scheffel 2012: 19] Durch bestimmte Textsignale wird so im Idealfall ein "Fiktionalitätsvertrag"[Chinca 2010: 317] zwischen Erzähler und Rezipient geschlossen. Welche Fiktionssignale im Frauendienst zum Tragen kommen, soll in diesem Artikel näher untersucht werden.
Die Ich-Erzählsituation im Frauendienst
Im Frauendienst liegt die besondere Situation vor, dass erstens ein Ich-Erzähler spricht, der zweitens noch gleichnamig mit dem Autor ist. So entsteht auf den ersten Blick der Eindruck, dass der Autor keinen fiktiven Erzähler erschaffen hat, sondern dass die historische Person Ulrich von Liechtenstein sowohl Autor als auch Erzähler ist. Oder anders gesagt erscheint es so, dass der Autor, der in der außerliterarischen Welt angesiedelt ist, identisch ist mit dem erzählenden und dem erlebenden Ich der innerliterarischen Welt. In mittelalterlichen Ich-Erzählungen ist das erzählende Ich, also der Autor im Text, im Gegensatz zum erlebenden Ich nicht fiktiv. Trotzdem wollen erzählendes Ich und erlebendes Ich identisch sein.[Glauch 2010: 173] Die Problematik der Bestimmung von fiktionalen Elementen im Frauendienst ergibt sich gerade aus diesem Verhältnis. Denn während normalerweise in fiktionalen Texten deutlich wird, dass das erzählende Ich eine Erfindung des Autors und damit fiktiv ist, behauptet das erzählende Ich im Frauendienst identisch mit dem erlebenden Ich zu sein.
Fiktionale Elemente
Das Wechselspiel zwischen der Minneepik und der Minnelyrik Ulrichs
Das Ich in der Minnesanglyrik erscheint allgemein gesagt oft austauschbar.[Hübner 2008: 10/11] Es handelt sich daher weniger um ein individuelles Ich, als um einen höfischen Diskurs über gesellschaftliche Konventionen.[Hartmann 2012: 48] Der Autor des Frauendienstes bedient sich 58 in den versepischen Text eingefügter Lieder, die zum Teil Minne-Erlebnisse des erlebenden Ichs reflektieren (z. B. FD Lied 2, 110-111) oder sich mit Ausführungen über die Minne beschäftigen (z. B. FD Lied 16, 1351-1352). Betrachtet man diese Liedpassagen losgelöst vom epischen Teil, so würde man in diesen kaum von einem individuell erlebenden Ich sprechen. Ganz anders hingegen in den versepischen Teilen des Frauendiensts: Hier wird die literarische Person Ulrich von Liechtenstein durch ihre unvergleichlichen Taten durchaus als eine individuelle, d. h. nicht einfach austauschbare, Persönlichkeit wahrgenommen.[Kartschoke 2001: 71] Folglich gibt es zwei Ulrichs, den Autor und das erzählende/erlebende Ich, aber darüberhinaus noch ein weiteres Ich, dass in den Liedern auftritt und angibt, ebenfalls mit Ulrich identisch zu sein. Denn bereits das erste Lied für die Dame wird vom epischen Ulrich-Ich als sein eigenes ausgegeben: "Guout niuwe liet/ich von ir han gesungen" ("Ein schönes neues Lied/hab ich für sie gesungen", FD 66, 1-2). Diese Diskrepanz zwischen der Beliebigkeit des lyrischen Ulrichs in den Liedabschnitten und den mit individueller Personalität angefüllten Passagen über die Erlebnisse des epischen Ulrichs führt zu einem Glaubwürdigkeitsverlust in Bezug auf die Autobiografie. Das Spannungsfeld zwischen Beliebigkeit und Individualität,[Kartschoke 2001: 67/78] das aus dem Verhältnis von Minnesanglyrik und Minneepik herrührt, stellt somit ein Fiktionalitätssignal dar. Denn für den Rezipienten sind der lyrische Ulrich und der epische Ulrich nur schwer in einer Person zu vereinen, auch wenn diese Einheit im Text behauptet wird (s. o.). Es entsteht der Eindruck, dass es sich beim Frauendienst um eine Biografie handelt, die zwar nicht diejenige Ulrichs von Liechtenstein ist, aber durchaus die Biografie eines beliebigen "Minnenden". Dieser wurde vom Autor-Ulrich so erschaffen, dass sich in der an sich fiktiven Person auch autobiografische und historische Bestandteile entdecken lassen. Für eine solche allgemeine Minnesängerbiografie spricht auch, dass es dafür bereits literarische Vorbilder gab, an denen Ulrich sich orientieren konnte. Die altprovenzialischen Vidas (kurze und oftmals fiktive biografische Angaben zum Sänger) und Razos (inhaltliche Liedkommentare) könnten Ulrich bei seiner Arbeit beeinflusst haben.[Peters 1970: 162] Doch Ulrich von Liechtenstein geht als Autor noch einen Schritt weiter. Er kommentiert nicht nur einzelne Lieder sondern schafft eine komplette Biografie im Rahmen derer er Lieder einfügt, die er wiederum versucht in das Leben des literarischen Ulrichs einzubetten.
Die Übernahme anderer Identitäten
Grundsätzlich ist jeder Mensch ein Individuum, aber erst durch individuelle Handlungen und im Wechselspiel mit dem sozialen Umfeld entsteht Identität.[Kartschoke 2001: 62/63] Das erlebende Ich im Frauendienst charakterisiert sich selbst in erster Linie durch seinen höfischen, hingebungsvollen Dienst, den er von Kindheit an an der von ihm verehrten Dame verrichtet:
Mittelhochdeutscher Text
Neuhochdeutsche Übersetzung
26 "Kintlich ich ir diente vil,
[...]
swaz so ein kint gedienen mac,
daz dient ich ir unz uf den tac."
"Ich diente ihr so wie ein Kind,
[...]
was so ein Kind nur dienen kann,
Das tat ich ihr den ganzen Tag."
(FD 26,1-4)
Daran lässt sich zunächst noch keine Identität ausmachen, denn in ritterlicher Manier der auserwählten Dame in Treue und Stetigkeit zu dienen, entspricht den gesellschaftlichen Konventionen. Identität bekommt das Ich erstmals, als es von der Dame als "her Ulrich [...] ich meine den von Liehtenstein" (FD 44,5/8) benannt wird und sich darauf folgend durch individuelle Taten und Eigenschaften auszeichnet. Dazu gehören beispielsweise die zahlreichen Passagen über die Körperlichkeit wie die Mundoperation, die "Ulrich"[2] auf sich nimmt, weil der Dame "sin ungefüege stenter munt" (FD 80,6) missfällt oder das Abschlagen des Fingers, das das erlebende Ich ebenfalls für die Dame erleidet. Dem Rezipienten ist die "wahre" innerliterarische Identität "Ulrichs" also bekannt als dieser beginnt, weitere Identitäten zu übernehmen. Zunächst verkleidet "Ulrich" sich auf dem Turnier zu Friesach für kurze Zeit als grüner Ritter (vgl. FD 215). Er selbst kommentiert: "daz niemen da erkande mich, des freut min tumbes herze sich" ("Dass niemand mich erkannte da/das freute mein einfältig Herz." FD 221,1-2). Was aber bedeutet die Übernahme einer anderen Identität in Bezug auf die Fiktionalität? Verkleidungen wie die des grünen Ritters führen dazu, dass eine Kunstfigur mit einer künstlichen Identität geschaffen wird. Angenommen, Ulrich von Liechtenstein hat sich nie in seinem realen Leben als grüner Ritter verkleidet, so ist diese Begebenheit fiktional. Auf innerliterarischer Ebene weiß der außerliterarische Rezipient darüberhinaus ganz genau, dass der grüne Ritter keine individuelle Person ist, sondern nur "Ulrich", der sich verkleidet hat. Diese Tatsache eröffnet eine Art Fiktionalität zweiter Stufe, da der grüne Ritter ein fiktionales Element innerhalb der Fiktion ist.
Die Venusfahrt
Als "werde kuneginne Venus, gottinne über die minne" (FD 479, Brief B 1-2) verkleidet zieht "Ulrich" von einem großen Gefolge begleitet durch die Länder und "wil si leren, mit wiegetanen dingen si werder vrowen minne verdienen oder erwerben suln." ("sie will sie lehren, auf welche Weise sie die Minne von werten Frauen verdienen oder erwerben sollen." FD Brief B 7-9) Dieses Verkleidungsspiel hat genau genommen Rezipienten auf drei Ebenen. Einmal das fiktive Publikum [Bennewitz 1999: 352] der innerliterarischen Welt, das mit der Ulrich-Venus direkt in Kontakt tritt, einmal das höfische Publikum für das der Autor Ulrich höchstwahrscheinlich seine Literatur verfasst hat und zuletzt der heutige Leser, der nicht mehr aus dem mündlichem Vortrag des Dichters, sondern nur noch schriftlich von dessen angeblichen Erlebnissen erfährt. Das innerliterarische Publikum erkennt, dass Ulrich sich nur verkleidet hat. Mehrmals wird auf sein Auftreten mit Lachen reagiert.[Bennewitz 1999: 352] Spätestens als die Gräfin verlangt, "Ulrich" möge zum Friedenskuss in der Kirche den Schleier lüften, wird seine wahre Identität aufgedeckt (FD 537) - und dies geschieht bereits kurz nach Beginn der Fahrt. Die Erzählung der Venusfahrt ist also ein bewusstes Spiel, das vom innerliterarischen ebenso wie vom außerliterarischen Publikum auch als solches wahrgenommen wird und werden sollte. Ulrich greift mit der Figur Venus' eine Frauenrolle auf, die eine lange Tradition hat. Die römische Göttin der Liebe und des erotischen Verlangens wird spätestens seit dem vierten Jahrhundert vor Christus verehrt.[3] "Ulrich" inszeniert sich als Venus, um in ihrer Rolle seine Vorstellungen von Minne zu verbreiten und zu lehren, wie die Gunst der Frauen zu erwerben ist (vgl. FD Brief B 7-8). Verkleidet als die Personifikation der Liebe schlechthin unterstreicht er damit seine Autorität in Liebesangelegenheiten. Natürlich ist es nicht völlig unmöglich, dass sich ein Mann tatsächlich in Frauenkleider gehüllt auf ritterliche Turnierfahrt begab, allerdings ist es in diesem Fall aus den bereits genannten Gründen wesentlich wahrscheinlicher, dass der Autor hier die Figur der Venus allegorisch verwendet. Mit dem bewussten Einsatz einer Allegorie und dem literarischen Bezug zu einer antiken Göttin, die einen reich ausgestalteten mythologischen Hintergrund hat, setzt der Autor folglich ein deutliches Fiktionalitätssignal.
Die Artusfahrt
Laut neuhochdeutschem Text beginnt die Artusfahrt nach dem 37. Lied in Strophe 1400. In dieser Übersetzung ist der Vermerk "Artusfahrt" eingefügt. In der mittelhochdeutschen Ausgabe fehlt dieser Verweis und es findet sich nur die Textlücke des Originals. "Ulrich" mehreren Liedern. Der inhaltliche Wechsel lässt sich daher leicht erkennen, wenn ab der 1400. Strophe die Vorbereitungen zum Ausritt begonnen werden und "Ulrich" in Strophe 1440 mit den Worten "herre chünic Artus" (FD 1440) angesprochen wird. Dass es solche Artusfahrten, bzw. Artusgemeinschaften gegeben haben könnte, darauf verweist Ursula Peters bereits in ihrer Dissertation: "Diese sogenannten Artushöfe, deren Mitglieder kulturell und politisch eine feste Gemeinschaft - mit einem Mittelpunkt, dem Artushof - bildeten, sind für das 14. und 15. Jh. u. a. in Thorn, Culm, Elbing, Braunsberg, Königsberg, Danzig, Riga und Strahlsund bezeugt."[Peters 1970: 173] Auch Karl-Heinz Göttert schreibt, dass sich im 13. Jahrhundert die "Tafelrundenturniere" [Göttert 2011: 94f.] in Anlehnung an die Tafelrunde König Artus entwickelten. Jeder Ritter konnte hier von jedem anderen zum Kampf herausgefordert werden. Er hält allerdings fest, dass in Deutschland "Tafelrundenturniere im 13. Jahrhundert"[Göttert 2011: 96] historisch nicht belegt seien.
Aufgrund der Textlücke erfährt man weder die Intention Ulrichs noch eine Beschreibung, wie die Fahrt verlaufen soll und von wem sie motiviert ist. Ist es Ulrichs freie Entscheidung, oder ein Befehl seiner neuen Herrin? Man erfährt erst aus der Handlung, dass "Ulrich" verkleidet als König Artus durchs Land zieht. Von Beginn an hat er bereits eine kleinere Gruppe an Rittern bei sich. Er nimmt weitere Ritter in seine "Tafelrundengesellschaft"[Peters 1970: 196] auf, wenn es ihnen gelingt, drei Speere gegen Ulrich-Artus zu verstechen.
Peters untersucht die Artusfahrt hinsichtlich ihrer historischen und dichterischen Belegbarkeit. Sie kommt zu dem Schluss, dass "Ulrichs Artusturnier [...] mit den historischen und dichterischen Tafelrundenturnieren des 13. und 14. Jhs. darin überein[stimmt], daß eine Gruppe von Rittern in einem abgetrennten Kampfring ihre Gegner erwartet und mit ihnen jeweils Einzelkämpfe austrägt."[Peters 1970: 198] Nach Vergleichen mit anderen höfischen Romanen, in denen ebenfalls die vom Artusbild motivierten Turniere thematisiert werden, kommt Peters letztlich zu dem Schluss, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass Ulrichs Bericht über die Artusfahrt auf historischen Grundlagen beruht.[Peters 1970: 199]
Folglich habe der historische Ulrich entweder tatsächlich ein solches Turnier veranstaltet bzw. daran teilgenommen oder aber er habe zumindest ein solches mit eigenen Augen gesehen.[Peters 1970: 199] Dabei wird außer Acht gelassen, dass König Artus, ebenso wie Venus, eine mythologisch-literarisch vorgestaltete Figur ist. Wiederum greift Ulrich also eine dem kulturell gebildeten, höfischen Publikum höchstwahrscheinlich gut bekannte literarische Person auf. Artus ist der Inbegriff ritterlich-höfischer Tugenden.[Herchert 2010: 38] Unter diesem Gesichtspunkt lässt sich die Verkleidung "Ulrichs" auf einer ganz anderen Ebene deuten, denn indem er sich als Artus ausgibt und ihm sogar von höher gestellten Personen (z. B. Fürst Friedrich von Österreich) als Artus gedient wird, (FD 1456ff.) erhöht Ulrich sich vor seinem höfischen Publikum selbst. Diese Selbstinszenierung lässt zu, dass Ulrich in seiner Rolle als Artus und unterstützt durch diese seine eigenen Taten und Tugenden hervorheben und loben kann, ohne gegen den ritterlichen Bescheidenheitskodex zu verstoßen. Dieser Interpretationsansatz sieht in dem Annehmen der Identität Artus' ein literarisches Spiel mit dem literarischen Zweck der Selbstinszenierung. Die Frage, ob der Autor Ulrich tatsächlich Verbindungen zu einem solchen Turnier hatte oder ob er sich die Vorgänge nur ausgedacht hat, tritt damit in den Hintergrund. Mit absoluter Sicherheit ließe sich die Frage nach dem Wahrheitsgehalt der Venus- und Artusfahrt ohnehin nicht beantworten, fest steht nur, dass es für beide Ereignisse keine historischen Belege gibt,[Spechtler 2006: 307] was eher die These von einem fiktionalen literarischen Spiel unterstützt.[Kellermann 2010: 207]
Die Redewiedergabe Dritter
Wenn im Frauendienst neben "Ulrich" noch weitere Personen zu Wort kommen, so geschieht dies ausnahmslos in direkter Rede. Zunächst mag dies besonders authentisch erscheinen, denn der Erzähler greift nicht als Vermittlungsinstanz ein und gibt die Rede wieder, sondern er lässt die Personen für sich selbst sprechen. Andererseits ist es völlig unmöglich, dass die "zitierten" Personen, selbst wenn sie historisch belegt sind, tatsächlich genau in dieser Situation die vom Autor-Ulrich notierten Sätze sprachen. Denn um eine solche Präzision zu erreichen, hätte Ulrich alle Gespräche sofort niederschreiben müssen, was unmöglich gewesen sein dürfte. Selbst wenn der Autor-Ulrich nicht wie der literarische Ulrich Analphabet war (FD 169), erscheint die Redewiedergabe so als ein zumindest in Teilen fiktionales Element. Eindeutig im Bereich der Fiktionalität anzusiedeln sind dagegen solche Textpassagen, in denen der literarische Ulrich gar nicht am Ort des Geschehens ist, sondern beispielsweise seinen Boten zu der verehrten ersten Dame schickt und trotzdem das Gespräch der beiden in direkter Rede wiedergibt. Stellvertretend für alle Boten-Stellen wird im Folgenden näher auf die Textpassage eingegangen, in der die Dame dem Boten ihre Sicht auf "Ulrich" offenbart und gesteht, dass sie ihn nicht erhören wird (FD 1090-1106).
Mittelhochdeutscher Text Neuhochdeutsche Übersetzung "Er hat min hulde wol, "Er hat wohl meine Gunst, für war ich dir daz sagen sol, das will ich wirklich sagen dir, ich bin für war im niht gehaz; ich bin ihm wahrlich gar nicht bös; du suolt aber mir gelouben daz: du sollst mir aber glauben das: des er von mir ze lone gert, Was er von mir zum Lohne will, des ist er immer ungewert, das werd ich nimmer ihm gewähr'n, daz sol er niht für übel han, er soll darob nicht böse sein, wan ichs gewern wil nimmer man." denn ich gewähr' das keinem Mann."
Zwar berichtet der Bote "Ulrich" später, dass er sich keine Hoffnungen auf die körperliche Zuneigung der Dame machen solle (FD 1116), die Begründung aber, dass auch sonst keinem Mann diese Gunst widerfährt, wird nicht überbracht. An dieser Stelle spaltet sich deutlich die behauptete Einheit zwischen erzählendem und erlebenden Ich, denn der Erzähler hat gegenüber dem erlebenden Ulrich einen Wissensvorsprung, den er mit den Rezipienten teilt. In den Passagen, in denen Dritte bei körperlicher Abwesenheit des erlebenden Ichs zu Wort kommen, hebt sich der Ich-Erzähler selbst auf, denn ein nicht anwesendes Ich kann auch nicht aus seiner Perspektive berichten. An seine Stelle tritt ein Erzähler, der diesen Namen kaum verdient hat, denn eine Vermittlungsleistung im eigentlichen Sinne findet nicht statt. Stattdessen kommt es zu einer bloßen Wiedergabe eines Dialogs zwischen der Botenfigur und der Dame.
Das Lachen
Anhand einiger "Lachstellen", die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben, soll analysiert werden, inwiefern das Lachen von Protagonisten des Frauendiensts als Fiktionssignal gewertet werden kann. Auffallend ist, dass vor allem die Verkleidungssituationen häufig Gelächter provozieren. So lacht die Gräfin in der Kirche, als Venus-Ulrich für den Friedensgruß den Schleier lüften muss über sein wahres Geschlecht (FD 537/8) oder einige Damen amüsieren sich über "Ulrichs" Kostümierung als Venus mit Frauenkleidung und Zöpfen (FD 933,8). Das Lachen ist in den beiden genannten Episoden eine Reaktion auf die Entlarvung[Müller 2001: 10] "Ulrichs" und zunächst einmal ein Anzeichen für Fiktivität, denn auf der innerliterarischen Ebene wird deutlich, dass "Ulrich" nicht wirklich Venus ist. Gleichzeitig darf aber nicht in Vergessenheit geraten, dass Ulrichs von Liechtenstein Literatur zunächst einmal einem Publikum mündlich vorgetragen wurde, mit dem Ziel der Unterhaltung desselben. Es ist damit hochwahrscheinlich, dass auch dieses sich über die Vorstellung von "Ulrich" als Venus amüsierten. Wenn nun nicht nur die Protagonisten, sondern auch das reale Publikum lacht, so ist das ein Anzeichen dafür, dass sie die Erzählungen Ulrichs nicht ganz Ernst nehmen. Damit nehmen sie den "Fiktionalitätsvertrag"[Chinca 2010: 317] an und zeigen, dass sie Ulrichs Spiel mit der Fiktionalität verstehen. Allerdings existiert auch auf der rein innerliterarischen Ebene das Lachen als ein Signal für Fiktionalität. Als der Landesfürst Friedrich während der Artusfahrt, also wieder in einer Verkleidungssituation, sein Dienstangebot an Ulrich-Artus richtet (FD 1461,1), brechen die umstehenden Personen in Lachen aus. Dass ein sozial wesentlich höher gestellter Adliger dem Ministerialen Ulrich von Liechtenstein anbietet, ihm zu dienen, ist derart unplausibel,[Müller 2001: 2] dass der Autor Ulrich selbst durch das Erwähnen von lachenden Umstehenden die Fikitionalität dieser Episode hervorhebt. Ulrich selbst berichtet folglich aus der Sicht des Erzählers, wie und worüber gelacht wird. Seeber sieht hier einen engen Zusammenhang der "intensivierte[n] poetologische[n]Nutzung von Lachen"[Seeber 2010: 74] und der Fiktionalität - das "Gemacht-Sein" wird in den geschilderten Szenen konkret vor Augen geführt und offenbart das "Spiel mit der Fiktionalität"[Seeber 2010: 75] durch den Autor.
Fazit
Neben wenigen autobiografischen Elementen, die Ulrich von Liechtenstein in seinen Roman Frauendienst übernommen hat, besteht dieser, wie gezeigt werden konnte, vor allem aus fiktionalen Begebenheiten. Der Autor Ulrich spielt mit mythisch-literarischen Figuren wie Venus oder Artus, er behauptet eine Präsenz des erzählenden Ichs trotz dessen Abwesenheit und baut noch zahlreiche weitere Fiktionalitätssignale in sein Werk ein. Das sprechende und erlebende Ich des Romans behauptet zwar, Ulrich von Liechtenstein zu sein, es ist aber definitiv davon auszugehen, dass der Frauendienst nicht die Biografie des Ministerialen Ulrich darstellt. Vielmehr werden lyrische und epische Elemente zu einem fiktionalen Roman verbunden, der Elemente des Frauendienstes und des Minnesangs aufgreift und sie zu einer Biografie eines beliebigen fiktiven "Minnenden" vermengt. Der Frage, warum der historische Ulrich sich selbst als erzählendes und erlebendes Ich inszeniert, ohne es wirklich zu sein, kann man sich mit einer These Glauchs nähern. Sie vertritt die Ansicht, dass es im Mittelalter noch nicht gelang, "ein erzählendes Ich zu fingieren"[Glauch 2010: 173]. Wenn der Autor Ulrich folglich aus der Ich-Perspektive zu seinem Publikum sprechen wollte, blieb ihm nach Glauch nichts anderes übrig, als sich selbst als erzählende Instanz zu installieren. Die Logik der Ich-Erzählung führt dann aber dazu, dass er gleichzeitig auch erlebendes Ich sein muss. Dem Erzählvorgang im Frauendienst muss also nicht zwingend eine Täuschungsabsicht zugrunde liegen, dies ist nach näherer Analyse sogar sehr unwahrscheinlich. Denn der Autor Ulrich von Liechtenstein setzt wie gezeigt wurde zahlreiche Textsignale, die deutlich auf ein fiktionales Geschehen hinweisen.
Primärtext
- Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen 1987. (Mittelhochdeutscher Text)
- Liechtenstein, Ulrich von: Frauendienst, übers. v. Franz Viktor Spechtler, Klagenfurt/Celovec 2000. (Neuhochdeutscher Text)
Textnachweise
- ↑ Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Ulrich von Liechtenstein. Frauendienst, Göppingen 1987. Die mittelhochdeutschen Textangaben beziehen sich immer auf diese Ausgabe.
- ↑ An den Stellen, an denen nicht sprachlich darauf hingewiesen wird, ob es sich um den Autor Ulrich von Liechtenstein oder die innerliterarische Person handelt, wird letztere in Anführungszeichen gesetzt.
- ↑ "Venus." Der Neue Pauly.Herausgegeben von: Hubert Cancik und Helmuth Schneider (Antike),Manfred Landfester (Rezeptions- und Wissenschaftsgeschichte). Brill Online, 2013. Reference.Universitaetsbibliothek Konstanz. 17 May 2013 <http://referenceworks.brillonline.com/entries/der-neue-pauly/venus-e12200430>
<HarvardReferences />
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