Der Minne-Diskurs (Reinhart Fuchs)
Dieser Artikel behandelt den Minne-Diskurs zwischen Reinhart und der Wölfin Hersant, wobei die Repräsentation von Sexualität und deren Polarität zwischen 'höfischem'/'sittlichem' und 'niederem'/'animalischem' Begehren im Vordergrund steht. Dieses Spannungsverhältnis bietet die Grundlage für die im Reinhart Fuchs dargestellte Satire der historischen Realität der höfischen Minne.
Inhalt der Episode
Die höfische Minne ist im engeren, literarischen Sinn der ritterlich-adeligen Liebeslyrik Ausdruck eines nicht sexuell konnotierten Wohlwollens eines Minnesängers gegenüber einer höfischen, hochgestellten Frau. Trotz ausschweifender Verehrung wird dabei oft die Unmöglichkeit des Geschlechtsverkehrs beklagt. Es war üblich, dass der Minnesänger trotz mehrfacher Zurückweisung weiterhin seinen Minnedienst fortführt und sowohl den eigenen, als auch den Teil der Dame vorträgt.
Der Minne-Diskurs im Tierepos Reinhart Fuchs weicht von diesen Traditionen ab, denn er dient einer weiteren List Reinharts. Somit veranschaulicht die Episode die zeitgenössische Ständekritik und Satire der christlichen Liebes- und Sexualmoral Heinrich des Glîchezâres.
Die Wolfsfamilie als adelige Familie
Die Lebensformen des mittelalterlichen Adels werden auf die Wolfsfamilie übertragen. Im Text deuten darauf in der Episode der Begegnung des Fuchses mit der Familie (V. 385)[1] folgende Anhaltspunkte:
- Als Anrede für Isengrin verwendet Reinhart den Titel "herre" (RF V. 389). Diese unterscheidet sich von den Familienbezeichnungen, mit denen der Fuchs alle vorangegangenen Tiere ansprach. Beispiele hierfür sind etwa "neve" (RF V. 315) für den Kater oder "gevater" (RF V. 178) für die Meise. Auch Hersant spricht Reinhart mit ihrem Adelstitel "vrowen" (RF V. 391) an, der 'hohe Dame' bedeutet und in der Zweitnennung die Ehe zwischen den beiden Wölfen schließen lässt.
- Abgesehen von dem Adelstitel bleibt Hersants Geschlecht sprachlich unmarkiert. [Quelle!]
- Reinhart bietet sich als "geselle[]" (RF V. 396) an, er gibt an, der Familie dienen zu wollen. (RF V. 390-393)
- Nach dem Angebot zieht sich die Wolfsfamilie zurück und bespricht sich. Isengrin lässt sich von seiner Frau, die als Mitregentin ein Entscheidungsrecht hat, beraten. (RF V 402-403)
- Wie oben bereits erwähnt, markiert der Minnesang (RF V. 409) die höfische Standeszugehörigkeit der Familie.
Nach dem einvernehmlichem Abschluss des Gesellenvertrags zwischen Isengrin und Reinhart übergibt der Herr Wolf feierlich seine Ehefrau und macht sich auf die Jagd. Dabei werden Reinharts schlechte Absichten bereits von der Erzählstimme vorweggenommen:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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sin wip nam er bi der hant | Seine Frau nahm er [Isengrin] an der Hand |
vnde bevalch si Reinharte sere | und übergab sie inständig/feierlich? Reinhart |
an sine trewe vnde an sine ere. | (und) dessen Treuepflicht und dessen Tugend. |
Reinhart warb vmb di gevatern sin. | Reinhart warb um seine Gevatterin/Freundin. |
do hat aber er Ysengrin | Nun hatte aber Isengrin |
einen vbelen kamerere. | einen bösen Kammerdiener. |
hi hebent sich vremde mere. | Von hier an kamen merkwürdige Geschichten auf. |
Reinharts Minnesang
Die Formulierungen aus Reinharts Minne-Diskurs sind vom deutschen Nachdichter des 'Roman de Renard' übenommen [Ruh 1980:15]:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhart sprach zv der vrowen: | Reinhart sagte zu der hohen Dame: |
'gevatere, mochtet ir beschowen | 'Gevatterin, bitte seht |
grozen kvmmer, den ich trage: | den großen Kummer, den ich trage: |
von eweren minnen, daz ist min clage, | Wegen dem Minnedienst an Ihnen, das ist meine Klage, |
bin ich harte sere wunt.' | leide ich sehr stark.' |
Hersants Zurückweisung
Als Reaktion erhält Reinhart von Hersant jedoch eine grobe Zurückweisung, die gegen die Tradition der höfischen Minne verstößt:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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'Tv zv, Reinhart, dinen mvnt!' | 'Mach zu, Reinhart, deinen Mund!' |
sprach er Ysengrinis wip, | sprach Isengrins Frau, |
'min herre hat so schonen lip, | 'Mein Mann hat einen so schönen Körper, |
daz ich wol frvndes schal enpern. | dass ich bestimmt auf einen Geliebten verzichten kann. [?] |
Reinhart Fuchs, V. 416-431
Nach dieser Zurückweisung führt Reinhart seinen Minnesang fort. (V.435-449) Als Isengrin von der Jagd zurückkehrt, tut Reinhart so, als wäre nichts geschehen. (V. 441-442)
Hersants Sittenbruch
Während Reinhart trotz der groben Zurückweisung Hersants vorerst die Rolle des Minnesängers beibehält und damit als "hobischere" (V. 441) der christlichen Tradition folgt, wenn auch aus List, wie es die Erzählinstanz bereits andeutete, bricht Hersant mit ihr.
Obwohl es nach den Sittenregeln offensichtlich sein sollte, dass der Geschlechtsakt zwischen den beiden höfischen Figuren als Ehebruch unmöglich und die Dichtung somit keine Abbildung der Wirklichkeit ist, interpretiert Hersant Reinharts Aussagen wörtlich. Interessant ist das an dieser Stelle aufgezeigte Spannungsfeld zwischen den Sitten der ehelichen Treue und der Minne-Beziehung zum Ritter aus der Perspektive Hersants. Einerseits betont Hersant ihre bedingungslose Treue und Liebe zu ihrem Mann Isengrin (V. 430), die zunächst als Grundmotivation ihrer groben Zurückweisung gilt. Andererseits verletzt sie mit ihrem unangemessenen Wortlaut gegen die Tradition der Minne und macht damit einen obszönen, rücksichtslosen und unmanierlichen Eindruck, der ihrem Stand nicht angemessen ist. Damit reduziert sie das Ritual auf das Sexuelle. Die Episode offenbart aber auch, dass sich Hersant selbst nicht nach den christlichen Sitten zu richten scheint, denn sie begründet ihre Zurückweisung nicht mit diesen, sondern mit ihrem eigenen sexuellen Verlangen, was die folgenden Punkte veranschaulichen:
- Hersant ist auf Körperlichkeiten fixiert. Ihre 'Loyalität' zu Isengrin drückt sie durch ihre Bewunderung für seinen "schonen lip" (V. 430) aus, nicht durch ihre Ehe. Reinhart hingegen weist sie auch nicht mit der Begründung des Ehebruchs zurück, sondern weil er ihr "zu swach" (V. 433) erscheint. Das kann entweder ein erneuter Verweis auf Reinharts körperliche Beschaffenheit, jedoch auch auf seine Persönlichkeit oder seinen niederen Stand sein. Der letzte Fall würde einen besonders widersprüchlichen Bezug zur mittelalterlichen, gesellschaftlichen Ordnung darstellen.
- In ihrer Zurückweisung lässt Hersant durchscheinen, dass sie sich durchaus die Möglichkeit eines Liebhabers offenlässt. Im Konjunktiv drückt sie aus, dass sie sich einen Liebhaber aussuchen würde, der attraktiver als Reinhart oder ihm höher gestellt ist.
Die Fixierung auf ihre Libido setzt sie im Kontrast zu ihrer höfisch-adelig stilisierten Ehe als animalisch-primitiv herab. In dieser Episode lassen sich an Hersants Figur die Widersprüchlichkeiten der Trennung zwischen Mensch und Tier ablesen.[Kompatscher-Gufler:32f.] Die Tatsache, dass es sich um eine Tierfigur handelt und die vorangegangene, hochkulturelle Stilisierung bestärken die Betrachtung dieser Verschränkung und bildet den ersten Ansatz der Gesellschaftskritik des Autors.
und nimmt ihre Vergewaltigung durch die List Reinharts vorweg. Mit der vorangehenden, feierlichen Übergabe seiner Frau an den Fuchs wird Isengrin als Gegenbild zu diesem konstruiert: Er glaubt wirklich an die höfisch-katholischen Ideale und Sitten, was sich auch in seinem Glauben an Hersants Treue nach seiner schweren Verletzung zeigt. Reinhart hingegen bedient sich dieser Sitten von Beginn an nur aus Opportunismus, mit dem Ziel des Ehebruchs.
"Durch das höfisch-galante Vorspiel, schon als solches parodistisch durch die undamenhafte Replik der mehrfach als edel [...] apostrophierten Partnerin, erhält die Reinhart-Hersant-Minne ein zusätzliches Element literarischer Kritik. Höfische Minne ist, ungeachtet der Theorie hôher minne und nobler Worte, bîligen im Ehebruch." [Ruh 1980:15]
Vergewaltigung Hersants - Wegkürzen mit Verlinkung auf Artikel über sexuelle Gewalt
- Artikel Sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs Wiki-Artikel
- Schlüsselszene Vergewaltigung: Parodie der Minne? Unmöglichkeit der Abwesenheit (männlich-dominanter) Sexualität? Tatsächliche Intime Verhältnisse zwischen 'Hoher Dame' und Minnesänger in historischer Realität? (Aber Reinhart entspricht nicht normativem Bild von Maskulinität und körperlicher Stärke, ist Hersant körperlich unterlegen, überlistet sie)
-> Ausdruck eines Zusammenbruchs einer Ordnung? (Satire ja auch beispielsweise an Klosterleben/Justiz angewandt)
- Definitive Markierung Weiblichkeit auf Inhaltsebene
- Vorangegangene Kastration Isengrins: ebenfalls geschlechtliche Markierung, Selbstverschuldung durch Naivität des Wolfes. Humor in Bezug auch auf Isengrins 'Seeligkeit' -> Mönche glauben, er sei einer von ihnen, Vergleich mit Beschneidung. Schwarzer Humor auch in Bezug auf adeliges Eheverhältnis: Jammer Hersants über Kastration ihres Mannes richtet sich gegen sie selbst? (Animalismus, Sexualität, s. o.: Tendenz zu Primitivität)
- Aufbrechen der Trennung Ehe und Minne
[- Im Text mehrmals nur angedeutetes Eingehen auf Fuchsfrau, Erkennen im Brunnen, tiefe Verbundenheit - hier Ideal der Trennung Minne-Ehe umgesetzt? Humor: Reinhart springt nur nach sich selbst, Narzissmus, Egoismus, "männliches Phantasma der selbstreferentiellen Inkorporation des Weiblichen", Eignung Tierfiguren gegen Homosexualitätsverdacht]
Literaturverzeichnis
<HarvardReferences />
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Reinhart Fuchs, eine antihöfische Kontrafaktur.
- ↑ Alle Versangaben des Artikels beziehen sich auf Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg., übers. und erläutert von Karl-Heinz Göttert, bibliographisch ergänzte Ausg., Stuttgart 2005 (Reclams Universal-Bibliothek 9819).
- Schilling, M. (1989). Vulpekuläre Narrativik. Beobachtungen zum Erzählen im 'Reinhart Fuchs'. Zeitschrift Für Deutsches Altertum Und Deutsche Literatur, 118(2), 108-122. Retrieved May 20, 2020, from www.jstor.org/stable/20657904
- Schul, Böth, Mecklenburg: "Abenteuerliche Überkreuzungen : Vormoderne intersektional." (2017)