Gewalt und Herrschaft (Reinhart Fuchs)
Dieser Artikel thematisiert den Zusammenhang von Gewalt und Herrschaft in Heinrich des Glîchezâren Tierepos Reinhart Fuchs (im Nachfolgenden als RF abgekürzt).[1] Nach einer kurzen Begriffsdefinition wird die im RF dargestellte Hierarchie vorgestellt. Hierbei wird der Fokus auf den Löwen Vrevel, den offiziellen Herrscher, und den Fuchs Reinhart, den Störfaktor in der Ordnung, gelegt. In diesem Kontext werden Gewalthandlungen mit den beiden Figuren verknüpft und für Reinhart das Spannungsfeld Gewalt - kvndikeit erörtert. Die Ameisenepisode stellt eine Schlüsselszene dar und leitet zum zweiten Teil der Arbeit über. In diesem werden die Veränderungen des Herrschaftsgefüges analysiert. Die Krankheit des Königs und das persönliche Zusammentreffen zwischen Vrevel und Reinhart sind hierfür zentral. Abschließend soll Reinhart als neuer Herrscher diskutiert und ein Fazit gezogen werden.
Fragestellung
Gewalt ist ambivalent: sie kann destruktiv und konstruktiv sein (vgl.[Neudeck 2016: 10]). So stehen sich im Mittelalter Gewalt und Kultur nicht gegenüber, sondern gehören zusammen. Cora Dietl spricht in diesem Kontext von einer "Kultur der Gewalt"[Dietl 2010: 42]. Sowohl im ritterlichen Werte- und Normsystem, als auch in der im feudalen Herrschaftssystem finden sich Formen der Gewalt. Der RF wird mit der Aufforderung begonnen, da man bi mag bilde nemen (RF, V. 4-5), - interessanterweise jedoch nicht an einem edlen, tugendhaften Ritter, sondern an einem tiere wilde (RF, V. 3). Es stellt sich die Frage, wie der RF das Bild dieser feudalen Ordnung skizziert und wie Reinhart die Schwachstellen des Systems aufdeckt. Inwieweit wird dadurch auch das Bild einer "Kultur der Gewalt", höfische Tugenden und monarchische Herrschaft parodiert und kritisiert?
Definition "Gewalt" und "Herrschaft"
Um die Thematik untersuchen zu können, sind zunächst die Begrifflichkeiten zu definieren.
Mhd. hêrschaft bezeichnet nicht nur die "Herrschaft" an sich, sondern kann mit vielen Begriffen übersetzt werden, die anzeigen, wie Herrschaft ausgeübt wird und aus was sie sich konstituiert: "Gewalt", "Würde", "Macht", "Erhabenheit".[Henning 2014: 147]
Das Politiklexikon verweist darauf, dass "Herrschaft" ein "Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen Herrschenden und Beherrschten" beschreibe. Herrschaft zeichne sich dabei durch ein auf Dauer angelegtes, legitimes Verhältnis aus, das gewissen Regeln unterworfen ist (Befehl und Gehorsam). Insbesondere die Rechtmäßigkeit von Herrschaft kann auf drei Ursprünge zurückgeführt werden und verdient im Zuge der Untersuchung des RF genaue Beachtung. Nach Max Weber unterscheidet man
A) Charismatische Herrschaft: hierbei wird die Herrschaft dadurch legitim, dass man an den Herrschenden glaubt. Durch Eigenschaften (Kraft, Klugheit, Rhetorik etc.) und Verhaltensweisen muss der Herrschende sich ständig behaupten, um seinen Herrschaftsanspruch nicht zu verlieren.
B) Traditionelle Herrschaft: hier stehen Traditionen und gegebene Ordnungen im Fokus. Sie begründen die Autorität und Rechtmäßigkeit. Als Beispiel ist die Monarchie aufzuführen.
C) Legale Herrschaft: der Herrscher wird bei dieser Form durch Satzung und Recht legitimiert. (vgl.[Schubert 2018])
Schon die Übersetzung des mhd. hêrschaft hat gezeigt, dass unter anderem eine Übersetzung mit "Gewalt" möglich ist. Somit scheinen schon im Sprachgebrauch Parallelen zwischen Gewalt und Herrschaft zu bestehen.
Gewalt bezeichnet allgemein, "den Einsatz von physischem und psychischem Zwang gegenüber Menschen, sowie die physische Einwirkung auf Tiere oder Sachen." [Schubert 2018] Es ist darauf hinzuweisen, dass für die Untersuchung am RF auch die psychische Einwirkung auf Tiere von Bedeutung ist. Weiterhin ist eine Differenzierung zwischen Gewaltausübung, bei der man a) Schaden zufügt, b) das Gegenüber dem eigenen Willen unterwirft oder c) Gegengewalt als Reaktion auf vorausgegangene Gewalt ausübt, möglich.
Gewalt kann zuletzt auch im Sinne von Staatsgewalt verstanden und im Kontext von Gebiets- und Personalhoheit angewandt werden (vgl.[Schubert 2018]).
Cora Dietl verweist in diesem Zusammenhang auf weitere Begrifflichkeiten, welche die Mehrdeutigkeit von "Gewalt" aufzeigen sollen. So unterscheidet sie im Mittelalterkontext drei Formen der Gewalt: vis stellt dabei die höfisch geregelte Form der Gewalt dar. Für Gewaltanwendungen bei denen die Regulierungen missachtet und Gewalt unbegrenzt und ungerechtfertigt angewandt wird, nutzt die Autorin das Wort violentia. Die Form der Gewalt wird auch als bose gewalt bezeichnet. Zuletzt sei auf die potestas hingewiesen: sie baut auf vis auf und ist verbal und medial vermittelbar, - physische Gewalt und Durchsetzungskraft reichen an dieser Stelle nicht aus (vgl.[Dietl 2010: 43,44]). So kann an dieser Stelle der Bogen zur ersten Definition aus dem Politiklexikon geschlagen werden: Herrschaft, potestas, ist an Regeln und ein Rechtfertigungsmotiv gebunden.
Hierarchie und Gewalt im RF
Sowohl für den Herrschafts- als auch für den Gewaltbegriff sind Ordnungsverhältnisse konstituierend. Beide Phänomene entstehen aus Über- und Unterordnungsverhältnissen. Eine Betrachtung der Hierarchie ist für diesen Artikel demnach aus zweierlei Gründen unerlässlich. Erstens zeigt sie die allgemeine Ordnung des Herrschaftssystems auf und zweitens ist an ihr der Stellenwert der Gewalt abzulesen. So dient sie als Grundlage für die weitere Diskussion um Gewalt und Herrschaft im RF.
Hierarchie - der Versuch einer Darstellung
Die dargestellte Hierarchie kann als Die Ständegesellschaft der Tiere in "Reinhart Fuchs" aufgefasst werden. Die Stände ergeben sich hierbei aus Eigenschaften, welche die Tiere voneinander unterscheiden und somit in Gruppen einteilen. Das wichtigste Unterscheidungsmerkmal ist die Körpergröße, die mit Stärke und der Möglichkeit zur Gewaltausübung einhergehen. Im Prozess um Reinhart und auf die Einladung des Königs hin kommen große Tiere, wie der Bär Brun, der Hirsch Randolt, ein Elefant und ein Wildschwein ebenso wie die kleinen Tiere (der Dachs Krimel, ein Hase und weitere) zum Hoftag (vgl. RF, V.1104-1120). Die großen Tiere wolden mit Ysengrine sin (RF, V.1108), während im Text insbesondere die Verbundenheit von Reinhart und dem Dachs Krimel hervorgehoben wird: "hern gesweich im nie zv keiner not." (RF V.1115) Zu bemerken ist, dass in der Gruppe der großen Tiere vermehrt tier vreisam (RF, V.1188) zu finden sind. Insofern wird ein direkter Bezug von Körpergröße und "gefährlichen Tieren" hergestellt. Aus dieser Eigenschaft ergibt sich die Hierarchie der Tiere. Stärkere und gewaltsamere Tiere stehen über den schwächeren und kleineren.
Es überrascht nicht, dass nach dieser Theorie ein Löwe als Herrscher an der Spitze der Hierarchie steht. Ihm direkt unterstehend findet sich ein Herrschaftsapparat, der aus den nächst stärkeren Tieren, wie dem Bären oder dem Leoparden besteht.
Es kann festgehalten werden, dass die hierarchische Stellung der einzelnen Tiere auf der Möglichkeit, Gewalt auszuüben, basiert. Gewalt ist in diesem Zusammenhang als Kraft, Größe und Stärke zu verstehen. Es wird deutlich in wie weit sich Gewalt und Herrschaft bedingen und gegenseitig stützen. Dies ist insbesondere anhand der Figur Vrevel zu erkennen, dessen königliche Herrschaft eine Gewaltherrschaft darstellt (vgl.[Neudeck 2016: 11-14, 22]), - problematisch an der Figur Vrevel ist jedoch die Form der Gewalt. Auf diesen Aspekt wird im Artikel noch genauer eingegangen. Die dargestellte Hierarchie ist folglich eine typisch feudale Ordnung und konstituiert sich durch die mit ihr verbundenen Werte und Normen: vis und ere. Obwohl die Ordnung auf dieses Prinzip hin angelegt ist, sieht die Wirklichkeit im RF anders aus. Das Prinzip, die Ordnung sowie die Werte und Normen dieser Gesellschaft werden im Verlauf der Handlung immer weiter unterwandert.
Das Problem der Verortung Reinharts - Gewalt und kvndikeit
Schon der Titel verweist auf den Fuchs Reinhart, der im Mittelpunkt der Erzählung stehen soll. Wie die oben dargelegte Hierarchie zeigt, steht Reinhart anfangs keineswegs an der Spitze der Ordnung in der Tierwelt. Der Grund hierfür liegt in seiner physischen Unterlegenheit gegenüber großen Tieren, die durchaus zu Gewalt, vis, fähig sind. Der Verlauf der Erzählung zeigt jedoch den Weg von Reinharts Aufstieg: „dieser weiß sich – trotz physischer Unterlegenheit – gegen Rivalen, wie auch gegenüber dem Herrscher zu behaupten, da er mehr als jeder andere über die „Macht der Rechtfertigung“ verfügt.“[Neudeck 2016: 12] Er unterwandert somit die Hierarchie und führt die innerlich kaputte Ordnung vor.
Die nachfolgenden Gewaltausübungen Reinharts sind der violentia zuzuschreiben und keine Formen von vis.
Gewalt in Form und durch psychische Gewalt
Psychische Gewalt kann als Zwang oder Unterwerfung des Willens verstanden werden (vgl. Definitionen "Gewalt" und "Herrschaft". Der erste Hauptteil des RF erzählt eine Abfolge von Willensunterwerfungen, die teilweise in physischer Gewalt enden. Die psychische Ebene wird nur dadurch erreicht, dass Reinhart erstens zu klein ist, um sich alleine körperlich gegen die Wölfe durchzusetzen und zweitens in der Folge daraus ein triuwe Verhältnis zwischen Reinhart und der Wolfsfamilie geschlossen wird.
RF, V.397-401
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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wolt ir mich zv gesellen han? | Wollt ihr mich zum Freund haben? |
ich bin listic, starc sit ir, | Ich bin listig, ihr seid stark, |
ir mochtet gvten trôst han zv mir. | ihr könnt festes Vertrauen zu mir haben. |
vor ewere kraft vnde von minen listen | vor eurer Kraft und vor meinen Listen |
konde sich niht gevristen, | könnte sich nichts schützen, |
ich konde eine bvrc wol zebrechen.', | ich könnte selbst eine Burg zerstören." |
Dieses Kriegsbündnis, das Reinhart anbietet, wird zu einer Nähebeziehung ausgebaut, nachdem Isengrin sich mit seiner Familie beraten hatte (vgl. RF, V.405). Durch diese Vereinbarung gewinnt Reinhart Macht über die Wölfe. Er stiftet sie zu Handlungen an, von denen Reinhart weiß, dass die Wölfe daran Schaden nehmen. Die Erbeutung des Weins von einem Mönchshof endet mit schaden vnde [...] schande (RF, V.530). Die Gutgläubigkeit Isengrins beim Fische Fangen führt zum Verlust seines zagel (RF, V.820). Die aufgeführten Beispiele zeigen, dass Reinhart gezielt Einfluss nimmt und so physischen Schaden herbeiführt. Dies geschieht in jedem der Fälle grundlos und hat keine ere höfische Tugenden oder die "Kultur der Gewalt" als Grundlage. Reinhart unterwandert und zerstört dadurch er das System, denn nicht die höfischen Werte, sondern Reinharts violentia und kvndikeit siegen in diesen kleinen Streitigkeiten. Auch beziehen sich die Ignoranz der Ordnung nicht nur auf ihn selber. Reinhart verleitet seine Gefährten ebenfalls zu grundloser Gewalt und führt damit vor, dass das System innerlich kaputt ist und auch die anderen Tiere leicht zu verleiten und bestechlich sind.
Zudem beginnt Reinhart um Isengrins Frau Hersante zu werben. Diese lehnt die Werbung ab, da Reinhart nicht ihrem Männlichkeitsideal entspricht: "min herre hat so schonen lip, daz ich wol frvndes schal enpern." (RF, V.429-430). Nach dem missglückten Besuch des Mönchshofes, glaubt Isengrin sich dem Tod nahe. Kuonin hört seine Klage und fliegt zu ihm. Während Isengrin an die Liebe und Ehrhaftigkeit seiner Frau glaubt, erzähl Kuonin: ich han zwischen iren beinen gesehn Reinhart hat si gevriet. (RF, V.586-587). Isengrin fällt daraufhin in Ohnmacht. Alleine die Vorstellung, dass Kunonins Bericht wahr sein könnte, lässt Isengrin verzweifeln. An dieser Stelle ist es demnach keine direkte physische Gewalt, die Reinhart ausübt, sondern der Verrat an Freundschaft und der Nähebeziehung. Es kann an dieser Stelle von psychischer Gewalt gesprochen werden.
Physische Gewalt in Form sexuelle Gewalt
Nur selten übt Reinhart selber physische Gewalt aus. Diese wenigen Taten beschränken sich auf sexuelle Gewalt (Vergewaltigung Hersantes) und die Ermordung des Königs. Um die sexuelle Gewalt im Reinhart Fuchs erörtern zu können, ist die Textstelle der Vergewaltigung zu betrachten. Ihr geht ein triuwe Verhältnis zwischen Reinhart und der Wolfsfamilie, sowie eine damit verbundene minnesängerische Werbung um Hersante voraus. Das triuwe Verhältnis ist jedoch seitens Reinharts von Beginn an nicht aufrichtig. Es folgt eine Reihung an Auseinandersetzungen zwischen Reinhart und der Wolfsfamilie, bei denen letztere geschädigt und entehrt wird. Die Vergewaltigung ist der Höhepunkt im Konflikt "der Fuchs und die Wölfe (Reinhart Fuchs)", sowie Voraussetzung für den nachfolgenden Gerichtsprozess und die Begegnung zwischen dem Herrscher Vrevel und Reinhart.
RF, V.1165-1183
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Zv siner bvrc er do reit, | So kam er zu seiner Burg, |
das was ein schonez dachsloch, | das war eine schöne Dachshöhle, |
dar flvhet sin geslechte noch. | in das sein Geschlecht noch heute flieht. |
Da ernerte Reinhart den lip sin. | Dort rettete Reinhart sein Leben. |
ver Hersant lief nach im drin | Frau Hersant lief ihm nach drinnen nach, |
mit alle wan vber den bvc. | mit allem bis zum Rumpf. |
do gewan si schire schande genuc: | Da erwartete sie sofort großes Verderben: |
sine mochte hin noch her, | Sie konnte weder vor noch zurück, |
Reinhart nam des gvten war, | Reinhart bemerkte die Gunst, |
zv eime andern loche er vz spranc, | sprang aus einem anderen Loch heraus |
vf sine gevateren tet er einen wanc. | und machte einen Sprung auf seine Gevatterin. |
Isengrine ein herzen leit geschach: | Isengrin wurde von Schmerz erfüllt: |
er gebrvtete si, daz erz an sach. | er (Reinhart) vergewaltigte sie, sodass er es sah. |
Reinhart sprach: ,vil libe vrvndin, | Reinhart sagte: "Liebste Freundin, |
ir schvlt talent mit mir sin. | Ihr sollt den ganzen Tag bei mir sein. |
izn weiz niman, ob got wil, | Es weiß niemand, so Gott will, |
dvrch ewer ere ich iz gerne verhil.' | um eurer Ehre willen würde ich es verheimlichen." |
vern Hersante schande was niht cleine, | Frau Hersantes Schande war nicht gering, |
si beiz vor zorne in die steine, | sie biss vor Wut in die Steine, |
ir kraft konnte ir nicht gefrvmen | denn ihre Kraft konnte ihr nicht nützen. |
Es kommt zur Vergewaltigung, weil Reinhart sich einer List bedient. Nicht seine Körpergröße ist hierbei entscheidend, sondern seine Fähigkeit Hersante zu reizen und zur Verfolgung zu bewegen. Von ihrer Wut geleitet, folgt sie Reinhart in die Falle. In der engen Dachshöhle kann sie sich nicht mehr frei bewegen, sodass Reinhart durch seine kleine Körpergröße sogar im Vorteil ist. Hersante selber nützt ihre Stärke zu diesem Zeitpunkt nichts. Zu erwähnen ist, dass auch an dieser Stelle psychische Gewalt vorausgeht. Hervorzuheben ist die Szene aber deshalb, weil Reinhart auch die darauffolgende physische Gewalt selber ausübt. Für die Fragestellung um den Zusammenhang von Gewalt und Herrschaft ist die Szene von Bedeutung, da sie Körpergröße und List direkt miteinander vergleicht. Nicht die Körperkraft gewinnt, sondern Reinharts Gerissenheit. So wird gezeigt, dass die Hierarchie, die auf Stärke und Größe basiert, leicht zu durchbrechen ist.
Physische Gewalt vs. kvndikeit
Gewalt steht oft im Zusammenhang mit Stärke und Körpergröße. Wie die obigen Beispiele zeigen, muss Gewalt jedoch nicht ausschließlich mit diesen Qualitäten und Eigenschaften assoziiert werden. Insbesondere Reinhart scheint beinahe nie selbst physische Gewalt auszuüben, sondern seine Gegner durch List und Tücke in Situationen zu bringen, in denen andere für ihn die physische Gewalt ausüben. Interessant hierbei ist, dass es meist die Menschen sind, welche diese Form der Gewalt an den Tieren verüben. Zu verweisen ist an dieser Stelle beispielsweise auf die Mönche, die Isengrin und seine Familie verprügeln (RF, V. 516-533) oder der Fischer, der Isengrin den Schwanz abhackt (RF, V.811-816). Der RF eröffnet für die Gewaltthematik ein Spannungsfeld, das vor allem auf kvndikeit als Teil der Gewaltausübung untersucht werden muss. Inhaltlich dient hierbei die Textstelle, in der Reinhart der Vergewaltigung angeklagt und verteidigt wird. Die Textstelle ist dem zweiten Hauptteil zuzuordnen und ereignet sich kurz nach der Vergewaltigung selbst (RF, V.1170-1192). Als Auftakt zum Gericht- und Hoftag des Herrscher Vrevel wird der Vorwurf vorgetragen (RF, V.1365-1385). Reinhart wird neben einiger anderer Verbrechen, die er im ersten Hauptteil begangen hatte, der Vergewaltigung Hersantes angeklagt. Da er in persona abwesend ist, wird er von dem Dachs Krimel verteidigt:
RF, V.1388-1394
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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diese rede ist vngelovblich | Dieser Vorwurf ist unglaubwürdig |
vnde mag wol sin gelogen. | und kann nur gelogen sein. |
wi mochte si min neve genotzogen? | Wie konnte mein Neffe sie vergewaltigen? |
ver Hersant di ist grozer, dan er si. | Frau Hersante ist größer, als er es ist. |
Die Körpergröße wird hierbei als Voraussetzung für Gewaltausübung herangezogen. Folglich, so die Argumentation Krimels, kann Reinhart auch keine sexuelle Gewalt ausgeführt haben. Die Belege für Reinhart als Täter sind vielfältig und aus diesem Grund stellt sich die Frage, ob Größe und Stärke die einzigen Maßstäbe für Gewaltausübung darstellen. So verweist Kurt Ruh auf einen Zusammenhang zwischen der "körperlichen Schädigung und moralischer Demontage" Isengrins (vgl.[Ruh 1980:22]). Zum einen stellt die moralische Demontage eine Form der psychischen Gewalt dar. Diese kann insbesondere durch kvndikeit erwirkt werden. So führt beispielsweise das Wissen über die Vergewaltigung der Ehefrau zu einem psychischen Zusammenbruch Isengrins. Zum anderen kann kvndikeit körperliche Gewalttaten vorbereiten und ist somit Teil der Gewaltausübung. Die Thematik um Gewalt und Körpergröße wird hier direkt zur Sprache gebracht. Das Fazit der Tiere: Reinhart bedroht durch seine kvndikeit die bestehende Ordnung.
Die Herrschaft des Löwen Vrevel - "potenstas", "violentia" und "vis"
Wie bereits in den Definitionen beschrieben, gibt es verschiedene Herrschaftsformen. Bezüglich der Herrschaft im RF ist es schwer, eine eindeutige Zuordnung zu einer dieser Herrschaftsformen zu treffen. Der Löwe Vrevel wird als herre (RF, V. 1254) bezeichnet. Es werden keine Informationen über seine Einsetzung als Herrscher, Wahlen oder andere institutionelle oder formale Einsetzungsverfahren genannt. Aus diesem Grund ist eine legale Herrschaft auszuschließen. Zwischen traditioneller und charismatischer Herrschaft zu unterscheiden und eine auszuschließen, gestaltet sich schwieriger.
RF, V.1468-1471
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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er sprach: "kvnik, vernim, was ich dir sage: | er sagte: "König, höre was ich dir sage: |
dv scholt wizzen gewerliche, | du musst wahrlich merken, |
dir hoenet Reinhart din riche; | dass Reinhart dir deine Königswürde verspottet; |
An dieser Textstelle, bei der Reinhart wiederholt den Befehl seines Königs missachtet, sieht man, dass Spott die Herrschaft Vrevels schwächt und seine Legitimation in Frage gestellt werden kann. Auch ein vorschnell getroffenes Urteil oder Bestechung, führen zu ere schende, vnde ewern hof geswachen (RF, V. 1770-1771). Dies deutet auf eine charismatische Herrschaft hin. Auch ist der König kinderlos, was zur nächsten Problematik führt. Wenn bezüglich des Herrschaftssystems von einer traditionellen Herrschaft ausgegangen würde, schwächt die ungeregelte Nachfolge die Herrschaft und Vrevel wäre zumindest auf andere Legitimationsstützen angewiesen. Ein rein traditionelles Herrschaftssystem ist für den RF demnach anzuzweifeln.
Was für ein Herrscher ist Vrevel also? Welchen Mitteln zur Herrschaft und Herrschaftssicherung bedient er sich? Um diese Fragen beantworten zu können, muss die Figur des Löwen genauer betrachtet werden. Erstmalige Erwähnung findet Vrevel im zweiten Hauptteil der Erzählung RF:
Nachdem der erste Hauptteil in der Wolf-Fuchs Auseinandersetzungen eine Reihung an physischen und psychischen Gewalttaten erzählt, hat der zweite Hauptteil den Hoftag Vrevels zum Thema. Dieser zweite Hauptteil wird durch einen direkten Bezug zu der vorangegangenen Gewalt eröffnet, indem er erläutert, dass sich dies alles in eime lantvride (RF, V.1239) ereignet.
RF, V.1239-1246
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Ditz geschah in eime lantvride, | Das spielte sich während eines Landfriedens ab, |
den hatte geboten bi der wide | den hatte bei der Todesstrafe |
ein lewe, der was Vrevil genant, | ein Löwe, der Vrevel genannt wurde, befohlen, |
gewaltic vber daz lant. | mächtig über das Land. |
keime tier mochte sin kraft gefrvmen, | Keinem Tier konnte seine Stärke nützen, |
izn mveste vur in zv gericht kvmen. | musste es doch vor ihm zu Gericht kommen. |
si leisten alle sin gebot, | Sie alle befolgen seinen Befehl, |
er was ir herre ane got. | er war ihr Herrscher, ausgenommen Gott. |
Die Textstelle dient der Einführung der Figur Vrevels als Herrscher und Richter. Es sei darauf hingewiesen, dass sich dieser Artikel vordergründig mit Vrevel als Herrscher befasst. Vrevel kann jedoch auch unter religiösen oder historischen Aspekten untersucht und charakterisiert oder seine Rolle als Täter und Opfer erörtert werden.
Die nachfolgende Handlung erzählt zunächst unter welchen Bedingungen es zum Landfrieden gekommen ist. Grundsätzlich thematisiert der zweite Hauptteil den Hoftag Vrevels und seine Herrschaftsausübung. Was für ein Herrscher ist Vrevel und welchen Stellenwert hat Gewalt in seiner Machtstellung? Hierfür sei zunächst der Blick auf den Namen geworfen. Kurt Ruh führt an, dass die Namensänderung von "Nobel" zu "Vrevel" die einzige gewesen sei, die Heinrich der Glîchezâre vorgenommen habe. Der Grund hierfür sei die Charakteränderung, die mit der neuen Namensgebung einhergeht (vgl.[Ruh 1980:23]). So werden dem Herrscher neben den Eigenschaften "Mut" und "Kühnheit" vor allem negative Qualitäten zugesprochen: mhd. vrevel wird im nhd. mit "Gewalt", "Vergehen" und "Bosheit" übersetzt.[Henning 2014: 423] Hervorzuheben ist, dass Vrevel in jedem Fall gewisse Attribute zugesprochen werden, die seiner Herrschaft durchaus charismatische Züge verleihen. Die charismatische Herrschaft zeichnet sich dadurch aus, dass der Herrschende sich immer wieder beweisen und um die rechtmäßige Anerkennung seiner Untergebenen kämpfen musste. Hierfür sind "Mut" und "Kühnheit" von Bedeutung. Wird der Herrscher als schwach oder kränklich wahrgenommen, verliert er seine Legitimation. Im RF erkrankt der Herrscher Vrevel. Darüber hinaus führt Reinhart den König im weiteren Handlungsverlauf immer wieder vor. Er kann seinen Anspruch demnach nur noch selten durch sein "Charisma" erhalten und muss auf Gewalt zurückgreifen. Die vorgeführte Gewalt (vrevel) ist jedoch nicht vis, sondern violentia. Bedient sich Vrevel für den Erhalt seiner Herrschaft - potestas - ausschließlich der bose gewalt, zerstört er sie auf Dauer selbst.
Ameisen-Epsiode
Die Ameisen-Episode stellt eine Schlüsselszene im RF dar und ist vor allem für die Frage nach Gewalt und Herrschaft von großer Bedeutung. Nachdem im ersten Hauptteil die Fuchs-Wolf Auseinandersetzung zu einer Fehde geworden ist, soll sie bei einem Hoftag Vrevels unterbunden und der Streit verhandelt werden. Das besondere an der Situation jedoch ist: den vride gebot er [Vrevel] dvrch not (RV, V.1247). Die Szene ist im zweiten Hauptteil des Textes zu verorten und wird als Analepse erzählt.
RF, V.1251-1264
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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zv einem ameizen hvfen wold er gan, | Er wollte zu einem Ameisenhaufen gehen. |
nv hiez er si alle stille stan | Dort befahl er allen stehen zu bleiben |
vnde sagte in vremde mere, | und verkündete ihnen die seltsame Neuigkeiten |
daz er ir herre were. | dass er ihr Herrscher sei. |
des enwolden si niht volgen, | Sie wollten ihm nicht gehorchen, |
des wart sin mvt erbolgen. | darüber war er sehr zornig. |
vor zorne er vf die burc spranc | Aus Wut sprang er auf die Burg |
mit kranken tieren er do ranc, | (und) kämpfte mit den kleinen Tieren, |
in dvchte, daz iz im tete not. | (weil) er glaubte, dass es notwendig sei. |
ir lagen da me danne tvsent tot | Mehr als Tausend starben |
vnde vil mange sere wunt, | und viele behielten schwere Wunden, |
gnvc bleibe ir ovch gesvnt. | manche blieben aber auch am Leben. |
sinen zorn er vaste ane in rach, | Seine Wut drückte er als Strafe aus, |
die bvrk er an den grvnt brach. | die Burg zerstörte er bis an den Grund. |
Vrevel möchte sein Herrschaftsgebiet erweitern und stellt einen "willkürlichen Herrschaftsanspruch"[Neudeck 2016: 21], dem die Ameisen in ihrer Treue zum eigenen Herrn widersprechen. Ohne langen Prozess wendet der Löwe violentia an, zerstört die Ameisenburg und tötet tausende Ameisen. Diese Textstelle ist von Bedeutung, da sie zum einen über Herrschaftsverhältnisse und die zum Teil fehlende Gefolgschaftstreue aufklärt. Zum anderen zeigt sie, dass Vrevel nicht überall anerkannt und respektiert wird. Er bedient sich sogleich der violentia um seinen Herrschaftsanspruch durchzusetzen. Diese Gewaltanwendung ist objektiv betrachtet ungerechtfertigt und unreguliert. Nur Vrevel selbst dvchte, daz iz im tete not (RF, V.1259). Seine potestas, die eigentlich auf vis beruhen soll, basiert hier auf zorne und wird kritisiert. In der Folge dieses Angriffes übt der Ameisenherr Rache an Vrevel. Indem er ihm ins Ohr springt und bis in das Gehirn klettert, bringt er den König in Bedrängnis (vgl. RF, V.1299-1312). Die Schmerzen schreibt er der Verletzung seiner Pflichten zu und möchte "seiner potestas in besonderer Weise nachkommen und Gericht halten."[Dietl 2010: 52] Den Landfrieden und den Hoftag, den er daraufhin ausruft stehen in Kontrast zu seiner bosen gewalt und werden dadurch unglaubwürdig und ins Lächerliche gezogen. Landfriedensangebote dienten während der Staufer-Zeit häufig als Herrschaftsinstrument. So konnte durch sie "die Möglichkeit eines individuellen gewaltsamen Konfliktaustrags in der Fehde unterbunden werden"[Dietl 2010: 43], da sich die beteiligten Parteien der potestas des Herrschers unterwerfen mussten. Auch im RF soll die Fehde zwischen dem Fuchs Reinhart und dem Wolf Isengrin juristisch verhandelt und somit weitere individuelle Auseinandersetzungen verhindert werden.
Neben diesen Aspekten ist die Szene auch für den Fortgang der Handlung von Bedeutung. Nur durch die Schmerzen bedingt wird der Hoftag ausgerufen und das Zusammentreffen von Reinhart und Vrevel ermöglicht. Auch wird Vrevel durch den Ameisenkönig geschwächt. Die Krankheit des Herrschers steht im Kontrast zu seiner Stärke und möglichen Gewaltausübung (vis), die seine Stellung überhaupt erst konstituieren.
Zwischenfazit
Der erste Hauptteil der Reinhart Fuchs Erzählung zeigt eine Reihung an Fuchs-Wolf Konflikten. Hierbei übt Reinhart mehr oder weniger direkt Gewalt an Isengrin und Hersante aus. Hierfür bedient sich Reinhart fast ausschließlich psychischer Gewalt und Willenslenkung, denn auf Grund seiner Körpergröße kann er sich nur durch kvndikeit behaupten. Somit führt Reinhart nur im Fall der Vergewaltigung die physische violentia selber aus. Seine Intentionen für die Gewaltanwendungen sind nicht benannt, da nicht vorhanden. Während die hierarchische Struktur eine auf höfischen Tugenden, Stärke, Ruhmerlangung und vis beruhende Ständegesellschaft darstellt, zeigt Reinhart, dass die nach außen aufrecht erhaltene Ordnung innerlich fragil ist. Seine Gewalttaten und die damit verbundenen (Re-) Aktionen seiner Gegner widersprechen den "Rittertugenden" und einer Form von begründeter Gewalt, vis. Als kleines Tier kann er sich durchaus gegenüber stärkeren, größeren, über ihm stehenden Tiere durchzusetzten. Er unterwandert die ständegesellschaftliche Ordnung. Die Fuchs-Wolf Episoden dienen somit als Vorspiel und Austesten, wie weit Reinhart gehen kann und welche Mittel wirkungsvoll sind. Auch lassen sie Reinhart als Bedrohung und Störfaktor hervortreten. So sind es in der nachfolgenden Handlung und der ausbrechenden Fehde zwischen Wolf und Fuchs vor allem die großen Tiere, die sich gegen Reinhart wenden. Sie fühlen sich in ihrer Stellung bedroht. Die Wolf-Fuchs Episode führt Reinhart vor Gericht und zur Spitze der Herrschaft, dem Löwen Vrevel. Dieser hat sich in der Ameisenepisode schon als Gewaltherrscher hervorgetan. Seine sowieso schon geschwächte Herrschaft wird durch die Rache des Ameisenherrn zusätzlich angegriffen. Reinhart nutzt in der Folge diesen wunden Punkt, um nicht nur im Kleinen Unruhe zu stiften, sondern das gesamte Herrschaftssystem zu zerstören. Die Fuchs-Wolf Auseinandersetzung und die dadurch entstehende Fehde, sowie die Ameisenepisode sind entscheiden, da nur durch sie ein Zusammentreffen zwischen Reinhart und Vrevel zu Stande kommt und die Herrschaftsverhältnisse grundlegend verändert werden können. Wie dies genau geschieht, soll im folgenden zweiten Teil des Artikels genauer erläutert werden.
Veränderungen im Herrschaftsgefüge
Reinhart beginnt schon früh die Herrschaftsgefüge zu verändern. So ist die Brunnenszene für die Veränderung in der Stellung von Fuchs und Wolf exemplarisch und als Schlüsselszene zu nennen. Um einer Darstellung der Veränderungen im Großen gerecht zu werden, ist in diesem Artikel der Fokus auf den Löwen Vrevel und seine Beziehung zu Reinhart gelegt. Interessant ist hierbei, durch welche Mittel sich das gesellschaftliche Gefüge und speziell die Herrschaftsverhältnisse verschieben. Die Thematik der Herrschaftsänderung ist eingebettet in einen Gerichtstag, bei dem Reinhart von dem Wolf Isengrin angeklagt wird und der Löwe Vrevel als Richter auftritt. Die Rollenzuschreibungen Reinharts als Untergebener und Vrevels als Herrscher stehen demnach den Rollen als Angeklagter und Richter nach. Durch diese neuen Rollen, ist die Verschiebung des tatsächlichen Herrschaftsgefüges nur hintergründig zu beobachten. Sie vollzieht sich parallel zu der Verschiebung der Rollen im Gericht, der Angeklagte wird zum Richter (vgl.[Ruh 1980:29]), ohne aktiv wahrgenommen zu werden.
Die Krankheit des Herrschers Vrevel
In Folge der Zerstörung der Ameisenburg, nimmt der Ameisenherr Rache. Dabei springt er dem König dabei ins Ohr und zv dem hirne fvr er vf die richte (RF, V.1307), was Vrevel große Schmerzen bereitet (vgl. RF, V.1290-1310). Die Tiere hören sein Klagen:
RF, V.1318-1320
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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er sprach: "mir ist we, daz mvt ich iehen. | Er sagte: "Mir geht es schlecht, das kann ich sagen. |
ich weiz wol, iz ist gotes slac, | Ich weiß wohl, es ist Gottes Unglücksschlag, |
wen ich gerichtes niht enflac." | da ich kein Gericht abgehalten habe." |
Vrevel erklärt sich sein Leid als Gottes Strafe für seine Untätigkeit und beruft sogleich einen Hoftag ein. An diesem Hoftag soll auch die Fehde zwischen Isnegrin und Reinhart gerichtet werden. Die Krankheit Vrevels ist demnach schon alleine für die Fortführung der Erzählung notwendig.
Die Textstelle ist zentral und von großer Bedeutung für die Thematik Gewalt und Herrschaft und so werden nun die zentralen Aspekte hervorgehoben und erläutert: zunächst bezeichnet sich der Herrscher als gesundheitlich krank ("mir ist we"). Damit ergeben sich Probleme für seine Herrschaft, die auf Stärke und somit auch Gesundheit basiert. Strohschneider erläutert die Bedeutung eines kranken Herrschers wie folgt: "Der Löwe ist […] krank, und das heißt: Er ist außer Stande, gleich anderen Königen in kriegerischer Gewaltanwendung Machträume zu besetzen und dieserart Herrschaft und Heil seines Königtums zu konstituieren, zu reproduzieren und darzustellen."[Strohschneider 2004: 32] Dementsprechend kann seine Herrschaft als gefährdet angesehen werden, was Reinhart im späteren Handlungsverlauf immer wieder vorführen wird. Oberstes Ziel für den König muss demnach die Wiedergewinnung seiner Stärke und Gesundheit sein. Dies macht ihn zusätzlich empfänglich für Reinharts List und Schauspiel als Arzt. Seiner eigenen Genesung misst Vrevel stärkere Gewichtung bei als einem gerechten Urteil. Insofern kann der Krankheit des Löwen unter anderem eine Teilschuld an der Ungerechtigkeit beim Hoftag zu gelastet werden.
Das Zusammentreffen von Reinhart und Vrevel
Nach zwei gescheiterten Vorladungen Reinharts zum Hoftag seines Königs wird zuletzt der Dachs Krimel geschickt, um Reinhart zu Gericht zu bringen. Er klärt Reinhart über die Anklage und seine Chancen auf. Trotz des Berichtes, dass alle ihn verurteilen würden, lässt sich Reinhart nicht abbringen (vgl. RF, V.1801-1811). Er geht in sein Zimmer, um sein bestes Hofgewand, einen Pilgermantel, und eine Arzttasche zu holen. In dieser Verkleidung begleitet er Krimel zurück zum König. Sobald die ersten Tiere ihn sehen, beginnen die Klagen und Forderungen, ihn zu töten.
RF, V.1865-1885
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
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Reinhartes liste waren gros, | Reinharts Listen waren zahlreich, |
er sprach: "kvnic, was sol dirre doz? | er sagte: "König, was soll dieses Getöse? |
ich bin in mangen hof kvmen, | Ich bin zu vielen Hoftagen gekommen, |
daz ich selden han vernvmen | ohne dass ich |
solche vngezogenheit. | solche Zuchtlosigkeit bemerkt habe. |
des war, iz ist mir vur evh leit." | Wahrhaftig, das tut mir für euch leid." |
der kvnic sprach: "iz ist also." | Der König erwiderte: "So ist es nun einmal." |
vberbrechten verbot man do. | Dann verbot man die Schreierei. |
Reinhart sprach: "ecvh enpevtet den dienst sin, | Reinhart sagte: "Euch, mächtiger König, |
reicher kvnich, meister Pendin; | erbietet Meister Pendin seinen Dienst; |
ein artzt von Salerne, | er ist ein Arzt aus Salerno, |
der sehe ewer ere gerne, | Der würde gerne eure Ehre sehen |
vnde dar zv alle, die da sint, | und auch alle, die hier sind, |
beide di alden vnt di kint. | beide, die Alten und die Kinder. |
vnde geschiht evch an dem leibe icht, | Und geschieht euch irgendetwas, |
daz enmvgen si vberwinden niht. | dass könnten sie nicht überstehen. |
herre, ich was zv Salerne | Herrscher, ich war darum in Salerno |
dar vmme, daz ich gerne | weil ich euch gerne |
evh hvlfen von diesen sichtagen. | von dieser Krankheit heilen möchte. |
Schon die ersten Worte, die Reinhart mit Vrevel wechselt, hinterfragen dessen Herrschaft: er bemängelt die Zuchtlosigkeit des Volkes und kritisiert somit die Durchsetzungsfähigkeit des Königs. Dies ist der erste direkte Angriff auf die potestas Vrevels, der sogleich versucht, sein Volk wieder unter Kontrolle zu bekommen. Auch der darauffolgende Dialog wird von Reinhart dominiert. Er verweist auf einen Arzt aus Salerno und seinen eigenen Wunsch, den König von seinem Leid zu befreien. Nicht der Herrscher bestimmt bei diesem Zusammentreffen das Thema oder führt das Gespräch, sondern Reinhart. Auch wird der eigentlich Grund für die Vorladung des Fuchses nicht zur Sprache gebracht, denn Reinhart lenkt das Gespräch geschickt auf eine sehr persönliche Ebene: die Erkrankung Vrevels.
Wichtig zu erinnern ist, dass Reinhart den Grund für das Leiden Vrevels kennt: er hat beobachtet, wie der Ameisenkönig in das Ohr des Löwen gekrochen ist (vgl. RF, V.1302).
Für die Heilung, fährt Reinhart fort, seien ein Wolfs- und Bärenfell sowie eine Mütze aus Katzenfell nötig. Außerdem müsse der König gekochtes Huhn und Eberspeck zu sich nehmen. Die betroffenen Tiere Isengrin, Brun, Diepreth, Frau Pinte und Herr Scantecler leisten nur mit Worten Widerstand, sodass Vrevel sie ergreifen lässt. Da die Tiere der Aufforderung zur "freiwilligen Selbstverstümmelung"[Dietl 2010: 53] nicht nachkommen, wird sie befohlen. Dieses Vorgehen hat keine Gemeinsamkeiten mehr mit Gerechtigkeit. Nur mit violentia kommt Vrevel an seine "Heilmittel" und in der Folge löst sich seine potestas weiter auf. Ein genauer Blick auf Reinhart lässt auch seine neue Position erkennen: da er zu klein ist, um seinen großen Gegner selber Schaden zuzufügen, handelt er durch den König. Erneut arbeitet Reinhart sich im Herrschaftssystem durch seine kvdikeit nach oben und bis an die Spitze der Hierarchie. Auf diesem Weg werden seine Gegner durch beeinflusste Hand geschädigt und der König zerstört seine Herrschaft durch die violentia sogar selber. Der eigentlich Prozess wird nicht thematisiert und der Angeklagte wird zum Richter. Zugleich verschiebt sich hintergründig auch die Rollenzuschreibung von Herrscher und Untergebenen.
Reinhart als neuer Herrscher?
Die Gewalttaten werden ausschließlich aus der Täterperspektive erzählt und so wird die potestas des Löwen und seines Hoftages soweit unterwandert, dass sie sich auflöst (vgl.[Dietl 2010: 53]). Die Tiere ergreifen die Flucht, denn nicht Vrevel urteilt und herrscht, sondern Reinhart. Vrevel bezeichnet Reinhart als meister min (RF, V.1977). Das mittelhochdeutsche Wort meister muss in diesem Zusammenhang genauer betrachtet werden. Das Wörterbuch ermöglich eine Vielzahl von Übersetzungen: "Herr", "Meister", "Gebieter", aber auch "Arzt" [Henning 2014: 211]. Da Reinhart als Arzt auftritt, ist eine Übersetzung mit diesem Begriff nicht abwegig. Reinhart übt Macht durch und über Vrevel aus und ist in diesem Kontext durchaus eine "Gebieter". Der darauffolgende Vers ermöglicht eine genauere Interpretation und Übersetzung. So will Vrevel machen, swi dv mich heizest (RF, V.1978). Vrevel gibt sich in die Hände des Fuchses und handelt nach seinem Befehl. An dieser Stelle verliert Vrevel offiziell seine Macht und Reinhart wird zum Herrscher.
Nachdem die Tiere dies erkannt haben, fliehen sie, um ihre Haut zu retten.
RF, V.1999-2002
Mittelhochdeutsch | Übersetzung |
---|---|
Der kvnic harte riche | Der sehr gewaltige König, |
der bleib da heimliche. | der blieb alleine da. |
si vuren alle danne swinde, | Sie eilten alle schnell davon |
da belib sin ingesinde. | nur seine Dienerschaft blieb. |
Sein Volk, seine Untergebenen, verlassen ihn und nur seine Diener, sowie der Dachs, das Kamel und der Elefant bleiben bei Reinhart und Vrevel zurück. Während Reinhart von außen das System angreift, vernichtet Vrevel es von innen heraus. Indem er seine Herrschaft ausschließlich auf violentia stützt, zerstört sie sich selber. Cora Dietl fasst dies präzise zusammen: "Das Ende des Königs ist nur eine konsequente Folge seiner falsch verstandenen potestas, die darauf zielt, mit Gewalt die Grundlagen ihrer Gewalt zu zerstören."[Dietl 2010: 53]
Reinhart heilt Vrevel letztlich, denn durch warme Umschläge wird der Ameisenherr zum Herausklettern gezwungen. Der Ameisenherr bietet Reinhart im Gegenzug für sein Leben die Herrschaft über seinen Wald an (vgl. RF, V.2060-2063). Aus dieser Perspektive betrachtet, kann Reinhart tatsächlich als Herrscher bezeichnet werden. Doch nicht nur die Ameisenherrschaft ändert sich durch das Wirken Reinharts. Die Erzählung RF endet nicht alleine mit der Unterwanderung der potestas Vrevels, sondern mit dem Zusammenbruch seiner gesamten Herrschaft. Reinhart tötet den kinderlosen König mit Gift (vgl. RF V.2171, 2241). Das System ist grundlegend zerstört und die Erzählung bietet keinen Ausblick in die Zukunft. Auch der Mord am König ist einer der wenigen direkten Gewalttaten Reinharts und somit nochmals hervorzuheben. Letztlcih gewinnt die List in einem System, dass auf höfischen Tugenden und Verhalten gründet.
Interessant ist zuletzt folgender Aspekt: si weinten alle dvrch not vmbe des edelen kvniges tot (RF, V.2245-2246). Die überlebenden Tiere sind nicht glücklich über den Tod des Herrschers, der nur mit violentia geherrscht hatte. Kolb bewertet und kritisiert dieses Verhalten als uneinsichtig und dumm, denn "die Davongekommenen sind nicht besser als der Umgekommene. Und Reinhart, der Königsmöder, nicht besser als Vrevel, der Gewaltherrscher, gerissener, aber weniger stark und mächtig [...]."[Kolb 1983: 346]
Ob die Erzählung die Staufer Herrschaft kritisieren, bewahren, ironisieren oder hinterfragen soll, ist in der Literatur stark umstritten (vgl.[Neudeck 2016: 23-24][Dietl 2010: 54][Bertau 1983: 28-29][Ruh 1980: 32-34]. Es finden sich sowohl Bezüge zu Orten, Personen, als auch Herrschaftsinstrumenten aus der Staufer Zeit. Trotzdem bietet die Erzählung keinen Ausblick auf eine alternative Ordnung. Eine eindeutige Datierung und fehlende Informationen zum Autor erschweren weitergehende Interpretationen und Einordnungen zusätzlich.
Fazit
Das Gesellschaftssystem im RF ist auf vis und weiteren sozialen Normvorstellungen der mittelalterlichen Welt gegründet. In dieser "Kultur der Gewalt" ist Gewalt per se nicht schlecht, sondern durchaus von Notwendigkeit. Dass die Gewalt nicht ausschließlich konstruktiv ist, zeigt die violentia. Eine Herrschaft muss jedoch auf vis gestützt sein. Aus diesen Vorstellungen heraus ergibt sich eine gesellschaftliche Hierarchie, bei der Körpergröße und mögliche Gewaltanwendung konstituierend sind. Große Tiere stehen in dieser Ordnung über kleinen, schwachen Tieren. An der Spitze des Herrschaftsapparates ist der Löwenkönig Vrevel zu finden. Die Erzählung RF zeigt die Problematik dieser Gesellschaft und Hierarchie auf. Der kleine, aber kluge Fuchs unterwandert das System. Seine Gewalttaten sind unbegründet und durch kvndikeit verleitet er auch seine Feinde zu "unritterlichem" Verhalten. Die Ordnung ist innerlich schon lange kaputt.
Die Fuchs-Wolf Fehde und ein willkürlicher Gewaltakt des Königs an einem Ameisenvolk führen zum Zusammentreffen von Reinhart und dem König Vrevel. Die Krankheit des Königs schwächt seine Herrschaft zusätzlich, was Reinhart listig ausnutzt. Dass statt dem Prozess letztlich die egoistische Heilung des Königs Thema ist, zeigt, dass das gesamte System kaputt ist. Reinhart führt den Machtmissbrauch, die Treuelosigkeit und Manipulierbarkeit immer weiter vor, indem er mit violentia durch den König handelt. So wird der Angeklagte zum Richter und der Untergebene zum Herrscher. Mit der Ermordung des kinderlosen Königs wird das System nachhaltig zerstört. Dass hierbei die Herrschaft der Staufer kritisiert oder zumindest hinterfragt wird, ist in der aktuellen Forschungsliteratur diskutiert, aber nicht abschließend geklärt. In jedem Fall hinterfragt die Erzählung eine Herrschaft, die sich alleine auf Gewaltausübung stützt und die Aufrechterhaltung eines Systems, in dem Gewalt ästhetisiert wird.
Literatur
<HarvardReferences />
- [*Bertau 1983] Bertrau, Karl: Über Literaturgeschichte. Literarischer Kunstcharakter und Geschichte in der höfischen Epik um 1200, München 1983.
- [*Dietl 2010] Dietl, Cora: ‚Violentia‘ und ‚potestas‘. Ein füchsischer Blick auf ritterliche Tugend und gerechte Herrschaft im ‚Reinhart Fuchs‘, in: Dichtung und Didaxe. Lehrhaftes Sprechen in der deutschen Literatur des Mittelalters, hg. Henrike Lähnemann und Sandra Linden, Berlin 2010, S.41-55.
- [*Henning 2014] Henning, Beate: Kleines Mittelhochdeutsches Wörterbuch, 6. Auflage, Berlin 2014.
- [*Kolb 1983] Kolb, Herbert: Nobel und Vrevel. Die Figur des Königs in der Reinhart-Fuchs-Epik, in: Virtus et fortuna. Zur Deutschen Literatur zwischen 1400 und 1720. Festschrift für Hans-Gert Roloff zu seinem 50. Geburtstag, hg. Joseph P. Strelka und Jörg Jungmayr, Bern/Frankfurt am Main 1983, S.328-251.
- [*Neudeck 2016] Neudeck, Otto: Der Fuchs und seine Opfer: Prekäre Herrschaft im Zeichen von Macht und Gewalt. Die Fabel vom kranken Löwen und seiner Heilung in hochmittelalterlicher Tierepik, in: Reflexionen des Politischen in europäischer Tierepik, hg. Jan Glück, Kathrin Lukaschek und Michael Waltenberger, Berlin / Boston 2016, S.10-27.
- [*Ruh 1980] Ruh, Kurt: Höfische Epik des deutschen Mittelalters. Bd. 2: 'Reinhart Fuchs', 'Lanzelet', Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg (Grundlagen der Germanistik 25), Berlin 1980, S.13-33.
- [*Schubert 2018] Schubert, Klaus et.al: Gewalt, in: Das Politiklexikon, Bd.7, Bonn 2018, https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/politiklexikon/17566/gewalt (zuletzt abgerufen am 03.01.2021).
- [*Strohschneider 2004] Strohschneider, Peter: Opfergewalt und Königsheil. Historische Anthropologie monarchischer Herrschaft in der ecbasis captivi, in: Tierepik und Tierallegorese. Studien zur Poetologie und historischen Anthropologie vormoderner Literatur, Bern 2004, S.15-51.
- ↑ Alle weiteren Versangaben beziehen sich auf: Heinrich der Glîchezâre: Reinhart Fuchs. Mittelhochdeutsch/Neuhochdeutsch, hg. und übersetzt von Karl-Heinz Göttert, Reclam, Stuttgart 1976.