Gewalt bei Neidhart
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Brutale Handgreiflichkeiten, hämischer Spott und Diebstahl sind nur einige der Taten, die sich im Liederœuvre Neidharts finden. Die Gewalt scheint sich wie ein roter Faden durch alle Lieder dieses mittelalterlichen Autors, der vermutlich im 13. Jahrhundert anzusiedeln ist, zu ziehen. [Schweikle 1990: 57-61] Sie kann dabei nicht nur unterschiedliche Formen annehmen, die Gewalt kann sich gleichermaßen gegen die verschiedenen Figuren der Lieder richten. Die Dörper kämpfen untereinander, vergreifen sich an Frauen und drohen dem Sänger. Doch ist auch der Sänger nicht von jeglicher Unschuld befreit, wie das nachfolgende Zitat aus WL 10, VIa, V. 7-11 [1] zeigt:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung | |
ich slahe in, daz er tumber | Ich würde ihn schlagen, sodass der Törichte | |
schouwet nimmer lieht. | nie wieder Licht erblicken würde. | |
ich hilf im des lîbes in den aschen | Ich befreite ihm seinen Leib in die Asche | |
und slah im mit willen eine vlaschen, | und schlüge ihn bereitwillig mit einer Flasche, | |
daz im die hunt daz hirne ab der erde müezen naschen. | sodass ihm die Hunde das Hirn von der Erde naschen könnten. [2] |
An diesem exemplarischen Auszug aus einem der Lieder wird deutlich, welches Ausmaß die Gewalt bei Neidhart haben kann. Doch stellt sich beim Lesen der Werke Neidharts die Frage, welche Funktionen dieses Motiv der Gewalt erfüllt. Mit ebendieser Frage befasst sich der vorliegende Artikel. Den Fokus der Betrachtungen stellen dabei die konkurrierenden Dörper und die Figur des Sängers dar. Zwar weisen die Natur und auch die Minne gleichermaßen Gewalt auf, doch würden diese Betrachtungen den Umfang des Artikels sprengen. Aus diesem Grund werden sie nicht näher beleuchtet. Vor einer Analyse der Gewalt wird das zugrundeliegende Verständnis des Gewaltbegriffs in seinen unterschiedlichen Formen, Kategorien und Motivationen näher betrachtet und definiert. Daraufhin werden die einzelnen Aktanten oder Kontexte analysiert, in denen es zu einer Ausübung von Gewalt kommt. Betrachtet werden im Zuge dessen der Sänger und die Dörper. Untersuchungsgegenstand sind stets die Täter und nicht die Opfer der Gewalt. Hierbei werden anhand exemplarischer Stellen der Lieder die Formen, Kategorien, Motivationen und Funktionen der Gewalt herausgearbeitet. Aus der durchgeführten Analyse ergeben sich hinsichtlich der Lieder und der Funktionen der Gewalt diverse Interpretationsansätze, die im vorletzten Teil dieses Artikels angesprochen werden. In einer Schlussbemerkung, die diesen Artikel abrundet, werden die wichtigsten Ergebnisse nochmals resümiert und Impulse zu weiterführenden Betrachtungen gegeben.
Definition des Gewaltbegriffs
Der Begriff der Gewalt hat im Sprachgebrauch unterschiedliche Bedeutungen, die diverse Möglichkeiten der Gewaltausübung implizieren. Des Weiteren kann die Gewalt in unterschiedlichen Formen ausgeübt und auch unterschiedlich kategorisiert werden, was viel über das Verhältnis zwischen dem Gewaltausübenden und dem Opfer der Gewalt verrät.
Bedeutungen des Begriffs der Gewalt
Beim Begriff der Gewalt gilt es drei grundlegende Bedeutungen zu unterscheiden, die allesamt im Sprachgebrauch unter den genannten Begriff fallen.
Violentia
Zunächst bezeichnet der Begriff Gewalt einen Verstoß gegen das Recht und die Sitte. In diesem Fall wird ein Zwang auf eine oder mehrere Personen ausgeübt. Dieser Zwang kann entweder psychischer oder physischer Natur sein. Auf die unterschiedlichen Formen der Gewalt wird im weiteren Verlauf des Artikels näher eingegangen. Um Evidenz darüber zu haben, welche der Bedeutungen die thematisierte ist, wird diese Bedeutung der Gewalt im Folgenden mit dem lateinischen Begriff Violentia versehen. [Merten 1999: 13]
Potestas
Des Weiteren kann der Begriff Gewalt als Synonym von Macht, Befugnis oder auch Herrschaft verwendet werden. [DWDS] Folglich bezeichnet der Begriff die ungleiche Relation zwischen Parteien, die von Superiorität geprägt ist. Die Partei, die über die Herrschaft oder die Macht verfügt, setzt sich gegenüber der anderen involvierten Partei durch. Diese Bedeutung von Gewalt bezeichnet somit die Struktur zur Realisierung von Zwang und nicht den Zwang selbst. Im weiteren Verlauf des Artikels wird diese Bedeutung des Begriffs Gewalt fortan mit seiner lateinischen Entsprechung Potestas betitelt. [Merten 1999: 13]
Kraft
Schließlich kann der Begriff Gewalt gleichermaßen verwendet werden, um von großer Kraft oder einem hohen Maß an Stärke zu sprechen. Meist wird dies in Verbindung mit der Natur oder auch deren Naturgewalten verwendet. [Merten 1999: 13 f.]
Formen der Gewalt
Gewalt löst stets unterschiedliche Arten von Schmerz aus. Anhand dieser Schmerzen und den Folgen der Gewalt lässt sich ebendiese in ihre unterschiedlichen Formen differenzieren. Hier werden lediglich die Formen der Gewalt aufgelistet und näher definiert, die im weiteren Verlauf des Artikels von Importanz sind.
Physische Gewalt
Bei dieser Form der Gewalt handelt es sich um meist personelle, unmittelbare und gewalttätige Handlungen,[Gudehus 2013: 2] die vorsätzlich darauf abzielen, die körperliche Unversehrtheit eines Menschen zu beschädigen.[Gudehus 2013: 340]
Psychische Gewalt
Anders als die physische Gewalt zielt diese Form der Gewalt darauf ab, seinem Opfer seelisch-emotionale Schäden zuzufügen.[Gudehus 2013: 340]
Strukturelle Gewalt
Bei derartigen Formen der Gewalt handelt es sich um Machtaktionen, die für dauerhafte und transpersonelle Unterwerfung sorgen.[Gudehus 2013: 340f.]
Kategorien der Gewalt
Schließlich lassen sich die unterschiedlichen Gewaltbegriffe und ihre Formen in unterschiedliche Kategorien einteilen. Diese Kategorien setzen gleichermaßen den Täter und das Opfer miteinander ins Verhältnis.
Lozierende Gewalt
Bei dieser Gewaltkategorie soll ein Körper, der sich an einem Ort befindet, aus dem Weg geschaffen werden, damit der Täter sein angestrebtes Ziel erreichen kann. [Gudehus 2013: 2]
Raptive Gewalt
Eine derartige Ausübung von Gewalt zielt nicht auf das Erreichen von etwas ab, vielmehr will der Täter seinem Opfer etwas antun, es demütigen, verletzen und zerstören.[Gudehus 2013: 2]
Autotelische Gewalt
Die letzte Kategorie, in die sich Gewalt differenzieren lässt, verfolgt keine bestimmten Ziele, wie beispielsweise Erniedrigung oder das Erreichen von Etwas, die sich in zu- oder gar um- Formulierungen verfassen lassen. Diese Gewalt wird ausgeführt, weil es die Möglichkeit dazu gibt. Die Gewalt selbst gibt dem Täter den nötigen Anreiz, den es bedarf, um sie auszuführen, da das Verletzen per se den Sinn der Handlung darstellt. Anders als im Falle der zuvor genannten Kategorien ist diese Gewalt folglich weder extern noch intern motiviert.[Gudehus 2013: 2]
Gewalt bei Neidhart
Nach der ausführlichen Definition des Gewaltbegriffs wird im Folgenden auf die unterschiedlichen Aktanten in den Liedern Neidharts eingegangen. Zunächst wird ermittelt, ob es sich bei deren Gewalt um Violentia, Potestas oder Kraft handelt. Anschließend werden die Formen und Kategorien der Gewalt ermittelt. Unter Berücksichtigung der Relationen wird unter Verwendung von geeigneten Liedpassagen darauf eingegangen, welche Funktionen die Gewalt in den Liedern erfüllen. Die Betrachtungen gehen im Folgenden stets von den Tätern beziehungsweise den Gewaltausübenden und nicht von den Opfern aus.
Der Sänger
Beim ersten Blick auf die Figur des Sängers scheint es, als ob dieser selbst nicht als Täter auftrete. Vielmehr handle es sich bei ihm stets um das bemitleidenswerte Opfer der Dörper, auf die im weiteren Verlauf des Artikels näher eingegangen wird. Jedoch übt der Sänger gleichermaßen unterschiedliche Arten der Gewalt aus. Zunächst soll im Folgenden die Violentia des Sängers betrachtet werden, die stets legitimiert und somit abgemildert wird. Die Beschreibungen und der Einsatz dieser Gewalt des Sängers erfüllen auf diverse Art und Weise die Funktion, dass der Sänger sich von den Dörpern und deren Gewalt differenziert und sich über diese hinwegsetzt.
Gerade in den Winterliedern Neidharts evoziert das Werben um eine angebetete Dame Konkurrenz, Neider und Hass unter den unterschiedlichen Werbern. So führt das Konkurrieren zwischen Rouze und dem Sänger beispielsweise dazu, dass letzterer den Tanz frühzeitig verlassen muss. „[.] [D]eich mich selben niht enroufe“ (WL 13, VI, V. 7, derart begründet der Sänger sein frühzeitiges Verlassen. Er will seinem Konkurrenten physische Gewalt antun, um seine eigenen Ziele zu erreichen, mit seiner angebeteten Dame tanzen zu können und ihre alleinige Gunst zu erwerben. Folglich handelt es sich bei der angestrebten Violentia um eine lozierende Gewalt. Bestärkt wird dieser Eindruck durch die zahlreichen Minneklagen, in denen der Sänger seine Pein zum Ausdruck bringt. In einer Exclamatio, die das Leid weiter bestärkt, fleht der Sänger die Minne an, ihn freizulassen (vgl. WL 13, VI, V. 9). Dieses Flehen um Freiheit, das auf die Gewaltandrohung folgt, relativiert die Grausamkeit der Situation. Durch die Lenkung des Blinkwinkels auf das Leid des Sängers erscheint dieser das Opfer des Leides und nicht der Täter zu sein, was Empathie erweckt. Die gewaltvollen Gedanken des Sängers scheinen so nicht primär von ihm auszugehen. Vielmehr scheint es, als ob die Minne die Schuldige sei, die ihn zu derartigen Taten motiviere und er nicht anders könne. Die Einbindung einer höheren Gewalt, der der Sänger zum Opfer fällt, legitimiert seine Wünsche nach Gewalt und mildert zugleich deren Schwere ab. Des Weiteren ist an dieser Stelle zu berücksichtigen, dass der Sänger die Noblesse besitzt, sich über diese negativen Emotionen hinwegzusetzen und die Festivität vorab zu verlassen. Auch an einer anderen Stelle desselben Winterlieds zeigt sich der gehobene Charakter des Sängers. Erneut wird er mit einem Konkurrenten um die Gunst der Dame konfrontiert, was beim Sänger zum Wunsch nach physischer, raptiver Gewalt führt (WL 13, IV, V. 6-9):
Mittelhochdeutsch | Übersetzung | |
[...] nu will mir Engelwân | [...] Jetzt will mir Engelwan, | |
dîne hulde verren: daz im müeze misselingen, | deine Gunst rauben: Das soll ihm misslingen, | |
sô daz hundert swert ûf sînem kophe lûte erklingen! | auf dass hundert Schwerter auf seinem Kopf laut erklingen! | |
snîdent sî ze rehte, sî zerüttent im den spân. | Schneiden sie zurecht, sie zerstören ihm das Glied.[3] | |
Diese Gewalt findet nur im Imaginationsraum statt und erscheint dort zugleich potenziert. Jedoch wird auch hier erneut die Grausamkeit der Tat abgeschwächt, indem ein Ausruf vorangestellt wird. In diesem rückt zunächst nur der Hinweis auf einen akustischen Effekt in den Vordergrund. Des Weiteren legitimiert die Lächerlichkeit, mit der Engelmar in der nächsten Strophe dargestellt wird (vgl. WL 13, V), die brutalen Gedankenexperimente des Sängers. Im Ausruf des Sängers bleibt gleichermaßen unklar, von wem die imaginären Schwerter geführt werden sollen. Es ist nicht klar, ob der Sänger selbst der Vollstrecker der Taten zu sein wünscht. Durch die Anonymität des Täters lenkt der Sänger den Fokus auf die eigentliche Tat: die Vernichtung des Dörpers. Doch findet auch dieser Gewaltakt keine Realisierung, vielmehr verweilt er in der Imaginationswelt des Sängers. [Haufe 2003: 115-118] Da es sich bei diesem um den Erzähler der Geschehnisse handelt und dieser somit nicht nur steuert, wie etwas wiedergegeben wird, sondern gleichermaßen bestimmt, was der Rezipient erfährt, stellt sich die Frage, warum der Sänger das Publikum an diesen Fantasien teilhaben lässt. Bei der Kontextualisierung des bereits analysierten Zitats lässt sich eine weitere Funktion der Gewalt in den Neidhartliedern ermitteln. Der Hass und der Neid der Kontrahenten des Sängers (vgl. WL 13, III, V.1-3) führen zu Bekundungen seiner Unterlegenheit und zur Destabilisierung seiner Identität. So bleibt der Sänger beispielsweise auf Grund des Wirkens von Engelwan, Uoze und Ruoze „âne lôn“ (WL 13, III, V. 7). Durch den Einblick in die Gedankenwelt des Sängers wird dieser dem Status des Ohnmächtigen enthoben. Dem Publikum wird ersichtlich, dass es sich beim Sänger keinesfalls um das bemitleidenswerte Opfer der Dörper handelt, das über keinerlei Macht verfügt. Mittels des Gedankenexperiments zeigt der Sänger seine Widerstandsfähigkeit und wird ermächtigt. [Haufe 2003: 115-118]
Neben den physischen Violentiawünschen findet sich im Liederœuvre Neidharts eine weitere Form der Violentia, die psychische Gewalt, die den Sänger nicht zum Opfer, sondern zum Täter macht. Dies hat die Funktion, dass der Sänger sich weiter von den Dörpern differenziert und die Rezeption des Publikums hinsichtlich der Wahrnehmung der Dörper steuert. Bei der soeben angesprochenen psychischen Violentia, die der Sänger ausübt, handelt es sich um Spott. Gemäß Plotke bezeichnet Spott das Verhältnis zwischen einem Spötter und dem scherzend oder scharf-verletzend herabgesetzten, verspotteten Objekt. Dabei würden bestimmte Merkmale oder Eigenschaften des verspotteten Objekts durch den Spötter wertend hervorgehoben, indem sie dargestellt würden. Hierbei versetze sich der Spötter in die Rolle eines objektiven Arbiters und distanziere sich somit vom verspotteten Objekt, wodurch er gleichermaßen selbst zum Publikum würde. Der Spott könne aber nur dann gelingen, wenn einerseits das verhöhnte Objekt in der Darstellung des Spötters noch erkennbar sei und andererseits die Distanz des Spötters zu diesem Objekt klar erkennbar sei. Hierin bestehe nach Plotke das Dilemma des Spotts, das mittels Hyperbolik gelöst werde. Des Weiteren bestehe die Gefahr des Spotts darin, dass der Spötter durch den Akt des Spottens, bei dem er das Spottobjekt auf Grundlage von kulturellen Normen und gesellschaftlichen Codes richte, so selbst zum Spottobjekt werden könne. Der Akt des Spottens und der implizierten Selbsterhebung könne gleichermaßen eine Verletzung der Normen sein. Der Spötter könne dann in Gefahr geraten, auch von anderen verhöhnt und ausgelacht zu werden. Der Minnesang eigne sich demnach besonders gut zum Spotten. [Plotke 2010: 23-26] In den Liedern Neidharts finden sich zahlreiche Verspottungen des Sängers, die sich gegen die Dörper richten. Der Sänger verspottet die Dörper, indem er beispielsweise konkrete Figuren dieser Gemeinschaft als den „tumbist under geilen getelingen“ (WL 24, III, V. 1) bezeichnet. Mittels der Verwendung des Superlativs überspitzt der Sänger den Charakter des Dörpers in seinem Spott. Auch die Verwendung von überspitzten Vergleichen, wie Engelmar, der mit einem „gemzinc“ (SL 22, VIb, V. 3) verglichen wird, dienen dem Sänger als Werkzeug zum Spotten. „[.] [I]ch gelîche sîn gephnætze ze einer saten tûben, / diu mit vollem krophe ûf einen korenkasten stât [.]“ (WL 13, V, V. 8 f.), heißt es beispielsweise im Winterlied 13 über Engelwan. Die bereits von Plotke angesprochene Übertreibung wird jedoch nicht nur an den Vergleichen oder Adjektiven, mit denen die Figuren beschrieben werden, ersichtlich. Die Hyperbolik zeigt sich gleichermaßen beim Versuch, die Dörper nach ihrer Verwerflichkeit zu hierarchisieren. Ein derartiges Unterfangen scheint bei Neidharts Liedern nicht möglich zu sein, da die auftretenden Dörper in ihrer Verwerflichkeit stets in Extrema auftreten. Wie bereits beschrieben, ist es in einem Moment Engelwan, der als der Schlimmste gilt, jedoch nominiert der Sänger daraufhin einen anderen Dörper, der als noch „ungevüeger“ (WL 27, V, V. 8) gelte. Nicht nur das Verhalten oder der Charakter der Dörper fallen dem Sänger zum Spott, vielmehr ist es auch ihr Auftreten und Gebaren, die er verhöhnt. So schmücken sich die Dörper beispielsweise mit einem „rôten buosemblech“ (WL 27, VII, V. 7) oder führen ihr Schwert „rûmegazze“ (WL 10, I, V. 11) zu Festivitäten mit sich. Schließlich stellt auch die Betitelung der Kontrahenten des Sängers Spott dar. Unter den Begriff der Dörper fallen die männlichen Gegenspieler des Sängers. Hierbei stellt sich die Frage, wer mit diesem Begriff gemeint sein kann. Würde der Sänger derart Referenzen zum dritten Stand machen, bleibt unklar, warum diese nicht als bûren oder gebûren bezeichnet werden. Der Begriff der Dörper stammt aus dem Niederdeutschen und taucht vor Neidhart nicht im Mittelhochdeutschen auf. Deswegen wird vermutet, dass erst Neidhart die Bezeichnung für derartige Gestalten einführte. Hinsichtlich der Verwendung des Begriffs im Niederdeutschen scheint es im Vergleich zum Mittelhochdeutschen eine Bedeutungsverschiebung gegeben zu haben. Als Dörper werden im Mittelhochdeutschen die Menschen bezeichnet, die ein unhöfisches und nicht den Normen entsprechendes Benehmen aufweisen. Daraus schlussfolgert Schweikle, dass die Dörper nicht nur die Kontrahenten des Sängers hinsichtlich des Werbens um die Dame sind. Vielmehr stellen die Dörper gleichermaßen die sich unhöfisch verhaltenden Gegenspieler zu dem sich höfisch gebarenden Sänger dar. Bei den Dörpern könne es sich um den niederen Landadel handeln, der im ländlichen Raum angesiedelt war. Durch die derartige Bezeichnung der gegen die höfischen Werte und Sitten verstoßenden Figuren werden diese folglich sozial abgewertet und verspottet. Gleichermaßen distanziert sich der sich höfisch gebarende Sänger durch die Verwendung des Begriffs der Dörper von diesen Figuren. [Schweikle 1991: 214-221] Auch die Namen, mit denen die Dörper versehen werden, stellen eine Form des Spottens dar. Die Namen stehen im Kontrast zu den Taten und dem Charakter der Dörper. Vergleichbar mit den Waffen und der Kleidung scheint es bei Namen wie „Fridepreht“ so, als sei die Figur friedlich und gut. Doch handelt es sich bei derartigen Vermutungen, die sich aus der Bedeutung des Namens ableiten, um Irrtürmer. Der scheinbar friedenswahrende Dörper handelt „ze leide“ (WL 24, X, V. 1) des Sängers. Somit stehen das Äußere und Innere der Dörper erneut im Kontrast zueinander. [Braun 2007: 265]
Zusammenfassend erfüllt der Spott, egal ob er sich gegen den Charakter der Dörper, deren Kleidung oder auch gegen sie selbst richtet, die Funktion, dass der Sänger sich von den Dörpern distanziert und sich gleichermaßen über sie hinwegsetzt.
Der Sänger übt neben der Violentia noch eine ganz andere Art der Gewalt aus: Potestas. Zum einen ist es der Sänger selbst, der beispielsweise von den oben beschriebenen Taten der Dörper berichtet. Es ist der Sänger selbst, der wählt, wie er seine Geschichte erzählen will, welche Worte er beispielsweise hierfür gebrauchen möchte. Der Sänger ist es, der sich dazu entscheidet, die Dörper als solche zu bezeichnen, was die bereits analysierten Folgen und Funktionen mit sich bringt. Das Erzählen des Sängers lässt das Publikum beispielsweise Empathie empfinden, als er beklagt, dass er seine Tage „âne vröude“ (WL 24, II V. 2) verbringen muss. Da der Sänger auf die Gefühle und die Rezeption des Publikums einwirkt, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei dieser Gewalt um eine Form der psychischen Gewalt handelt. Dabei will der Sänger dem Publikum nicht schaden, vielmehr hat es den Anschein, als wolle der Sänger durch das Erzählen aus seiner Sichtweise das Publikum in die Geschehnisse einbeziehen. Durch die bereits analysierten Spottelemente erfüllt diese Potestas die Funktion, dass die Sichtweise und Rezeption des Publikums gesteuert werden. Dem Publikum wird der Blickwinkel auf beispielsweise bestimmte Figuren und deren Wertung fest vorgegeben.
Zum anderen übt der Sänger Potestas auf Figuren der Lieder aus, wie anhand der Mutter-Tochter Dialoglieder ersichtlich wird. Der Sänger schafft es, die Figuren in seinen Bann zu ziehen, sie zum Following anzuregen. Die Gewalt, die der Sänger ausübt, stellt Emotion und Vernunft einander gegenüber. Während die Tochter sich ihren Emotionen hingeben und Hand in Hand mit dem Sänger „zuo der linden“ (SL 18, I, V. 7) springen möchte, appelliert die Mutter an den Verstand ihrer Tochter. „[.] [E]r beginnt dich slahen, stôzen, roufen / und müezen doch zwô wiegen bî dir loufen“ (SL 18, V, V. 6 f.), warnt die Mutter ihre Tochter. Die angesprochene Gegenüberstellung wird beispielsweise an den verwendeten Symbolen, wie „der linden“ (SL 18, I, V. 7), die für die Liebe steht, ersichtlich. In Opposition dazu befindet sich die Mutter, die ihrer Tochter deren Zukunft „vor geseit“ (SL 18, IV, V. 2). An dieser Stelle soll der Streit jedoch nicht näher beleuchtet werden, da dies den Rahmen dieses Artikels sprengen würde. Es soll lediglich festgehalten werden, dass der Sänger eine gewisse Gewalt über die Figuren der Lieder ausübt, wodurch Themen, wie der Zwist zwischen Vernunft und Emotion angesprochen werden.
Zusammenfassend lässt sich hier festhalten, dass sowohl der Gebrauch der Violentia als auch der der Potestas unterschiedliche Funktionen in den Liedern Neidharts erfüllen. So sorgt der Einsatz von Gewalt dafür, dass zwischen dem Sänger und den Dörpern Distanz aufgebaut wird, indem der Sänger über diese spottet oder von seinen gewaltvollen Fantasien berichtet. Die Besonderheit dieser Gewalt besteht darin, dass diese stets legitimiert und dadurch abgeschwächt wird. Des Weiteren impliziert die Distanz zu den Dörpern eine Ermächtigung des Sängers. Auch die Art und Weise, wie der Sänger über die Dörper und Geschehnisse berichtet, üben eine gewisse Gewalt auf die Rezipienten seines Gesanges aus. So wird diesen vorgegeben, wie bestimmte Figuren gesehen werden sollen. Folglich wird die Rezeption des Publikums gesteuert, was Auswirkungen, wie Empathie für den Sänger, haben kann. Gleichermaßen hat der Sänger innerhalb der vorgetragenen Lieder Follower. So verfallen auch junge Mädchen seinem Bann und streben danach, sich ihren Emotionen hinzugeben und dem Sänger ins Reuental zu folgen. Dem gegenüber steht die rational denkende Mutter, die an den Verstand ihrer Tochter appelliert. Der Konflikt zwischen den Frauen wird durch die Macht des Sängers hervorgerufen. Durch diesen können Themen, wie die Opposition zwischen Emotion und Verstand behandelt werden.
Die Dörper
Anders als im Falle der Figur des Sängers, bei der es überwiegend den Anschein hat, dass diese nur als Opfer auftrete, ist bei den Dörpern die Gewalt und deren Täterrolle äußerst deutlich. Wie auch der Sänger üben die Dörper unterschiedliche Formen der Violentia und Potestas aus, die verschiedene Funktionen erfüllen.
Die Violentia, die sich bei den Dörpern ausmachen lässt, tritt in Form von physischer Gewalt auf. Diese kann sich gegen die Dörper untereinander, gegen den Sänger und auch gegen Frauen richten. Durch die Beschreibung der Gräueltaten der Dörper stehen diese im Kontrast zum Sänger. Im Zuge dieser Analyse soll die Opposition des bereits behandelten Sängers beleuchtet werden. Die Einfachheit und Unterlegenheit der Dörper wird durch die Gewaltbeschreibungen gezeigt. Manche Dörper tragen Waffen, die aus der höfischen Welt stammen, wie das „lange swert“ (WL 24, Va, 2), das sie mit sich auf Tänzen führen. Des Weiteren legt ihre Kleidung gleichermaßen die Vermutung nahe, dass die Dörper sich den höfischen Normen entsprechend gebührlich verhalten. [Herchert 2010: 34-38] Die Dörper kleidet ein „üppiclîch gewant“ (WL 27, VIIa, V. 8). Zudem schmücken sie sich mit den unterschiedlichsten Kostbarkeiten, wie „wunder pfeffer“ (WL 27, VIIa, V. 3), „muscât, negele [.] [und] pfâwenspiegel“ (WL 27, VIIa, V. 4). Derart beschreibt der Sänger „der dörper glanz“ (WL 27, VIIa, V. 4). Die Beschreibung des Äußeren der Dörper lässt zu dem Schluss kommen, dass es sich bei diesen Figuren um gesittete, den höfischen Normen, die inszeniert werden, entsprechende Figuren handle. Jedoch zeigt sich im Verhalten der Dörper nicht der zu erwartende höfische Charakter. Ihre Kleidung und ihre Waffen stehen im Kontrast zu ihrem Verhalten. Die Delikte, die von ihnen begangen werden, sind von unterschiedlicher Schwere. Die verzeihlicheren Taten stellen beispielsweise das Bewerfen mit Eiern dar (vgl. WL 3, V). Doch unterstreicht der Sänger auch an dieser Stelle den diabolischen Charakter der Dörper und wertet deren milde Tat zu einem schwerwiegenderen Vergehen auf. Dies erreicht der Sänger, indem er seine eigenen Gedanken mit dem Publikum teilt. Er unterstellt den Dörpern im Kontakt mit dem „tievel“ (WL 3, V, V. 5) zu stehen, da dieser Ruprecht das Ei, das eine Prügelei evoziert, überreicht. Ebenso wie der Sänger scheinen auch die Dörper von einer höheren Macht beeinflusst zu werden. Anders als im Falle des Sängers, der nach der Minne strebt, ist es der Teufel, der mit den Dörpern in Verbindung gebracht wird. So stehen sich auch hier zwei Extrema gegenüber: die Minne, die für das Positive steht, und der Teufel, die Personifikation des Bösen und der Sünden. Die Gewalt der Dörper gegeneinander kennt keine Grenzen. Sie kann von kleineren Delikten, wie dem Werfen eines Eis, bis hin zum Tode führen. Die Dörper wollen sich schlagen, „daz diu sunne durch si schîne“ (WL 14, V, V. 6). Der Sänger weist in den Liedern auch auf die Opfer und Toten der Prügeleien der Dörper und somit auf deren Grausamkeit hin, wie beispielsweise in Winterlied 14, VIh, V. 9-13:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung | |
si wârn sô frech, | Sie waren so dreist, | |
daz vor meier Friderîch ir zwêne wurden erslagen | dass sie beide vor Meier Friderich erschlagen wurden | |
und drîzic wunde, dô si den ab hiuwen: | und dreißig Verletzte, da sie den schlugen: | |
aldurch ir haz | alles durch ihren Hass | |
in schedel unde in kiuwen | im Kopf und im Kiefer | |
enpfiengens tiefe scharten, einr des andern niht vergaz. | erhielten sie tiefe Verletzungen, die einer dem anderen nicht vergessen konnte. | |
Bei einer derartigen Gewalt stellt sich die Frage nach dem Auslöser und um welche Kategorie der Gewalt es sich handelt. Es sind Nichtigkeiten, wie das Entreißen einer Wurzel (vgl. WL 24, VIa, V. 5), die die Dörper zu diesen Prügeleien und Gewalttaten treiben. Auf Grund des Fehlens von Begründungen oder derartig nichtigen Taten, die zu der beschriebenen immensen Gewalt führen, lässt darauf schließen, dass es sich um autotelische Gewalt handelt. Diese steht im Kontrast zu der bereits beschriebenen imaginären und legitimierten Gewalt des Sängers. Die Grausamkeit und der verwerfliche unhöfische Charakter der Dörper werden so herausgestellt. Es sind nicht nur die Waffen und die Kleidung, die den Hof ausmachen. Vielmehr ist es auch das höfische Verhalten, das von großer Importanz ist. Im Vergleich der Dörper mit dem Sänger scheinen sich diese ihren Emotionen hinzugeben und einfacher zu sein. Während der Sänger fähig ist, seinen Emotionen und der Ausübung von Gewalt zu widerstehen, reichen bei den Dörpern die kleinsten Sachen, um Prügeleien hervorzurufen. Sie reflektieren nicht, sondern geben sich voll und ganz ihrem Hass hin. Schließlich erfüllt diese Gewalt noch eine weitere Funktion, wenn die Aufführungspraxis der Lieder bedacht wird. Das Publikum ist stets höfisch. Da dieses folglich mit den höfischen Normen vertraut ist, stellen die Dörper und deren Darstellung für sie eine Unterhaltung dar. [Schweikle 1990: 123-130] Auf den Aspekt der Unterhaltung wird im folgenden Kapitel näher eingegangen.
Die Gewalt der Dörper richtet sich jedoch nicht nur gegen sich selbst. Auch Frauen fallen den Dörpern des Öfteren zum Opfer. Die Taten können dabei von Belästigungen über Diebstahl bis hin zu Vergewaltigungen reichen. Der prominenteste Diebstahl der Neidhartlieder stellt der Spiegelraub Frideruns dar, auf den in zahlreichen Liedern Anspielungen zu finden sind. Der Spiegel, der sich gleichermaßen auf Grund seiner üppigen Verzierungen (vgl. SL 22, VId f.) als ein höfisches Element identifizieren lässt, wird von Engelmar entwendet und zerbrochen. Erneut stehen die Dörper zur höfischen Welt im Kontrast. Des Weiteren lässt sich das Zerbrechen des Spiegels nach Schulze als die Vergewaltigung Frideruns deuten. [Schulze 2018: 102-107] Der Sänger lässt in diesem Fall einen recht großen Spielraum darüber, was das Publikum den Dörpern an Verwerflichkeit zumutet. Auch andere Stellen verweisen auf die Vergewaltigung von Frauen. Ein weiteres zentrales Motiv, das in diesem Kontext in den Liedern erscheint, ist das „bloumen brehen“ (SL 4, IV, V. 6). Bereits in dem verwendeten Verb steckt eine gewisse Gewalt. Dieser Akt des Blumenpflückens oder Brechens kann hinsichtlich des Verlustes der Jungfräulichkeit gedeutet werden. Neben dem Spiegelraub fallen die Frauen des Öfteren Diebstählen zum Opfer. „[.] [T]ockenwiegel“ (SL 22, VId, V. 2), „eine kleine rîsen guot“ (WL 27, IV, V. 9) und einen Ring (vgl. WL 18, IV, V. 1-3) fallen beispielsweise den Taten der Dörper zum Opfer und werden den Frauen entwendet. All dies entspricht keineswegs den höfischen Normen, wie mit einer Dame umgegangen werden soll. Folglich steht der Charakter der Dörper erneut im Kontrast zu deren Aussehen und dem Sänger.
Schließlich richten sich die Dörper mit ihrer Gewalt auch gegen den Sänger, was anhand der Trutzstrophen ersichtlich wird. Der profunde Hass, den die Dörper gegenüber dem Sänger empfinden, führt zu diversen Drohungen, die in hohem Maße von Brutalität gezeichnet sind. So wird die „weibelruote […] gewetzet“ (WL 10, VIb, V. 10), um den Sänger so aufzutrennen, „daz man wol einen sezzel in in setzet.“ (WL 10, VIb, V. 11) Des Weiteren ist in den Trutzstrophen die Rede von Rache am Sänger, da die Dörper diesen „bestân“ (WL 27, VIIc, V. 3) wollen. An der Brutalität, nach der sich die Dörper sehnen, wird erneut der bereits ausführlich beschriebene unhöfische Charakter der Dörper ersichtlich. Auch hier lassen sich diese von ihren Emotionen zu gewaltvoller Rache hinreißen und wollten dem Sänger als ein Kollektiv bekämpfen. Durch die Drohungen und den Hass, den die Dörper gegenüber dem Sänger hegen, wird dessen Arbeit erschwert. Denn ist es nicht die Aufgabe eines Sängers, bei Tanze zu singen und die Menschen zu unterhalten (vgl. SL 22, V f.)? Doch wie soll ein Sänger, der in einer Gemeinschaft mehr als unerwünscht ist, dies bewerkstelligen? In gewisser Weise ist der Sänger von seinem Publikum abhängig. Die Dörper üben strukturelle Gewalt, Potestas, auf den Sänger aus. Durch die Verweigerung und Entsagung ihrer Gunst ist der Sänger gezwungen, weiterzuziehen. Er muss eine neue Bleibe finden, die seine Kunst zu würdigen weiß. Beispielsweise heißt es so in Winterlied 24, VIII:
Mittelhochdeutsch | Übersetzung | |
Ich hân mînes herren hulde vloren âne schulde: | Ich habe die Gunst meines Herren ohne Verschulden verloren: | |
dâ von so ist mîn herze jâmers unde trûrens vol. | Daher ist mein Herz so von Leid und Traurigkeit erfüllt. | |
rîcher got, nu rihte mirz sô gar nâch dîner hulde, | Mächtiger Gott, jetzt verschaffe mir ganz nach deiner Gnade Recht, | |
manges werden friundes daz ich mich des ânen sol! | viele werden sich freuen, dass ich es aufgeben muss! | |
des hân ich ze Beiern lâzen allez, daz ich ie gewan, | Alles, was ich je erworben hatte, das habe ich alles in Bayern gelassen, | |
unde var dâ hin gein Ôsterrîche und wil mich dingen an den werden Ôsterman. | und fahre hinweg, in Richtung Österreich und ich will danach streben, Österreicher zu werden. | |
Ein weiteres Indiz auf die Gewaltbereitschaft und den verwerflichen Charakter der Dörper findet sich in deren Namen. Diese fungieren so als sprechende Attribute, wie im Falle der Namen „Engelmâr“ (WL 24, V, V. 3) und „Sigemâr“ (WL 19, III, V. 6). Wie auch bei den Waffen und der Kleidung scheint es zunächst so, als stammten die Träger dieser Namen aus einem höfischen Kontext. Doch ist es das zweite Morphem, das hier einen Bruch erzeugt. Dieses gibt Evidenz über den ungebührlichen Charakter der Dörpers. [Braun 2007: 264 f.] Das mittelhochdeutsche Substantiv mar oder auch mare kann nach Lexer unter anderem mit quälendem Nachtgespenst oder als ein Nachtalp übersetzt werden. [Lexer] Wie bereits aus den vorhergegangenen Analysen ersichtlich, passt diese Beschreibung recht gut auf Engelmar, da auch dieser beispielsweise Friderun wie ein quälendes Gespenst heimsucht (vgl. SL 22). Zum anderen referieren die Namen der Dörper auch direkt auf Waffen, was gleichermaßen deren Gewaltbereitschaft unterstreicht. In der Gemeinschaft der Dörper finden sich so Figuren mit Namen wie „Lanze“ (WL 1, III, V. 11).
Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die Gewalt der Dörper sich sowohl gegen sich selbst als auch gegen Frauen und gegen den Sänger richten kann. Schon die Namen der einzelnen Figuren der Dörper zeugen von deren Gewaltbereitschaft. Bei der Gewalt, die in unterschiedlichen Formen ausgeübt wird, handelt es sich um Violentia und Potestas. Sie führt unter anderem dazu, dass der Sänger sich eine neue Heimat suchen muss und erfüllt die Funktion, dass auf den niederen Charakter der Dörper hingewiesen wird. Dieser steht nicht nur im Kontrast zu deren höfischer Kleidung oder den höfischen Waffen, die die Dörper mit sich führen, vielmehr stehen sie auch im Kontrast zum Gebaren des Sängers. Die Einfachheit und Unterlegenheit zeigt sich in allen Formen des Umganges der Dörper. Die höfischen Normen werden dabei auf vielerlei Weisen verletzt, wie aufgezeigt wurde.
Interpretationsansätze
Nach ausführlicher Untersuchung der Funktionen der Gewalt in den Liedern Neidharts soll in diesem Kapitel die Frage gestellt werden, wie sich diese ermittelten Funktionen interpretieren lassen. In den vorherigen Kapiteln wurde ersichtlich, dass es zwischen dem Sänger und den Dörpern profunde Unterschiede gibt, die mittels der Gewalt hervorgehoben und verdeutlicht werden.
Wie bereits erwähnt, verweist Schweikle auf den Unterhaltungswert, den die Darstellung der Dörper und deren Gewalt biete. [Schweikle 1990: 123-130] Auf diesen Unterhaltungswert kann geschlussfolgert werden, wenn die Aufführungspraxis der Lieder berücksichtigt wird. Schließlich werden die Lieder Neidharts einer Gesellschaft vorgetragen. Doch handelt es sich dabei keinesfalls um Dörper. Vielmehr stellt das Publikum eine höfische Gesellschaft dar, die mit den höfischen Normen und Werten vertraut ist. Anders als die Dörper schmückt sich dieses höfische Publikum nicht nur mit beispielsweise höfischen Waffen, wie dem Schwert, sondern ist gleichermaßen fähig, sich dementsprechend zu verhalten. Die Gewalt und Brutalität der Dörper zeigen, dass diese sich nicht derart verhalten können. Sie scheitern an dem Versuch, höfisch zu wirken. Des Weiteren scheint der Sänger, der die Lieder bei Hofe vorträgt, nicht missachtet zu werden, wie die Sängerfigur, die von den Dörpern nicht wahrgenommen (vgl. WL 23, II) und schließlich vertrieben (vgl. WL 24) wird. Auch hier zeigt sich ein Kontrast zwischen dem Publikum bei Hofe und dem Dörperpublikum. Natürlich stellen derartige Inszenierungen von Liedern bei Hofe immer eine Unterhaltung dar. [Herchert 2010: 9-15] Doch stellt sich die Frage, ob in den Liedern Neidharts noch mehr zu finden ist, als reine Unterhaltung. An dieser Stelle soll nochmals auf die bereits behandelte Dörperproblematik verwiesen werden.
Es existieren Hypothesen, die besagen, dass Neidhart durch seine Lieder die reichgewordenen Bauern, die sich höfisch inszenieren wollen und so die höfische Kultur zerstören, kritisiere. Demnach würde Neidhart in seinen Liedern gegen die soziale Mobilität vorgehen, indem er den Adel auffordere, derartige Bauern zu vertreiben und so die höfischen Werte zu stabilisieren. [Mück 1986: 184-189] Solche Hypothesen lassen sich jedoch kritisch hinterfragen, wenn die Verwendungen der mittelhochdeutschen Begriffe bûre und dörper näher beleuchtet werden. Wie bereits in einem der vorherigen Kapitel näher erläutert, wird ersichtlich, dass Neidhart mit der Bezeichnung dörper keinesfalls auf den dritten Stand verweist. Wie bereits beschrieben, lassen sich die Dörper als der Adel deuten, der auf dem Lande ansässig ist und nicht den höfischen Regeln konform lebt. Folglich würden die Lieder Neidharts diesen Adel gesellschaftskritisch thematisieren. Indizien darauf wären beispielsweise die Verwendung von Arbeitsgerätschaften. „[.] [D]ie dörper raien / gar uppiglichen auf dem plan“ (c1, III, V. 3f.) [SNE], während der Sänger den „[.] [H]err[n] Pflug“ (c1, III, V. 8) [SNE] beklagt. Hierbei könnte das Arbeitsgerät personifiziert worden sein, was zu deuten wäre als die Missachtung der Pflichten der Dörper. Anstelle dafür zu sorgen, dass die Felder bestellt werden und sie den Pflichten nachgehen, feiern die Dörper rauschende Feste.
Jedoch lässt sich die Kritik Neidharts an der höfischen Gesellschaft nicht nur auf den Landadel beziehen. Vielmehr hält Neidhart der Gesellschaft bei Hofe einen Spiegel vor, wenn seine Lieder dort vorgeführt werden. [Schweikle 1990: 128 f.] Die Dörper treten in den Liedern als literarischer Gegentypus zum idealhöfischen Ritter auf. Die Normen, die die Dörper missachten, stellen meist ritterlich-höfische Werte dar: Beispielsweise im Falle des Umgangs mit Frauen und dem angemessenen Verhalten bei Tanz, Spiel und Turnier brechen die Dörper mit ebendiesen Werten. [Schweikle 1990: 123-130] Gleichermaßen wäre es plausibel, einen Schritt weiter zu gehen. Neidhart arbeitet in seinen Liedern viel mit Verschleierung und Maskierung. Ebenso scheint die Hypothese plausibel zu sein, dass auch im Falle der Dörper mit einer derartigen Verschleierung gearbeitet wird. Durch die Unklarheit, wer unter diesem Begriff zu fassen ist, wird der Fokus mehr auf die Taten und das Auftreten der Dörper und weniger auf die Figuren selbst gelegt. Ein Beleg für diese Hypothese würden die bereits erläuterten Namen, die für die Figuren verwendet werden und gleichermaßen eine Funktion innehaben, darstellen. Diese scheinen weniger dazu zu dienen, einer Figur ihre Identität und Individualität zu verleihen. Vielmehr intensivieren sie den verwerflichen Charakter des jeweiligen Dörpers, indem sie beispielsweise zu dessen Verhalten im Kontrast stehen. Demzufolge spielt es keine Rolle, ob der Begriff der Dörper nur die feudale Gesellschaft oder den Landadel umfasst. Der Fokus scheint mehr auf den Taten zu liegen, die im Kontrast zum Sänger stehen. So sind es die Missachtung und Gewalt gegenüber den höfischen Werten und Normen, die kritisiert werden.
Doch bricht die Sängerfigur nicht gleichermaßen mit den höfischen Normen und Werten, indem sie beispielsweise über die Dörper spottet oder diesen gar droht? Folglich ließe sich auch an ihr der Zerfall der höfischen Sitte beobachten, was ihr keine Legitimation zur Kritik geben würde.
Schlussbemerkung
Anmerkungen
- ↑ Angaben im Folgenden nach [Neidhart]. Die Winterlieder werden im Verlauf dieses Artikels mit der Sigle WL versehen, während die Sommerlieder mit der Sigle SL versehen.
- ↑ Da der Gewaltakt im Imaginationsraum des Sängers stattfindet, wurde der Konjunktiv II für die Übersetzung gewählt.
- ↑ spân kann gleichermaßen gemäß Matthias Lexer [Lexer] mit "hobelspanförmige ringelung der äussersten haare" übersetzt werden. Auch Beate Hennung [Henning] gibt neben Glied weitere Übersetzungsmöglichkeiten, wie Locke oder (Holz-)Span vor.
Bibliographie
Primärliteratur
[*Neidhart] Wenn nicht anders gekennzeichnet, wurden die Lieder Neidharts nach der ATB Ausgabe von Wießner und Fischer zitiert:
Die Lieder Neidharts, hg. von Edmund Wießner, fortgeführt von Hanns Fischer, revidiert von Paul Sappler und dem Melodienanhang von Helmut Lomnitzer, 5. verbesserte Auflage, Tübingen 1999 (Altdeutsche Textbibliothek 44).
[*SNE]Dieses Lied Neidharts wurden der Ausgabe von Müller, Bennewitz und Spechtler entnommen:
Neidhart-Lieder der Papier-Handschriften mit ihrer Parallelüberlieferung, hg. von Ulrich Müller, Ingrid Bennewitz und Franz Viktor Spechtler, Salzburger Neidhart-Edition (SNE), Berlin und New York 2007 (Neidhart-Lieder. Texte und Melodien sämtlicher Handschriften und Drucke, Band 2).
Sekundärliteratur
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- [*Braun 2007] Braun, Manuel: Spiel Autonomie (unveröffentl. Habil.), S. 259-280.
- [*DWDS] https://www.dwds.de/wb/Gewalt, abgerufen am 16.02.2021.
- [*Gudehus 2013] Gudehus, Christian und Christ, Michaela: Gewalt. Ein interdisziplinäres Handbuch, Darmstadt 2013.
- [*Haufe 2003] Haufe, Hendrikje: Minne, Lärm und Gewalt. Zur Konstitution von Männlichkeit in Winterliedern Neidharts, in: Aventiuren des Geschlechts. Modelle von Männlichkeit in der Literatur des 13. Jahrhunderts, hg. von Martin Baisch el al., Göttingen 2003 (Aventiuren 1), S. 101-122.
- [*Herchert 2010] Herchert, Gaby: Einführung in den Minnesang, Darmstadt 2010 (Einführungen Germanistik).
- [*Merten 1999] Merten, Klaus: Gewalt durch Gewalt im Fernsehen?, Opladen, Wiesbaden 1999.
- [*Mück 1986] Mück, Hans-Dieter: Ein 'Politisches Eroticon'. Zur Funktion des 'Spiegelraubs' in Neidharts Liedern der Handschrift c (mgf 779), in: Minne ist ein swaerez spil. Neue Untersuchungen zum Minnesang und zur Geschichte der Liebe im Mittelalter, hg. von Ullrich Müller und Peter Dinzelbacher, Göppingen 1986 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 440), S. 169-208.
- [*Plotke 2010] Plotke, Seraina: Neidhart als Spötter – Spott bei Neidhart, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 57/1 (2010), S. 23-34.
- [*Schulze 2018] Schulze, Ursula: Grundthemen der Lieder Neidharts, in: Neidhart und die Neidhart-Lieder. Ein Handbuch, hg. von Margarete Springeth und Franz Viktor Spechtler, Berlin, Boston 2018, S. 95-116.
- [*Schweikle 1990] Schweikle, Günther: Neidhart, Stuttgart 1990 (Sammlung Metzler Realien zur Literatur Band 253).
- [*Schweikle 1991] Schweikle, Günther: Dörper oder Bauern. Zum lyrischen Personal in den Werken Neidharts, in: Das Andere Wahrnehmen. Beiträge zur europäischen Geschichte, August Nitschke zum 65. Geburtstag gewidmet, hg. von Martin Kintzinger, Köln [u.a.] 1991.
Nachschlagewerke
- [*Lexer]Lexer, Matthias: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, <https://www.woerterbuchnetz.de/Lexer>, abgerufen am 20.02.2021.
- [*Henning] Hennig, Beate: Kleines mittelhochdeutsches Wörterbuch, 6., Berlin, Boston 2014.