Performativität mittelalterlicher Literatur

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Die Performativität mittelalterlicher Literatur lässt sich unter mehreren Aspekten der literarischen Performativität betrachten. Als wesentlicher ist dabei der Aspekt des mündlichen Vortrags zu nennen, der für die größtenteils analphabetische mittelalterliche Gesellschaft eine entscheidende Rolle bei der Verbreitung von Literatur spielte.

Performativität in den verschiedenen literarischen Gattungen des Mittelalters

Minnesang

Unter Minnesang versteht man, in Abgrenzung zur Sangspruchdichtung, vor allem die ritterlich-adlige Liebeslyrik des Mittelhochdeutschen. In der höfischen Kultur des mittelalterlichen Hochadels diente er in streng ritualisierter Form der Unterhaltung und als Variante des ritterlichen Wettkampfes. Trotz des Vorhandenseins handschriftlicher Überlieferungen dieser Gattung existierte der Minnesang primär in mündlicher, d.h. gesungener Form. Minnesänger traten als Verfasser, Komponist und Vortragender in Personalunion auf, und besangen vor ebenfalls adligem Publikum eine meist stark idealisierte vrouwe, um aus dem Leiden der unerwiderten Liebe gesellschaftliche Anerkennung zu erwerben. Entscheidend dafür war der geglückte Vortrag, also das Bestehen vor dem Publikum. Die Gedichte des Minnesangs waren dezidiert für den mündlichen Vortrag verfasst. Interaktionen zwischen Sänger und Zuhörern fanden statt (Publikumsanrede etc.). Wichtige Vertreter waren z.B. Walther von der Vogelweide sowie Wolfram von Eschenbach.

Sangspruchdichtung

Die Sangspruchdichtung umfasst im Allgemeinen den Teil der mittelhochdeutschen Lyrik, der sich im Gegensatz zum Minnesang in stark didaktischer Ausrichtung vor allem politischen, moralischen und religiösen Themen widmete und ausschließlich von professionellen Dichtern und Sängern verfasst und vorgetragen wurde. Diese fuhren mit ihrer Kunst von Hof zu Hof und fanden ihr Publikum in Vertretern aller Stände – Adlige, Geistliche, aber auch Laien und einfaches Volk. Durch ihr Dasein als „Fahrende“ standen sie von diesem in großer Abhängigkeit, weswegen Auftragswerken und Gönnerschaften eine große Bedeutung zukam. Allerdings muss auch dieses Rollenbild hinterfragt werden, da als einzige Quelle die Texte selbst dienen, und daher im Sinne der Sangspruchdichtung als Rollenlyrik von einer Selbstinszenierung der Dichter und Sänger ausgegangen werden muss. Über ihren tatsächlichen sozialen Status oder autobiographische Details ist hingegen wenig bis nichts bekannt. Wichtige Vertreter waren z.B. Walther von der Vogelweide und Heinrich von Meißen (Künstlername: “Frauenlob“). Charakteristisch für die Sangspruchdichtung ist darüber hinaus die Liedform, bestehend aus mehreren Strophen der gleichen musikalischen und metrischen Bauform, welche dôn genannt wird. Eine Einheit aus wort (Text) und wîse (Melodie), bildet demnach ein liet (Einzelstrophe).

Heldenepik

Auch die Vermittlung mittelalterlicher Heldenepik erfolgte im Wesentlichen in mündlicher Form. Durch ihre meist uneinheitliche schriftliche Überlieferung liegt sie in einem Spannungsfeld zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. So vertritt z.B. die oral-poetry-Forschung die Ansicht, den Sängern habe von der betreffenden Erzählung lediglich ein Gerüst aus Formeln und Handlungsschemata zur Verfügung gestanden, das bei jedem Vortrag neu ausgeschmückt und gefüllt wurde. Vor allem das Nibelungenlied weckte in dieser Hinsicht durch seine ungeklärte Urheberschaft und häufiges Vorkommen phrasenhafter Formeln großes Interesse. Auch wenn diese Ansicht heute größtenteils als überholt gilt, muss von einer starken Abhängigkeit der schriftlichen Überlieferung von der mündlichen ausgegangen werden.


Weitere performative Aspekte mittelalterlicher Literatur

Im Umgang mit mittelalterlichen Texten als Produkt einer stark mündlich geprägten Epoche, in der Schrift den wenigsten zugänglich war, muss man neben der expliziten Aufführungssituation von weiteren performativen Elementen ausgehen, die dem Textverständnis zugrunde liegen. Auch die umfassende kulturelle Prägung durch das Christentum spielt eine wichtige Rolle. So geht man in der neueren Forschung von einer eben diesbezüglichen Vorstellung aus, wonach Texte in einer allgemeinen Performativität und Vollzugshaftigkeit verstanden werden:

„In der christlichen Vormoderne ist die performative Kraft der Zeichen von einem theologischen Logos-Konzept imprägniert: dem im Eingang der Genesis entwickelten und im Prolog zum Johannes-Evangelium aufgegriffenen Gedanken, die Welt sei durch die zugleich ursprünglichen und ewigen Schöpfungsworte Gottes hervorgebracht und damit Resultat einer Identität von Sprechen und Handeln.“ [1]

Auch die verschiedenen Zusammenhänge, in die mittelalterliche Texte durch ihre Verschriftlichung in Sammlungen wie z.B. diversen Codices gesetzt werden, führen in ihrer unterschiedlichen Perspektivierung der Texte zu einer performativen Dynamik, die Gegenstand der Forschung wurde. Die im Mittelalter übliche Rahmung der Texte durch Pro- und Epiloge, Anreden eines Zuhörers oder größeren Publikums (z.B. im Nibelungenlied), wodurch eine Erzählsituation suggeriert wird, gehört dazu, wie auch das Nebeneinander und Überlappen von Gegensätzen sowohl thematischer (Weltliches und Geistliches) als auch sprachlicher Art (Volkssprache und Latein). Abseits der großen literarischen Gattungen des Mittelalters finden sich zusätzliche Textsorten mit performativem Charakter. Hervorzuheben sind hier beispielsweise die im 11./12. Jahrhundert äußerst populären sprachmagischen Texte und Zaubersprüche, die im Sinne der Sprechakttheorie auf eine intendierte Wirkung im unmittelbaren Umfeld zielten. Christa M. Haeseli bezeichnet sie daher als „>radikalisierte< Sprechakte“[2].

Nachvollzug aus heutiger Zeit

Ein Nachvollzug der Aufführungssituation mittelhochdeutscher Literatur ist heute kaum noch möglich und nur schwer zu rekonstruieren, da zu vielen Texten und Liedern keine Partituren der zugehörigen Musik vorhanden sind. Text- und Liedersammlungen wie z.B. der Codex Manesse geben jedoch Aufschluss über den Liedcharakter der mittelalterlichen Literatur. In ihnen enthaltene Miniaturen lassen z.B. die Begleitung der Sänger durch Rhythmus-, Streich- und Blasinstrumente erahnen. Doch auch vorhandene Partituren geben kein umfassendes Bild ab, da zumeist nur die Gesangsmelodie überliefert ist, und die Frage nach Rhythmik, Dynamik und Ausgestaltung der Begleitung offen bleibt. Als eines der bedeutendsten Zeugnisse der Sangspruchdichtung gilt der Sängerkrieg auf der Wartburg, eine Sammlung mittelhochdeutscher Gedichte dieser Gattung aus dem 13. Jahrhundert, in Form eines fiktiven Dichterwettstreits, bei dem vorhandene Texte einer Vielzahl berühmter Dichter und Sänger in den Mund gelegt wurden.

Einzelnachweise

  1. C. Herberichs/C.Kiening: „Einleitung“. In: Literarische Performativität. Hrsg. v. C. Herberichs/C.Kiening. Zürich 2008. S. 17.
  2. Christa M. Haeseli: “Sprachmagische Texte (11./12. Jahrhundert)“. In: Literarische Performativität. Hrsg. v. C. Herberichs/C.Kiening. Zürich 2008. S. 63.

Siehe auch

Mittelalterliche Auftragsliteratur Rolleninszenierung bei Walther von der Vogelweide (nach Bennewitz / Grafetstätter) Prinzip Wiedererzählen Mittelalterliche Dichtkunst