Raumsemantik im 1. Dienst (Ulrich von Liechtenstein, Frauendienst)
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<--- %% In Ulrichs von Liechtenstein „Frauendienst“ (FD) unterscheiden sich die beiden Minnedienstes des Ich-Erzählers hinsichtlich der Kommunikation zwischen Minnediener und -herrin deutlich voneinander: Im 1. Dienst muss Ulrich auf eine "ganz[e] Reihe von Boten“[Kellermann 2010: S. 247] zurückgreifen, um über (räumliche und soziale) Grenzen hinweg mit der Minnedame kommunizieren zu können. „Anders im zweiten, unproblematischen [...] Dienst für eine Dame, die Ulrichs Werben mit Gegenliebe beantwortet. Der Bote als Nachrichtenübermittler kommt hier so gut wie gar nicht vor“[Kellermann 2010: S. 247f.]. Boten sind demnach im FD als Vermittler in einem Kommunikationszusammenhang nur dann notwendig, wenn im Text Grenzen vorhanden sind, die von ihnen - im Gegensatz zu anderen Figuren (meist Ulrich) - überwunden werden können.
Der vorliegende Artikel untersucht zunächst mithilfe von Jurij M. Lotmans Theorie der Raumsemantik die Grenzen im 1. Dienst des FD, um dann, in einem zweiten Schritt, die Grenzüberschreitungen von Boten - insbesondere hinsichtlich ihrer Relevanz für die histoire des Textes - untersuchen zu können. Dabei ist zu klären, wieso Boten überhaupt Grenzen überschreiten können (und Ulrich eben nicht) und wieso diese Überschreitungen im bzw. für den FD notwendig sind.
Jurij M. Lotman: Theorie der Raumsemantik
Lotmans erzähltheoretische Theorie konzentriert sich auf die räumliche Organisation von Texten. Das Kunstwerk entspreche, so Lotman, einem „abgegrenzten Raum“[Lotman 1993: S. 311], der seinerseits in verschiedene Räume unterteilt sei. Die Gesamtheit der Räume bilde die Grundordnung eines Textes und konstituiere sich als „Ergebnis einer Konstruktionsleistung“ „erst durch die Setzung einer Grenze“[Krah o.J.: S. 2]. Ein Raum ent- und besteht somit in Abgrenzung zu einem anderen, d.h. qua Differenz, welche insbesondere an der Grenze zwischen diesen beiden Räumen sichtbar wird.
Die Raumgrenze muss „unüberwindlich sein“ und wird so zum „wichtigsten topologischen Merkmal“, indem sie den Text (bzw. dessen Gesamtraum) klar in (mindestens) „zwei disjunkte Teilräume“ [Lotman 1993: S. 327] teilt. Diese Räume unterscheiden sich nach Lotman auf verschiedenen Ebenen: Sie sind zunächst topologisch (z.B. „‹hoch vs. tief›“) gegensätzlich, und werden dann semantisiert (z.B. „‹gut vs. böse›“). Diese „semantisch aufgeladene topologische Ordnung [wird] durch topographische Gegensätze der dargestellten Welt konkretisiert“ (z.B. „‹Stadt vs. Wald›“)[Martinez / Scheffel 2009: S. 140f.]. Mit Blick auf den FD muss diese Definition jedoch modifiziert ('vereinfacht') werden, damit der Text mit Lotmans Theorie erfasst werden kann. Diese ('FD-gerechte') Definition wird an geeigneter Stelle im vorliegenden Artikel aufgestellt.
Vor dem Hintergrund einer solchen Raumkonstruktion vollzieht sich die Handlung. Sie „basiert auf der (semantischen) Raumorganisation und äußert sich im Ereignis”[Krah o.J.: S. 3]. Ein Ereignis (=Sujet) liegt nach Lotman dann vor, wenn eine Figur aufgrund besonderer Fähigkeiten die grundsätzlich unüberwindbare Grenze zwischen zwei Räumen überschreitet. Diese Figur - von Lotman Held[1] genannt - ist „Handlungsträger“[Lotman 1993: S. 340] bzw. „bewegliche Figur“[Lotman 1993: S. 338].
Lotman fasst seine Theorie wie folgt zusammen:
- „Aus dem Gesagten folgt, daß unentbehrliche Elemente jedes Sujets sind: 1. Ein bestimmtes semantisches Feld, das in zwei sich ergänzende Teilmengen gegliedert ist; 2. Eine Grenze zwischen diesen Teilen, die unter normalen Umständen unüberschreitbar ist, sich jedoch im vorliegenden Fall […] für den Helden als Handlungsträger doch als überwindbar erweist; 3. Der Held als Handlungsträger.“[Lotman 1993: S. 341].
Raumsemantik im 1. Dienst des FD
Raumkonstruktion
Es erscheint schwierig, im FD eindeutig definierte Räume ausmachen zu können. Es werden nur wenige Orte genannt - etwa die Burg der niftel oder die der vruwe (FD 52,3 bzw. FD 1127,5) -; viele Handlungen - etwa Ritterkämpfe und Turniere - finden im Freien statt. Dennoch lässt sich eine gewisse Form von Raumsemantik feststellen: Die Grenze konstituiert sich dadurch, dass Ulrich zunächst einmal keine Möglichkeit hat, mit der vruwe in direkten Kontakt zu treten. Diese Grenze ist zuallerst semantischer Natur, da Ulrich - wie die vruwe ihm mehrfach zu verstehen gibt - aufgrund seiner Defizite (geringere soziale Position, missgebildeter Mund, etc.) keine akzeptable Partie für sie darstellt. Darüber hinaus gibt es Situationen, in denen Ulrich sich der Dame nur schwer - etwa verkleidet - nähern kann, oder in denen es ihm untersagt wird, den Boten der niftel erneut zur vruwe zu schicken, da eine Enttarnung drohe (FD: 331.2ff.). Hier hat man es also in der Raumsemantik mit einem Sonderfall zu tun, da - anders als z.B. im Artusroman, wo die Differenz zwischen der nichthöfischen Welt und Artushof offensichtlich wird - die Räume scheinbar lediglich durch Distanz definiert sind. Diese Definition funktioniert reziprok ex negativo: Ulrich ist dort, wo die vruwe nicht ist, und umgekehrt. Wieso es Ulrich dennoch gelingt, diese Distanz zu überwinden, muss noch geklärt werden.
Botenfiguren
Eigenschaften und Grenzüberschreitung
Um ihre Funktion als Nachrichtenübermittler erfüllen zu können, müssen Boten über bestimmte Charaktereigenschaften verfügen. Karina Kellermann und Christopher Young nennen Zuverlässigkeit, Loyalität und Vertrautheit mit Absender und Empfänger als diejenigen Eigenschaften, über die ein Bote verfügen muss [Kellermann / Young 2003: S. 328]. Sie garantieren ihm das Vertrauen sowohl des Senders, als auch des Empfängers und ermöglichen es ihnen deshalb, sich frei zwischen diesen beiden Kommunikationspolen zu bewegen. Der Bote ist damit nicht nur in Lotmans Modell, sondern auch innerhalb der Diegese eine bewegliche Figur. Hierbei ist es zudem bemerkenswert, dass Jaques Merceron Botenfiguren u.a. „Rapidité et autres qualités physiques“ [Merceron 1998: S. 75] (Schnelligkeit und andere physische 'Qualitäten') zuschreibt. Hier findet gewissermaßen eine (nicht intendierte) Übertragung der Figureneigenschaften aus dem Modell der Raumsemantik in die Welt der Diegese statt.
Notwendigkeit
Wichtigste Qualität der Boten im FD ist ihre Zugangsmöglichkeit zur vruwe[2]; sie können im Gegensatz zu Ulrich im Geheimen mit dessen Herrin sprechen. Ulrich befindet sich zum Teil in Situationen[3], in denen er sich gerne mittels eines Boten an die vrowe wenden möchte, dies aber nicht kann, da ihm kein passender Bote verfügbar ist. Dieses Fehlen eines Boten schmerzt Ulrich stets - er fühlt sich als „ein minne unsaelic man“ (FD: 50,5) in „clageliche[r]“ (FD: 329,4) bzw. „senelicher not“ (FD: 335,8) - und provoziert außerdem Ereignislosigkeit, die immer erst dann wieder aufgelöst wird, sobald Ulrich einen (neuen) Boten gefunden hat. Hier wird unübersehbar deutlich, dass Botenfiguren - allein durch die Ausübung ihrer Tätigkeit der Nachrichtenübermittlung - Ereignishaftigkeit erzeugen. Boten organisieren im FD nicht nur Kommunikation, sondern auch Handlungsablauf bzw. dessen Sujethaftigkeit. Der Botengang ermöglicht nicht nur die (von Ulrich ersehnte) Kommunikation, sondern sie setzt darüber hinaus auch die Handlung wieder ‚in Gang‘.
Ulrich: bewegliche oder unbewegliche Figur?
Aus dem bisher Dargelegten geht hervor, dass Ulrich eigentlich kein Held - kein Handlungsträger - sein kann. Wie ist es aber möglich, dass er trotzdem stellenweise die Distanz zwischen sich und der vruwe überwinden kann? Zur Beantwortung dieser Frage sollen exemplarisch zwei Textstellen untersucht werden: (a) Der stumme Ulrich, der die Möglichkeit des Gesprächs mit der vruwe nicht nutzen kann, sowie (b) die Urinepisode und das darauffolgende Treffen mit der vruwe.
Der stumme Ulrich
Nach seiner Mundoperation erhält Ulrich die langersehnte Möglichkeit, mit seiner Herrin ein Gespräch zu führen. Im entscheidenden Moment „[...] erstumbet an der stunt/ diu zunge [sin] und ouch der munt“ (FD: 122,5f.). Anders als den Boten gelingt es Ulrich hier nicht, über die zwischen ihm und der vruwe bestehenden (semantischen) Grenze hinweg ein Gespräch zu führen. Die Grenzüberschreitung misslingt und die Möglichkeit der Kommunikation ist vertan.
Urinepisode
Im Anschluss an die die Urinepisode kommt es zu einem erneuten Treffen zwischen Ulrich und der vruwe. Der entkleidete Ulrich wird von der niftel erneut angekleidet. Wie an anderer Stelle erklärt worden ist, trägt Ulrich nun lediglich ein „suckenie“, ein geschlechterneutrales Kleidungsstück. Ulrich hat hier bereits die Identität des Ritters abgelegt - ist „Null-Identität“ - und kann nur so vruwe gegenübertreten. Ulrich kann sich in beiden Fällen - stumm und in Form einer Null-Identität - der vruwe nähern, legt dabei jedoch (große) Teile seiner Identität ab und vergrößert dadurch z.B. im Fall des an auf die Urinepisode folgenden Treffens die Differenz zwischen sich und seiner Herrin, da hier die soziale Differenz bis in das Unentscheidbare gesteigert wird. Ulrich ist nicht nur durch den Urin gewissermaßen entehrt, er musste zudem sein Geschlecht ab- bzw. geschlechterneutrale Kleidung anlegen, womit seine soziale Stellung unklar wird und die vruwe keine Möglichkeit mehr hat, sich in ein Verhältnis zum „desindividualisierten“ Ulrich zu setzen.
Zusammenfassung
Abschließend lässt sich sagen, dass Boten in der Lage sind, die im FD vorhandenen Grenzen zu überwinden, während dies Ulrich - bzw. zumindest der Ulrich-Figur, die eine konkrete Identität aufweist - versagt bleibt. Ulrich und dessen Herrin funktionieren im Koordinatensystem des Textes als zwei Pole, in deren Zwischenraum Differenz besteht. Diese Differenz separiert nicht nur Ulrich von der vrowe, sondern sie ist auch der Ursprung für die räumliche Aufteilung des Frauendienstes und ist zugleich ein Übergangsbereich, der den Botenfiguren vorbehalten bleibt.
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Anmerkungen
Literaturverzeichnis
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Primärliteratur
- [*FD] Ulrich <von Liechtenstein>: Frauendienst. Hrsg. v. Franz Viktor Spechtler. Göppingen: Kümmerle, 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik 485) (zit. als FD: Strophe,Vers).
Sekundärliteratur
- [*Krah o.J.] Krah, Hans: Raumkonstruktionen und Raumsemantiken in Literatur und Medien. Entwurf einer textuell-semiotischen Modellierung. (letzter Aufruf: 13.06.2013).
- [*Kellermann 2010] Kellermann, Karina: "Ulrichs von Liechtenstein Frauendienst als mediales Labor." In: Linden, Sandra / Young, Christopher: Ulrich von Liechtenstein. Leben - Zeit - Werk - Forschung. Berlin / New York: De Gruyter, 2010, S. 207-260.
- [*Lotman 1993] Lotman, Jurij M.: Die Struktur literarischer Texte. übers. v. Rolf-Dietrich Keil, 4., unver. Aufl. München: Fink, 1993.
- [*Martinez / Scheffel 2009] Martinez, Matias / Scheffel, Michael: Einführung in die Erzähltheorie. 8. Aufl. München: Beck, 2009.
- [*Merceron 1998] Merceron, Jaques: Le message et sa fiction. La communication par messager dans la littérature française des XIIe et XIIIe siècles. Berkeley / Los Angeles / London: University of California Press, 1998 (Modern Philology Bd. 128).